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Der Vzftat

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Erkannte die heftige, flüchtig aufs Papier geworfene Handschrift Paveses; in einem der Briefe, datiert vom 8. Jänner 1950, hatte er geschrieben: „ ... ich denke oft an die im Grunde glücklichen Tage in Brancaleone zurück.“ Vorher schon, am 15. November 1949, war von 'bösen Nachrichten die Rede, und: „Ich arbeite wie ein Hund, aber es hat alles keinen Sinn — und ich habe immer Kopfschmerzen ...“, und dann: „Ti saluto caramente e sono il tuo amico Cesare Pavese.“ Es war ein merkwürdiger Brief, Trauer verströmend und ans Unglück erinnernd, das kaum ein Jahr später eintreten sollte.

Aber Oreste, ein Kalabrese von echtem Geblüt, duldete die fremde Trauer und das fremde Unglück nicht, er zog sich von Pavese zurück und erzählte von sich und dem Haus, in dem er jetzt wohnte; denn im Krieg waren hier einige Bomben gefallen, sinnlos zerstörend, was nie kriegswichtig gewesen war, darunter Orestes Haus, und Opfer fordernd, die nicht begriffen, wofür sie duldeten, da man nie erfahren hat können, wer das Bombardement angeordnet hatte. Ich wiederum erkundigte mich nach der onorata societä, der „geehrten Gesellschaft“, der Mafia Kalabriens, aber Oreste meinte, es gebe sie kaum noch, er sagte: „Manchmal geschieht ein Mord, aber das kommt auch anderswo vor, und was die Zeitungen schreiben ... Gewiß, dem Namen nach existiert sie noch, die onorata societä, doch wir Kalabresen sind romantische Leute, wir brauchen für unseren Jähzorn und für alle die unbedachten Handlungen, mit denen wir unsere Ehre verteidigen — und sonst besitzen wir ja nichts —, einen klingenden Namen, und die Armut trägt viel dazu bei...“ Er blickte mich an und lachte. „Doch die großen Brigan-ten sind sozusagen ausgestorben; oder sie leben in Neapel und Rom oder auch in Amerika, machen dort auf ihre Weise Karriere, und mitunter kehrt einer von ihnen zurück und ist froh, wenn er einen kleinen Laden eröffnen und vom drüben erworbenen Geld ungestört leben kann.“ Der Krieg habe alles verändert, fügte er hinzu, nur nicht die Armut. „Man muß verstehen, daß ein hungriger Mann vom satten Mann ein Stück Brot zu stehlen versucht“, sagte er wörtlich, „das ist nur natürlich und fast schon gerecht, und wir finden nichts daran. Schlimm wird's nur dann, wenn man halbwüchsige Mädchen auf die Straße schickt; aber auch das kommt in Kalabrien immer seltener vor, wir haben keine großen Städte wie etwa in Sizilien Palermo, und wenn sich einmal die Arbeitslosigkeit verringert haben wird und es bei uns keine Analphabeten mehr gibt...“ Er begann von der Zukunft zu träumen, die hier wohl allzeit Zukunft bleiben wird, Wunschtraum der Armen, das ganze Jahr Arbeit zu haben, Geld zu verdienen, sich sattessen zu können, die eigene Trägheit, genährt vom Klima und umklammert von einer sich selbst überlebenden Tradition, endlich abschütteln zu dürfen, hineinzuwachsen in die neue Welt, ins Europa von morgen, und überall in Kalabrien habe ich, wie hier diesen Oreste, Männer gefunden, die dieses Europa ersehnten und bejahten und dabei doch resignierend erkannten, daß sie die Letzten sein würden, denen diese „bessere Zukunft“ gehörte.

