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Der Bürger von Calais

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Dumpf wie das Fallen des Beiles auf den Richtblock polterten die Worte in die verkrampfte Stille des Marktplatzes.

Ich, Eustache de Saint-Pierre, bin bereit ...

Ich bin bereit...

Ich bin bereit...

Fünfmal hallte es dumpf aus bleichen Lippen, flackerte verzweifelt auf oder erstarb fast unhörbar, ehe es noch ausgesprochen war. Fünfmal löste sich eine zögernde Gestalt aus den Umstehenden und trat lautlos zu den Todgeweihten.

Und da geschah es, daß eine knappe Stille eintrat, Sekunden nur, aber dem verstörten Volk schienen es Stunden. Sein Herzschlag stockte. Einer fehlte noch...

— Und ich. rief eine junge Stimme hell und metallen über die geduckten Köpfe weg. Ich, Pierre de Wissant, Bürger von Calais, bin bereit, wiederholte die Stimme feierlich und überschlug sich in der Aufregung. Dann trat ein vielleicht neunzehnjähriger Jüngling festen Schrittes unter die Fünf. Als er das Aufmurmeln der Bürger hörte, hob er sein trotziges Kinn noch ein wenig höher, und eine heiße Blutwelle schoß in sein Gesicht und machte es dunkel und stolz.

Da er nun draußen stand, ein wenig abseits von den anderen und ein wenig erhöht, auf den Stufen, die zum Brunnenbecken hinaufführten, fühlte er den Schauer einer großen Kraft über seinen Körper rieseln, einer Kraft, die in ihm wuchs und die ihn emporhob aus dem ängstlichen Haufen zu übermenschlicher Größe und Macht. Er sah über die Türme und Giebel der Stadt bis hinaus ans Meer, sah das ganze weite, verwüstete Land brach in der untergehenden Sonne liegen, sah seine verzagten Menschen — und da wußte er, wofür er sterben werde, und eine stolze Demut erfüllte ihn. Nun war er, Pierre de Wissant, der Schützer seiner Stadt, Retter ihrer Menschen, Hüter vor dem Unheil. Schauernd fühlte er sich allen denen verbunden, die singend in den Tod gezogen waren und lächelnd den Todesstreich empfangen hatten. Wie ein Rausch kam es über ihn. Er sah die entsetzten oder verschüchterten Gesichter der anderen, die mühsam errungene Beherrschung in den Zügen seiner Todesgefährten. Wie alt sie alle waren — er mußte lächeln; er fühlte Mitleid. Wenn er für sie sterben könnte, er würde es allein tun.

Er hörte sein Blut hinter den Schläfen pochen, als er aufrecht durch die Menge schritt. Er hätte sie alle segnen mögen, die an seinem Weg standen; er wußte, daß er es nun konnte. Er spürte die Kraft, die von ihm ausging. Er war ein Geweihter, ein zum Tode Geweihter. Und obwohl alles still war und die letzten Bürger scheu ihre Häuser aufgesucht hatten, fühlte er sich umbrandet von Huldigungen. Ich komme, ich komme, jubelte es laut in ihm. Und er schloß die' Augen und schritt behutsam, jeden Schritt in der Abendsonne auskostend wie einen Tropfen köstlichen Weines.

Als die elfte Stunde dröhnend über den Dächern verhallt war, trieb ihn eine unerklärliche Unruhe von seinem Lager auf. Er kreuzte einige Male schwer atmend das Gemach und starrte dann aus dem vergitterten Fenster in den schwachen Mond, der in den zusammengeballten grauen Wolkenschleiern hing. Der schwere Dunst der Sommernacht stieg von den heißen Dächern auf.

Morgen also ... wie schwül es ist — morgen also nicht mehr, versuchte er zu denken, und es wurde ihm mit einemmal encj, wenn er an die wenigen Stünden dachte, die ihn nur mehr vom nächsten

Tag trennten. Herrgott, irgend etwas mußte man doch tun: denken oder lachen oder vergessen: irgend etwas — was... was...

Schwarze Wolken schoben sich vom Meer her über den Himmel. Ein plötzlicher fauchender Windstoß warf sie vor die Mondscheibe und löschte ihr Licht. Weiter draußen über dem Horizont zuckten weißgelbe Blitze auf. Das Meer warf sich tosend an die Ufer wie ein fieberheißer Kranker, der sich in den Kissen seines Lagers wälzt.

Pierre lauschte.

