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DIE LETZTE OPER

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I.

ZUNÄCHST DIE APOLOGIE. Der Schreiber dieser Zeilen war lange Jahre Miisikkiritiker und hatte, wie sich das für einen Musikkritiker gehört, für alle Probleme seines Metiers eine Patentlösung bereit. Inzwischen ist er „unters Theater“ gegangen und lernt allmählich, daß alles ganz anders ist und daß es nicht nur keine Patentlösungen gibt, sondern überhaupt keine Lösungen, und letztlich sogar — keine Probleme. Denn über der täglichen Arbeit für die Praxis eines Opernbetriebs gerät dem also Arbeitenden die Theorie der Oper unversehens aus den Augen, und er merkt plötzlich verwundert, daß anderen Menschen (unter anderem den Musikkritikern) problematisch erscheint, was doch die einfachste Sache von der Welt ist: daß Oper 'gespielt und gesungen wird, seit 1594 und bis ans Ende der Welt Wenn ein solcher „Opern-airbeiiiter“ also darangeht, der Oper ihre Zukunft zu bestreiten, dann tut er es durchaus mit dem Gefühl eines, der den Ast absägt, auf dem er sitzt. Anders herum: wer dafür bezahlt wird, daß allabendlich der Vorhang über „Rigoletto“', „Gaspa-rone“ oder „Wozzeek“ hochgeht, den sollte man nicht fragen, ob das Musiktheater die gute alte Gesangsoper ablösen wird, ob sich das moderne Opernschaffen in den elfenbeinernen Turm oder in das soziologische Niemandsland begibt, ob am Ende der heute überschaubaren Entwicklung der atavistische Schrei stehen wird oder das absolute Verstummen; denn er will ja doch weiterhin — bezahlt sein. In diesem Sinne mögen die nachfolgenden Provokationen verstanden sein.

II.

NATÜRLICH IST DIE OPER längst tot. Man geniert sich fast, es einmal auszusprechen, denn eigentlich wird sie totgesagt, seit sie lebt, und eigentlich wird sie um so lebendiger, je toter sie 'gesaigt wird. Aber im Grunde ist sie seit Richard Wagner wirklich tot, endgültig tot. Oper,, das war von Monte-verdi bis Verdi: Weltdarstellung mit den künstlerischen Mitteln eines Individuums, das war: ein gesungener Spiegel, der seinen Schöpfer und dessen Gesellschaft nicht nur nebeneinander abbildete, sondern sie im Brennpunkt einer musikalisch-theatralischen Aktion eins werden ließ. Seit dem „Ring des Nibelungen“ ist es damit vorbei. Oper, das ist für Wagner: Selbstdarstellung mit allen — den künstlerischen und außerkünstlerischen — Mitteln des Individuums wie der Gesellschaft. Wagners nicht eben dezente Psychologie und Biographie, auf übergroße, mythische Modeile projiziert — das schuf zwar da noch in seiner Anfechtbarkeit bewunde-runigswürdige Gesamtkunstwerk, aber es raubte zugleich dem Genre „Oper“ den Labensifaden, die Nabelschnur, die es mit seinem Ernährer — dem mitverstehenden, mitgenießenden, mitleidenden „Volk“ — verband. Die Erfindung Bayreuths, die Errichtung des Festspielhauses als Wallfahrtsort für die „Auserwählten“, war nur die konsequente äußere Etablierung. dieser schöpferischen Vereinzelung. Sobald einmal Oper als „Fest“ serviert wurde und wird — zunächst auf dem Grünen Hügel, dann bei den ,yMusteraufführungen“ in München, heute bei den Festspielen allerorten —, wurde und wird ein Leichnam zeremoniell zubereitet. Seither öffnen sich allabendlich Hunderte von Theatern — zu einer Leichenfeier.

III.

