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Perspektiven der Festwochen

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ALLJÄHRLICH IM FRÜHLING erseheint der gtoße Sammelprospekt der „Europäischen Vereinigung der Musikfestspiele“, die ihren Sitz in Genf hat, und zu deren Mitgliedern 22 Festspielstädte aus 12 Ländern gehören. In dem Geleitwort des Heftes für die Saison 1960 hat Denis de Rougemont die folgende Definition gegeben:

„Bin Festival ist zunächst ein Fest, etwas Außergewöhnliches, das sich aus der Programm-Routine des Winters heraushebt und eine ganz besondere Atmosphäre zu bilden . hat, zu der nicht nur die Qualität der einzelnen Werke und die ihrer Wiedergabe beitragen, sondern auch die Landschaft, die Umwelt einer Stadt und die musikalische Tradition einer Region. Unsere Vereinigung nimmt ah Mitglieder jene europäischen Festspiele auf, welche die folgenden Bedingungen erfüllen: besonderer Charakter, ausgeprägte Tradition, lokale oder regionale Grundlagen sowie ein wohlfundiertes internationales Niveau,“

Studiert man Seite für Seite die Ankündigungen von Aix, Athen, Bayreuth, Berlin, Besancon, Bordeaux, Dubrovnik, Epidauros. Florenz, Granada, Helsinki, Holland-Festival, Luzern, München, Perugia, Prag, Santander, Stockholm, Straßburg, Venedig, Wien, Wiesbaden und Zürich (Edinburg und Salzburg fehlen in dieser Liste), so kommt man darauf, daß eigentlich nur zwei Städte den Rahmen der obenzitierten Definition sprengen. Das sind Wien und Berlin, die ihr ausgedehntes Festival auch als Festwochen“ bezeichnen. Während die meisten anderen Festspielstädte jeweils einmal im Jahr für wenige Tage oder Wochen künstlerisch erwachen, läuft hier, 10 Monate im Jahr — und jetzt schon fast pausenlos —, ein Konzert- und Theaterbetrieb, der während der „Festwochen“ nur sehr schwer den Charakter des Außergewöhnlichen und Singulären, sondern höchstens den einer gewissen Steigerung und Konzentration der künstlerischen Leistungen aufweisen kann. Auf diese aber kommt es vor allem an. Werke von Stockhausen oder Boulez kann man fast auf jedem Musikfest hören. Aber in Wien an den Wiener Komponisten Franz Schreker zu erinnern, womöglich durch Aufführung des „Fernen Klangs“, Kreneks „Jonny“ auszugraben oder einen Wellesz-Opernabend zu veranstalten: das wäre eine I d e e i

FÜR STÄDTE WIE BERLIN ODER WIEN kann daher der Leitgedanke, das Motto, die allgemeine Idee nicht viel bedeuten. Von gewissen Ausnahmen abgesehen, ist es meist so, daß „Konzepte“ auf dem Papier recht schön aussehen, in der Praxis sich aber leicht als unfruchtbar und langweilig erweisen. Natürlich kann man in einem Jahr Haydn und in einem anderen Mahler in den wohlverdienten Mittelpunkt rücken, oder man kann versuchen, ein vielstimmiges Gespräch der Geister unter dem Titel „Theater der Nationen“ zu veranstalten, oder man kann die „Freiheit im Drama“ als Motto wählen. — Aber niemals wird eine solche, wenn auch noch so glückliche Trouvaille den Erfolg von Festspielen oder Festwochen garantieren. Die Endsumme ergibt sich aus dem Wert und der Qualität der einzelnen Veranstaltungen, der Signifikanz und dem Gewicht des einzelnen künstlerischen Ereignisses. Wobei wir hier gleich sägen mpchteA, daß damit weniger die heute schon fast selbstverständlich gewordene Perfektion der Darbietung, sondern vor allem und in erster Linie das Schöpferische in seinen verschiedenartigsten Aspekten und Formen gemeint ist. Hierzu muß einem freilich etwas einfallen, und auch mit einer auch noch so gutgemeinten „modernen“ Einstellung allein ist da nicht viel gewonnen.