Er dachte an den Tag, an die heißen Stunden auf dem Marktplatz: es war alles an ihm vorübergerau3cht; mit seinem Kleid hatte er es vor dem Zubettgehen abgestreift, und nun fühlte er sich seltsam ermattet und leer. Ihm war wie am Morgen nach einer durchtanzten Nacht, wenn man fröstelnd zwischen den weit aufgerissenen Türen steht, durch die der kalte Wind des neuen Tages hereinweht und allen Plunder und Staub aufwirbelt.

Mein Gott, er war doch nicht älter geworden in den wenigen Stunden, und doch fühlte er sich müde wie ein Greis. Er lächelte bitter, wenn er an die Ereignisse auf dem Marktplatz dachte. Wie fern das schon lag — nun blieb nur noch zu sterben. Sterben — was doch das Wort für einen seltsamen Klang bekommen hatte seit Sonnenuntergang. Ein nacktes schwarzes Loch ...

Ja, Pierre, deine stolzen Segel hängen nun schlaff, und dein armes kleines Boot wartet vergebens auf günstigen Wind. Was für ein armseliger Narr er doch gewesen war ..

Aber — Pierre, muß man denn auf den Wind warten? Kann man nicht rudern?

Zu spät, zu spät.

Er horchte in die Finsternis und versuchte das Meer zu hören. Es gelang ihm nicht. Immer wieder warfen sich die Donner dazwischen, der Sturm orgelte um die Ecken der schmalen Gassen, und alle Geräusche der Nacht verschmolzen in einem einzigen orkanhaften Toben.

Warum, Pierre, warum hast du das getan?

Das schleichende Ungeheuer, diese Frage! Zornig rüttelte er mit seinen Fäusten an den Gitterstäben. Nicht für mich, schrie er in die Nacht hinaus, für die anderen — für die anderen —

Ein Windstoß fegte für einen Augenblick die Wolkenwand zur Seite, und er konnte den Mond blaß und kalt in einem tiefen schwarzen Loch stehen sehen.

Aber — warst du nicht eitel, Pierre? Wie stolz du doch warst! Berauscht warst du! Du hast ja nicht gedacht, du Tor! Warst ja nur trunken von Sieg und Huldigung — weißt du nun, warum du wirklich gingst?

Ich ... weiß nicht, stöhnte er auf, ich weiß nicht...

Wolltest ein Held sein, Pierre, was? Hast ja gar nicht gedacht an die andern!

O Pierre, was weißt du vom Sterben! Was weißt du denn vom Leben! Nur wer für das Leben reif ist, ist reif für den Tod. _

Denkst du an die Gesichter deiner Gefährten? Alte Gesichter, nicht? Von Kummer und Angst zerfressen wie dieser Mauerstein vom Wetter — keine Heldengesichter, nicht wahr, Pierre?!

Nein, weg! Nicht sie!

Wie Sandkörner brannte der Anblick unter seinen geschlossenen Lidern. Und du, Pierre, du Narr hast sie bedauert: weißt du nun, daß nicht jeder, der sein Leben gibt, groß ist? Viele werfen es weg im Taumel des Augenblicks, von den begeisterten Wogen einer verblendeten Leidenschaft in den Entschluß geworfen — wie du. Wenige nur legen es sorgsam bedacht aus der Hand, weil sie sich selbst bezwingen — wie deine älteren, furchtsamen Gefährten.

Aber — ich hab ja das Gute wollen —

— und dabei an das Gute für dich, an das Nachher gedacht! Pierre: wirst du einmal mit gutem Gewissen die Frage beantworten können: Hast du frei von Eitelkeit gehandelt? Oder hast du es — für dich getan? —

Für mich, o ja, für mich! Aber so nimm es doch weg von mir, guäl mich nicht so, hab ich denn nicht gebüßt genug für alles — und morgen werde ich sterben — und nicht einmal mehr wissen, wofür. — Zu spät, zu spät.

So rang er mit seinen Gedanken, und sie hängten sich, Bleigewicht um Bleigewicht, an ihn und versenkten ihn in einem Meer von Furcht. Er hätte hingehen mögen, zu irgendeinem, nur um zu sagen: Sieh, ich bin traurig; nur um ein Wort, nur um die Berührung einer Hand wäre er hingegangen. Laß mich nicht, laß mich nicht allein, bettelte er immer wieder.

Draußen waren die Wolken gerissen und dichter Regen fiel erlösend auf die schwülen Dächer und rauschte bis zum Morgengrauen. Er aber fröstelte in der plötzlichen Kühle.