SEITHER SIND AUCH die Leichenfledderer am Werk. Gemeint sind damit nicht etwa jene, die mehr oder weniger glänzend davon leben, daß die Oper seit Wagner als Luxusartikel verkauft, als kulinarisches Erlebnis genossen werden will: also die Intendanten, die Kulturfunktionäre, die Dirigenten, Regisseure, Sänger, die Agenten, die Claqueure, bis hin zu den Autobusunternehmern der Landgemeinden-zubringerdienste. Gemeint sind damit die Komponisten, die es nicht unterlassen haben, das in seiner Vereinzelung große und großartige Werk Wagners „auszuwerten“, das heißt — wenn auch unter veränderten Umständen — zu wiederholen. Keiner von ihnen Meß sich abhalten, dem Leichnam Oper Scheinleben einzuflößen, ihn durch immer neue Versuche zu künstlichen Bewegungen zu stimulieren, und keinem von ihnen ist es gelungen, ihm wirklich den neuen Lebensfunken einzuhauchen: nicht Richard Strauss, dem Hauptaktionär der Wagner-Verwertungs-AG., nicht Franz Schreker, nicht Claude Debussy, der Wagners Antipode sein wollte und dennoch der Magie des Bayreuthers verfiel, nicht Arnold Schönberg und nicht einmal Alban Berg, nicht Menotti, nicht Britten, auch

nicht Henze, dem Listenreichen. Daß „Rosenkavalier“ und „Wozzeek“ Welterfolge geworden sind, daß auch „Pelleas“ (oder „König Hirsch“) ein Geschäft sein kann und Kunst ist, beweist nichts dagegen. Die Oper selbst ist tot geblieben. Produzent und Konsument stehen nicht mehr in natürlicher Wechselwirkung, der eine kennt den anderen nicht mehr, Oper ist nicht mehr das gemeinsame Zentrum für beide, Oper wird .gemacht“, wird 'hergestellt, sie existiert nicht mehr aus sich selbst. Die KompKzferuing der Ton spräche seit Wagner — von der Aufhebung der Tonalität über Dodekaphonie und Reihentechnik bis hin zu den seriellen, aleatorischen^ elektronischen und sonstigen Kon^Äonsverfahren — ist nur gleichzeitige Begleiterscheinung; sie wird zwar als Beweggrund für die Entfremdung des Opernschaffens von seinem Ursprung angegeben, ist in Wahrheit aber nur das — zugegeben: oberflächlich einleuchtende — Alibi für einen tiefersitzenden, feunstphilosoph&schen Tatbestand: Das dialektische Verhältnis von Subjekt und Objekt ist nicht mehr intakt.

IV.

NICHT NUR DIE MÖRDER, auch die Ermordeten sind schuldig. Selbstverständlich gab es in den hundert Jahren seit Wagner immer wieder Komponisten, die diesem Fluch der Vereinzelung zu entgehen suchten, die das Geschöpf Oper mit den überinditviduellen Lebenskräften zu,verbinden trachteten

— durch das Engagement an die Gesellschaft, an den Zeitgeist, an die Erfordernisse und Errungenschaften der Gegenwart. Sie alle wurden Opfer ihrer guten Absicht; denn der Zeitgeist verflüchtigte sich, die Erfordernisse wurden erfüllt und die Errungenschaften überholt in der gleichen Geschwindigkeit, in der die Gegenwart Vergangenheit wurde. Oper, die sich dem Tag anheimgab, starb mit dem Tag. Scheiterte die „Belebung“ der Oper bei den Wagner-Diadochen am Prinzip, so scheiterte sie bei den Wagner-Deserteuren an den Umständen. Wer kennt noch Kreneks „Jonny spielt auf“, Brands „Maschiniist Hopkins'“, Awtheils „Transatlantic“? Selbst die widerstandsfähigeren Exemplare der Gattung sind heute unwiderruflich tot und haben den Tod der Oper im allgemeinen besiegelt: wer heute Weills „Dreigroschenoper“ oder Hindemiths „Mathis“ sieht, wohnt nur dem Ritual einer Exhuniierung bei, und daß er dazu klatschen kann, bestätigt bloß seine Entfernung vom Gegenstand.

V.

AUCH KUNSTGRIFFE NÜTZEN NICHTS. Ob die Herren Librettisten antike Helden tiefenpsycbologisch aufladen oder sentimentale Dreiecksgeschichten in eine Gemimi-Kapsel verlegen, ob sie den Jugendstil als New Look ausgeben oder versichern, das Mantel-iund-Degen-Stück hätte nur auf den Jazz gewartet, ob sie sozialistischen Realismus offerieren oder kapitalistischen Manierismus vorziehen — die Oper tut nicht mit. Und ob die Herren Komponisten mit barocken Form-mustem aufwarten oder romantische Leitmotivtechnik bevorzugen, ob sie Geräuschrnontagen durch die Lautsprecher rotieren lassen oder saubere Zwölftonmustersendungen liefern — die Oper tut wiederum nicht mit. Das eine ist so unvermeidlich wie das andere. Die Ingredienzien werden gemischt, die Tränklein werden gebraut, die Opern werden geschrieben (und gespielt), aber „die Oper“ ersteht nicht wieder. VJ