Es ist ganz natürlich, daß bei Festwochen, die in Wien stattfinden, die musikalischen Darbietungen im Vordergrund stehen. Auf diesem Gebiet wurde von der bisher ziemlich autonom planenden Konzerthausgesellschaft in den 11 Internationalen Musikfesten Bedeutendes geleistet. In der hunderte von Namen und Werken umfassenden Liste fehlt kaum etwas von Rang und Bedeutung. Daneben hat die Gesellschaft der Musikfreunde uns die Bekanntschaft zahlreicher international anerkannter Orchester und Chöre vermittelt, was für die Bildung echter Wertmaßstäbe wichtig ist. Solche Begegnungen bewahren uns vor einem gewissen Provinzialismus und Narzißmus, zu dem man in Wien bekanntermaßen sehr geneigt ist. Aus diesem — und noch aus anderen Gründen — würden wir die Frage, ob die Wiener Festwochen noch wienerischer oder ob sie mehr europäisch werden sollen, dahin beantworten, daß sie eher einen Schuß Kosmopolitismus vertragen könnten, unter Beachtung sowohl der Nord-Süd- wie auch der Ost-West-Komponente mit, versteht sich, dem natürlichen Zentrum Wien. Durch Theater, Musik, Vorträge, Ausstellungen und Einladungen zu wissenschaftlichen Kongressen könnte nicht nur an die jahrhundertealten spanischen, italienischen, französischen und slawischen, sondern auch an die nahöstlichen Kulrurbeziehungen Wiens (etwa die griechischen und türkischen) erinnert und angeknüpft werden. Für jede dieser Unternehmungen bietet sich die Stadt als lebendige

Kulisse (Reinhold Schneider, im Gespräch und in seinem letzten Buch „Winter in Wien“, wußte mehr von diesen Dingen als die meisten Urwiener). Aber auf diesem Gebiet wäre eine Zusammenarbeit aller ebenso wünschenswert wie unvermeidlich: der Bundesregierung, der Unterrichtsverwaltung, des Auswärtigen Amtes und der Stadt Wien.

DOCH ZURÜCK VON DIESER ZUKUNFTSMUSIK zum rein künstlerischen Programm der Wiener Festwochen. Sein Hauptcharakteristikum ist eine ungewöhnliche Fülle von Veranstaltungen. Der offizielle Festwochenprospekt zählt etwa 500 auf, zu denen noch rund 300/in den einzelnen Wiener Gemeindebezirken kommen. Vergleicht man die originalen musikalischen Festwochenbeiträge mit denen auf dem Gebiet des Theaters, so wird man leicht feststellen können, daß die ersteren bei weitem überwiegen. Im Zeichen der großen Musikerjubiläen dieses Jahres 1960 veranstaltet jede der beiden großen Gesellschaften (Musikfreunde und Konzerthaus) fast alltäglich ein wichtiges Konzert. Hier fehlt es weder an berühmten Namen von Solisten und Ensembles, noch an Werken neuerer Musik. — Die Staatsoper bringt, neben den Repertoirewerken in bester Besetzung, zu den Festwochen zwei Neuinszenierungen („Götterdämmerung“ und „Andre Chenier“), die Volksoper veranstaltet gemeinsam mit der Intendanz der Festwochen vor der Jesuitenkirche eine Aufführung von Honeggers szenischem „Jeanne-d'Arc“-Oratorium und bringt eine neuinszenierte „Nacht in Venedig“. Von neueren Werken stehen auf dem Programm der Staatsoper „Wozzeck“ und „Mord in der Kathedrale“. — Keinen Festwochenbeitrag stellt“ leider das Staatsopernballett, das nur mit einem Abend („Romeo und Julia“ von Prokofieff) aufscheint.