„Die Arbeitslosigkeit ist die wahre Geißel Kalabriens“, sagte Oreste, „denn aus ihr wächs| alles, was wir nicht bewältigen können. Nehmen Sie doch das, was Sie die onorata societä genannt haben, und die vor zehn Jahren vielleicht noch eine geehrte Gesellschaft gewesen ist und nicht, wie heute, dummes Gesindel. Das sind junge Burschen, die keine Beschäftigung haben, sich zu Gruppen zusammenschließen, hier einen schäbigen Überfall versuchen und dort einen Polizisten verprügeln — und allesamt taugen sie nichts und sind im Grunde genau so arm und hilflos wie zuvor.“ Und nachdenklich setzte er fort: „Wir in Kalabrien waren nie Italien, wir waren eine Provinz, die einmal zu Spanien und einmal zu Frankreich gehörte, wir waren immer das Eigentum eines Fürsten, Präfekten oder Königs, der sich kaum um Kalabrien kümmerte und in Neapel oder Palermo residierte, und Begriffe, wie Vaterland oder Nation, sind uns heute noch fremd. Vielleicht kommt daher das Übel, daß wir in jeder Weise so abseits liegen oder immer nur nach Süden und nie nach Norden geblickt haben...“ Er zögerte, und ich sagte an seiner Stelle: „Das war es und noch mehr. Der entsetzliche Kinderreichtum, die verkarsteten Gebiete an der Ostküste, heute ein unfruchtbares Mondland, die veralteten Methoden, mit denen der Boden bearbeitet wird, das Fehlen von Schulen und Krankenhäusern, so gut wie keine Industrie, das tief verwurzelte Mißtrauen der Kalabresen allen Neuerungen gegenüber, ihr widerspruchsvoller Charakter, der sie einen Fernsehapparat in ein Haus stellen läßt, in dem die primitivsten sanitären Anlagen fehlen, das nicht unberechtigte Gefühl, vom reicheren Norden vergessen worden zu sein“ —, und wir redeten und überboten uns an Argumenten und kamen dem Rätsel Ks äbrien doch nicht nahe genug, um es befriedigend lösen zu können.

Spät in der Nacht dann geleitete mich Oreste bis vor das Hotel „Italia“, einem einstöckigen schmucklosen Haus mit kleinen Kammern und winzigen Waschbecken' darin, in denen sich zu waschen eine Unmöglichkeit war; außerdem floß das Wasser fast nie. Zum Abschied schenkte mir Oreste ein Fläschchen hochkonzentrierter Parfümessenz, von ihm selbst destilliert und den Bergamottenblüten entnommen, die von Reggio bis Brancaleone in diesem Teil der ionischen Küste wild wachsend wie an keinem anderen Ort der Welt gedeihen. „Pavese liebte die Bergamottenblüten“, sagte Oreste, „ich habe ihm einmal einen Strauch geschickt, gut verpackt — aber er wird wohl nie angekommen sein. Es ist zu weit von Kalabrien nach Turin, und nicht nur für die Bergamotte ...“

Oben im Zimmer dann, angesichts der verschimmelten Wände und des wackeligen Bettes, stieß ich die' Läden auf und ließ den jetzt blei- . chen Mond herein und beugte mich weit aus dem Fenster und starrte in die verschwimmende Nacht, komponiert aus zahllosen Farben, violett, braun und bläulich über dem schon wieder geräuschvollen Meer, der Himmel hingegen fast farblos, bis auf die wenigen Stellen, wo sich weiß die Wolken bewegten, die Felsen im Hin-, tergrund bleich wie Knochen, bleich wie der

Strahlendes Blau lag über dem großen „U“ der Arena. Stille lag darin. Eine leise Brise bewegte die Fahnen und ließ sie ihre Farben zeigen. Alle Farben des Spektrums waren darin, und noch einige mehr. Ihr Spiel war die einzige Bewegung über der Kampfbahn, denn die viel-tausend Menschen auf den Rängen saßen reglos und sahen nach dem Startband.

Dort kauerten sie knapp über der roten Erde und den weißen Strichen, die kein Ende nahmen, kauerten geduckt, die Augen geschlossen, als wollten sie in letzter Sekunde noch einmal alle Kräfte zusammennehmen, die sie in den Sympathien der Menschen auf den Rängen spürten.