EINE AUSNAHME GIBT ES, eine einzige. Wo alle anderen

— vergeblich — versuchten, der Oper, sei's mit Hilfe der „zeitlosen Gültigkeit“, sei's miil Hilfe der Aktualität, ein Lebensflärnmchert einzuhauchen, da hat ein genialer Komponist (zugegeben: zusammen mit einem genialen Liberettisten) ein bewußt totes Werk „gemacht“ — und siehe, es lebt! Aus Handluingsmustern und Formmodellen 'montiert, in der Retorte hergestellt, ein Produkt vollkommener Künstlichkeit

— es lebt! Das Opernwunder heißt: „The Rake's Progress“, der Komponist: Igor Strawfcisky, der Liberettist: Wystan H. Auden.

DOCH DIE GATTUNG OPER bleibt tot. Die Musiker machen zwar alle Anstrengungen, sie erfinden immer neue Mittel und Verfahren, sie injizieren serielle Wirkstoffe und versuchen es mit Geräuschtransfusionen, allein die Wiederbelebung findet nicht statt. Vielleicht liegt es an der Musik mehr als an der Oper selbst, daß sich ihr Zustand nicht bessert. Beim gegenwärtigen Stand des Musiikdenkens wechseln die Stile so rasch, entwickeln sich die Techniken so sprung-

hallt weiter (und damit auch auseinander),, daß ein kontinuierlicher Lebensstrom des Musikalischen erst gar nicht entstehen kann. Das Phänomen, das hier beklagt wird, steht jenseits des persönlichen Vermögens oder handwerklichen Könnens des einzelnen Komponisten: es ist das Schicksal der neuesten Musik. Jedes Werk kann nur für sich einstehen, es trägt kein zweites, schon gar nicht eine Gattung. Was der Komponist als neue Lösung versucht, ist zugleich auch schon das erreichbare Ergebnis. Die gleiche Lösung nochmals zu versuchen, verwehrt ihm das, Wesen der Musik selbst: es würde bloße, sinnlose Wiederholung isein. Noch Haydn konnte Dutzende seiner Symphonien nach dem gleichen, intakten Schema schreiben, und jede 'geriet zum individuellen Kunstwerk. Wollte Boulez die Textur seines „pli selon pli“ noch ein zweitesmal entwerfen, müßte sie zur leeren Gebärde erstarren, in Unsinn sich verkehren. Unter diesem Vorzeichen kann man von der Oper echte, dauernde Lebendigkeit wohl gar nicht mehr verlangen.

VIII.

VOR PROGNOSEN SEI ALSO GEWARNT. (Allein schon im Interesse derer, die der holdseligen Täuschung, es stehe mit der Oper alles zum besten, auch weiterhin erliegen wollen). Ein einziges, letztes lebendiges Opemwerk mag dai Äußerste sein, was wir von dieser Kunstgattung noch zu gewärtigen haben. Es sollte — wenn dieser träumerische Entwurf gestattet ist — ein heiteres Werk sein, eine Oper, die nicht mehr Oper ist, sondern Summe der möglichen Opern, vom tiefen Bewußtsein aller vorangegangenen und von der Ahnung aller denkbaren erfüllt, ein Stück Musik-und-Thea-ter, das um die Geheimnisse der Kunst weiß und sich dennoch nicht ernst nimmt, das mit seiner eigenen Gestalt spielt und seinen eigenen Inhalt parodiert, eine Oper, deren Musik avanciert ist und doch verständlich, deren Fabel weise ist und doch neu, die das Absurde ihres Wesens zum Thema hat und es — vielleicht in einer neu erfundenen Sprache — auch darzustellen vermag. Das wäre die letzte Oper. Gewiß werden ihr hunderte folgen^ solche, die sie ignorieren, und solche, die sie imitieren. Doch leiben wird nur noch die eine, die letzte Oper. Ob das ausreicht, um der Gattung Oper die Zukunft zu sichern, ist zu bezweifeln. Aber kommt es darauf überhaupt an? Denn der Leichnam Oper wird ja doch weiterhin konserviert und Abend für Abend — serviert werden, big am* Ende der Welt.

P. S.: Ich kenne sje schon, die letzte Oper. Aber Ich verrate Autor und Titel nicht. Denn ich will sie selbst aufführen.

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