Er hörte das Meer sanfter an die Steine klatschen und sah den Horizont langsam und ernst aus dem Dunkel auftauchen. Da befiel ihn eine namenlose Traurigkeit und Schwäche. Und als er seine graue Kutte angezogen und die Schuhe von seinen Füßen gelöst hatte, trat er aus der Tür: nicht mehr der singende Todbezwinger, ein geschlepptes Opfertier mit früh gebrochenem Blick. Die ganze Last der langen, durchwachten Nacht bürdete sich schwer auf das dornige Gerank seiner Gedanken. Seine erloschenen Augen starrten trüb in das trübe Gesicht des grauenden Morgens.

Vom Turm klirrten vier harte, rostige Schläge. Da trat er als letzter, als Armster, als Elendster unter die Fünf. Sie schritten mit bloßen Sohlen über die nachtkalten Fliesen des Platzes. Ängstlich geduckte Gestalten drängten sich in den Winkeln zusammen, um die Ankunft des Richtknechtes abzuwarten, für den der tumme graue Zug bestimmt war.

Ber Brunnen sprudelte sein Wasser in das steinerne Becken. Pierre de Wissant tauchte seine beiden Hände tief hinein und wusch sich Schweiß und Staub vom Gesicht. Er vermied es, den anderen in die Augen zu sehen, er wußte, daß er der Unwürdigste war. Er schämte sich vor dem Greis Jean dAire, dessen Kutte kaum merklich zitterte, vor Eustache, der seine große Erregung hinter schmal zusammengepreßten Lippen verschloß, vor Jean de Vienne, dessen Blick immer wieder zum Hafen hinunterglitt. Er war der Herr großer Schiffe gewesen... Er schämte sich vor ihnen allen, die Frauen und Gärten und Kinder zurückließen. Nur er hatte als eitler, ehrgeiziger Tor gehandelt. Er, der letzte unter den Ärmsten.

Verzeiht mir, flüsterte er in das kühle Wasser, das er aus seinen hohlen Händen schlürfte, verzeiht mir, ich bin eurer unwürdig.

Ein einzelner, heiserer Schlag fiel vom Turm. Da ließ er erschrocken das Wasser durch die Finger laufen und biß die Zähne fest in seine blassen Lippen, denn er dachte an das Beil.

Mit einemmal kam Bewegung in die ausgestorbene Stadt: durch die Gassen •lief ein Wort, raunend zuerst, ungläubig, von Mund zu Mund sprang es: Ein Knabe ... dem König geboren ... der König ... begnadet... Und da brach es auch schon jubelnd aus allen Häusern und Plätzen: der König begnadet die sechs Bürger von Calais I Gnade für die Bürger von Calais I

Die Worte ertranken in einem einzigen Aufschluchzen der Erlösung. —

Pierre war allein zurückgeblieben. Er lehnte am Brunnenbecken, unfähig, sich zu bewegen. Erst die verhallenden Rufe rissen ihn aus seinem Dämmer. Dem König Heill... Dem König...

Da reckte er sich hoch empor, dehnt/e seine Arme weit hinaus und empfing in einem tiefen, seligen Atemzug das unfaßbare Glück des wiedergeschenkten Lebens.

Was Knabe, was König! Er, Pierre de Wissant, wußte es besser: seinetwegen hatte Gott den starren Sinn des Königs gebeugt, seinetwegen, der ausgezogen war, das Leben wegzuwerfen, ehe er es gekannt, und seine unermeßliche Gnade erfahren hatte; damit er reifen lerne, damit er einst seinem Tode würdiger entgegengehen konnte als diesem. Die dumpfe Trägheit fiel von seinen Sinnen, und befreit sah er wieder klar und tief.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne verfingen sich im spitzen Giebelwerk der engen Häuser. Der Brunnen sprühte silberglänzende Tropfen über seine nackten Füße, und das Dach der Kathedrale leuchtete hoch hinaus in den zarten Morgenhimmel. Er hörte die Brandung des Meeres an die Hafenmauer schäumen — und empfing alles, alles wie ein Geschenk.

Eine heiße, demütige Dankbarkeit erfüllte ihn. Er hätte beten mögen, aber die Worte zerbröckelten ihm im Mund wie taubes Gestein.

O mein Gott, mein Gott, stöhnte er nur und warf sich auf die Knie nieder, ich danke dir, du mein Gott. Dann schlug er seine harten schweren Hände über sein Gesicht und weinte.

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