Plötzlich stand ein weißes Wölkchen über dem Startband. Ehe der Schall des Startschusses die Galerie erreicht hatte, zogen die Läufer schon die rote Bahn entlang. Es war kein eiliger Aufbruch gewesen, kein Sprung aus dem Startloch war getan worden. Wohl bewegten sich die Läufer sehr rasch, aber es lag ein schöner Gleichklang im Regen der Arme und Beine.

Dann war die erste Runde gelaufen. Es würden noch viele werden. Die Menschen auf den Rängen begannen wieder, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Dazu bedurfte es keiner besonderen Vorbereitungen. Man konnte sich jederzeit wieder dem Geschehen in der Arena zuwenden.

Das Feld lag dicht geschlossen.

Jemand sah auf die Uhr und meinte, nun werde der Kampf beginnen. Die Hälfte der Strecke sei ungefähr gelaufen worden. Ein vieltausendstimmiges Gemurmel kam aus dem großen „U“. Noch war es ohne Gliederung, noch schien es aus reinem Selbstzweck entstanden zu sein und deshalb auch nicht beachtenswert.

Da brach es vom rechten Ende des „U“s plötzlich los.

Sukinnen, Sukinnen, Sukinnen.

Sukinnen, das war der Favorit, der Mann, von dem alle Menschen annahmen, daß er die Arena als Sieger verlassen würde. Im Augenblick hielt er die Spitze. Knapp rechts hinter ihm, dem großen hageren Finnen, trabte, einem Schatten gleich, ein Japaner.

Sukinnen, Sukinnen, Sukinnen.

Sukinnen wandte sich um und sah den Japaner. Die Menschen in den unteren Rängen glaubten zu merken, daß Sukinnen die Beine weiter warf. Aber er behielt den Rhythmus der Bewegung bei. Der Japaner folgte ihm wie ein Schatten. Tatsächlich aber konnten die Züschauer bemerken, wie sich die beiden vom übrigen Feld absetzten.

Sukinnen fühlte sich als Maschine, die imstande war, sich selbst zu regeln. Er begann sich vorzustellen, daß er nur auf einen Knopf irgendwo zu drücken brauchte und sich im Augenblick seine Geschwindigkeit, so wie er es wünschte, veränderte. Sukinnen konnte nur noch maschinell denken. Während der ersten Runden hatte er immer zu den wehenden Fahnen aufgesehen, bis er ihre Reihenfolge auswendig wußte. Er würde davon träumen. Lind er begann immer, bei seiner Fahne den Reigen aufzuzählen. Finnland, England. Frankreich und so weiter. Am Anfang stand immer Finnland.

Mond, trostlos und grau die hohen Dünen im Süden, zartrosa aber die noch erleuchteten Fenster im Dorf, hinter denen sich unruhige Schatten bewegten. Einsamer Pavese, den nicht einmal die Bergamotten aus Kalabrien erreichten, und ich dachte an seine Verzweiflung, gewandelt in trügerischem Mut, dokumentiert 1936 in Brancaleone, wo er schrieb: „Denn was immer ich in diesen Monaten fiebriger Muße schreibe, es wird nur eine Merkwürdigkeit für die Zukunft sein, also Schweigen. Es fallen in diesen Monaten viele Werte der Vergangenheit, und es werden innere Gewohnheiten zerstört, an deren-Stelle... für jetzt nichts tritt. Ich muß lernen, diesen bedeutungslosen Verfall, diese Mühe machenden, nutzlosen Dinge als ein erwünschtes Geschenk zu nehmen... als einen Vorhang vor der Aufführung, die dann anfangen soll.“

Nun zerbrachen auch die letzten rosaroten Flecken im Dorf, Wind flog wispernd vorbei, irgendwo knarrte ein Tor, schlug eine Tür, die leisen Geräusche der Nacht waren erwacht, getragen vom dumpfen Laut des in sich bewegten Meeres, und ich dachte traurig an Pavese und trauriger noch an Kalabrien, an dessen einsamer Küste ein einsamer Mann aus Turin auf eine „Aufführung“ hoffte, die trotz des späteren Ruhmes nie anfangen sollte. — Am 18. August 1950 notierte er: „Nicht Worte. Eine Geste. Ich werde nicht mehr schreiben.“ Im gleichen Jahr noch endete er durch Selbstmord.