WIR BENÜTZEN DIESE GELEGENHEIT, um — nicht zum erstenmal an dieser Stelle! — an das Mauerblümchen Ballett zu erinnern und es dem Intendanten der Wiener Festwochen besonders ans Herz zu legen. Da der „jour fix“, die allwöchentliche Ballettveranstaltung, in der Staatsoper anscheinend nicht zu realisieren ist, und da der in Aussicht genommene Ballettmonat (November) heuer wenig ergiebig war, wäre auf diesem Gebiet etwas zu tun. Entweder es gelingt, das Staatsopernballett im Rahmen des Festwochenprogramms zu aktivieren, oder man wird erwägen müssen, im Theater an der Wien durch die Intendanz der Festwochen eigene Ballettabende zu veranstalten. Natürlich wären hier auch Gastspiele ins Auge zu fassen, wie denn überhaupt durch das Theater an der Wien, sobald.es renoviert sein wird, sich neue Perspektiven eröffnen.

So zum Beispiel in bezug auf das Auftragswerk der Wiener Festwochen. — Bekanntlich kommt bei Wettbewerben und Preisausschreiben nicht viel heraus. Es wird daher empfohlen, den Gedanken an einen Auftrag zu erwägen, der einem bestimmten Komponisten erteilt wird zur Schaffung eines musikalischen Bühnenwerkes, wobei, aus verschiedenen Gründen, das Ballett vor der Oper den Vorrang haben könnte. Natürlich wird man in erster Linie unter den österreichischen Komponisten Umschau halten, es ist aber auch durchaus denkbar, daß man sich an einen ausländischen Komponisten von Rang oder aus der jüngeren Generation .-wendet, um eine Ballettpartitur zu erhalten. Man kann dann immer noch einen einheimischen Choreographen oder Bühnenbildner hinzuziehen, so daß das ganze Werk durchaus den Stempel „Made in Austria“ zu tragen berechtigt ist. Die geglückten Versuche mit den großen österreichischen bildenden Künstlern Kokoschka (Raimund) und Wotruba (Oedipus) werden vielleicht zu weiteren Aufträgen auf diesem Gebiet ermutigen. Das Optische unserer Bühnen ist noch nicht immer auf der Höhe des Akustischen. Hier fiele einer kunstverständigen Intendanz eine schöne Aufgabe zu.

MIT DEM MUSIKPROGRAMM VERGLICHEN ist das auf den Wiener Bühnen Gebotene, soweit es sich um spezielle Festwochen-beittäge handelt, relativ bescheiden. Shakespeares „Sommernachtstraum“ im Burgtheater und Schnitzlers „Anatol“ im Akademietheater, „Dantons Tod“ im Volkstheater, ein Stück von Horvath in den Kammerspielen, und ein .tv 'niiv.r.t. Stück (von Beatrice Ferolli) im Kleinen Theater des Konzerthauses sind zwar erfreulich, aber noch nicht repräsentativ genug. Hier kommt es eben auf den Einfall an. Wer etwa Gründgens oder Wieland Wagrier für eine Neuinszenierung gewinnt oder die Uraufführung einer neuen Henze-Oper herauszubringen imstande ist, dar kann des Interesses der gesamten europäischen Kunstkritik icher sein. Wobei es gleichgültig ist, auf welchem Gebiet Veranstaltungen dieses Ranges geboten werden, ob auf dem des Theaters oder des Musiktheaters.

Mit einem solchen weit über Wien und Österreich hinausreichenden Interesse darf zum Beispiel die von der Intendanz der Wiener Festwochen veranstaltete Ausstellung „Gustav Mahler und seine Zeit“ rechnen. Hocherfreu-lich auch die Linie, welche die großen Kunstausstellungen erkennen lassen (Kokoschka — Van Gogh — Münch — Gauguin). Aber auch die Schätze des Kunsthistorischen Museums und der Albertina sind internationale Attraktionen ersten Ranges. Daß es deren, auf allen Gebieten, von Jahr zu Jahr immer mehr geben möge, wünschen wir aufrichtig uns und den Wiener Festwochen.

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