Das war ein guter Gedanke. Aber jetzt, in der zweiten Hälfte des Rennens, konnte er nur noch wie eine Maschine denken oder wie jemand, der für eine Maschine zu denken hatte.

Sukinnen. Er hörte seinen Namen wie aus weiter Ferne. Nun bog er in die Gerade. Diese Gerade fürchtete er; die, in deren Fortsetzung das große „U“ offen lag und wo nichts war, woran man sich klammern konnte. Sukinnen sah sich um. Der Japaner war immer noch hinter ihm. Sukinnen kam in den Bogen und raste dem linken Ende des „U“s entgegen. Dort oben entfaltete sich eben wieder die weiße Fahne mit dem roten Ball. Sukinnen wandte sich um und sah den Japaner.

Yukuta, Yukuta, Yukuta.

Es war, als ob die weiße Fahne mit dem roten Ball es vielstimmig in die Arena rufe.

Berend, Berend, Berend.

Das waren die Deutschen. Sie riefen wie ein Mann. Und sie riefen nach einem Plan. Dreimal — Pause — dreimal — Pause. Sie brauchten nicht lange zu rufen, und Berend zog, niemand konnte sagen, von welchen Kräften getrieben, an Sukinnen und Yukuta vorüber.

Viele Namen wurden jetzt gerufen, und viele Läufer zogen an ihm vorüber. Dann lag auch er wieder einmal an der Spitze, und er dachte wieder daran, daß er eine Maschine zu sein hatte. Er hörte seinen Namen rufen, aber er hörte auch viele andere Namen rufen.

Jemand sah auf die Uhr und meinte, es könne nicht mehr lange dauern. Ein anderer meinte, auf die Zeit komme es nun nicht mehr an. Drei Runden gebe es noch zu laufen. Das sei entscheidend. Sonst nichts.

Berend, riefen die Deutschen irgendwo hoch oben in den Rängen. Sukinnen warf die Beine, als gelte der Ruf ihm, und er gewann die Spitze. Er hörte wieder seinen Namen, aber diesmal ärgerte er sich darüber. Er spürte, wie er wieder langsamer wurde, und er ärgerte sich darüber, daß er Sukinnen hieß. Er glaubte, daß ihn das Anhören seines Namens müde mache.

Einundeinhalb Runden noch, sagte jemand.

Yukuta. Yukuta, kam es von dort, wo der rote Ball von weißem Grund über die Arena glühte.

Yukuta ging an Sukinnen vorüber. Sukinnen sah, wie der Abstand zwischen ihnen größer wurde.

Ein leichter Windstoß blähte die Fahne seines Landes, hielt sie braß -gegen die Sonne, so daß nur die Umrisse des Kreuzes sichtbar wurden.

Yukuta rief die Menge.

Das Fahnentuch faltete sich wieder zusammen. Sukinnen hob während des Laufes den rechten Arm und ballte die Hand zur Faust. Die Läufer zogen der Reihe nach an ihm vorüber. Sukinnen schüttelte die Faust gegen die Menge, gegen die Fahne, die sich wie zum Schutz um die Stange gerollt hatte. Sukinnen schüttelte die Faust. Die Menge rief Yukuta.

Dann brach Sukinnen zusammen. Einige Männer vom Roten Kreuz liefen zu ihm. Die Menge merkte es nicht, denn eben war Yukut.i als erster durch das Ziel gelaufen.

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