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Flug nach Afrika

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Drei Ereignisse, sagt ein moderner Weiser, seien entscheidend und von höchster Bedeutung im Leben des heutigen Menschen: Wenn er sich zum ersten Male verliebt, wenn er zum ersten Male dem Tod ins Angesicht sieht und wenn er sich zum ersten Male in einem Flugzeug von der Erde erhebt. Dieses Wortes gedachte ich im Herbst 1942 oftmals, als ich in Süditalien, zusammen mit meinem Freund H. aus Bremen, versuchte, eine italienische Maschine zu ergattern, um mit ihr nach Nordafrika zu fliegen. Wir sollten dort im Auftrage des deutschen Oberkommandos in Rommels Kampfzone Lehr- und Dokumentarfilme drehen — ein ziemlich utopisches Unternehmen, wie sich später zeigte!

Eigentlich war unser Filmtrupp schon einige Zeit „unterwegs“ ins Kampfgebiet, seit wir von Berlin ausgesandt wurden. Wir waren eine Gruppe von Kameraleuten, Photographen und Fahrern, alle in schönen neuen Tropenuniformen und wohlbewaffnet, aber kein einziger echter Soldat war unter uns. Wir hatten mit unseren Automobilen die wunderschöne Küste von Neapel bis Salerno befahren, viel im Meer gebadet, Pompeji und Rom besucht und uns an dem italienischen Wein und den Früchten des späten Sommers ausgiebig erfreut, indem wir damit beschäftigt waren, Probeaufnahmen zu drehen. Unser junger Leutnant, der seinerseits aus Rußland kam,‘fand an dieser Art des Soldatentums großen Gefallen. Da aber erschien mit aller Erbitterung seiner völlig unromantischen und äußerst sachlichen Natur jener Hauptmann, der die „Filmgruppe Afrika“ befehligte — ungern erinnere ich mich seiner, er war kein angenehmer Mensch! —, mit strikter Anweisung, die „Probeaufnahmen“ abzubrechen und sich unverzüglich auf den Kriegsschauplatz zu verfügen. Da die Trans- portverhältnisse problematisch waren, mußte sich der Trupp teilen, und V. und ich wurden nach Lecce in Süditalien geschickt, um von dort den Ueberflug anzutreten.

Als wir beiden „Filmleute in Uniform“ und vorgeblichen Krieger in zivilistischer Ahnungslosigkeit auf dem italienischen Kriegs-Flughafen umherwanderten, ohne uns verständigen zu können, in nagelneuen Tropenuniformen, die hier keineswegs eine gleich betörende Wirkung wie auf dem Berliner Kurfürstendamm zeitigten, mit der Bewachung und ständigen Hin- und Herverlagerung unseres enormen Privat- und Dienstgepäcks beschäftigt, stellten wir bald fest, daß wir trotz unserer schönen Sonderausweise von höchsten Kommandostellen bei dem „Achsenbruder“ keine sonderliche Rolle spielten und uns auf längeres Warten gefaßt machen mußten.

Dieses Warten war recht ermüdend. Wir verbrachten die Stunden des heißen süditalienischen Spätsommers auf unseren Gepäcksstücken hockend irgendwo im Schatten der Hangars und sahen zu, wie die großen Silbervögel landeten und starteten, während unzählige äußerst zudringliche Fliegen auf uns herumkrochen und nicht davon ablassen wollten, in unsere Augen, Nasen und Ohren einzudringen. Zwischendurch versuchten wir, mehr durch Gesten als durch Worte, zu erfahren, wann wir mit unserem Abtransport rechnen könnten. Aber dunkel und ungewiß waren stets die Bescheide. Seufzend zogen wir uns wieder auf unsere Rucksäcke, zurück. Kamerad V., ein weitgereister Bohemien, aus dem im Leben kein Soldat zu machen war, verfluchte Süditalien, die Fliegen, Afrika, die höchste Führung, die romanischen Sprachen, mich und sich selber. Ich versuchte, in einem Buch Filchners über Tibet zu lesen, wurde aber daran von den Fliegen, dem An- und Abflug der Maschinen — immer ein faszinierendes Schauspiel für uns! — und V.s schlechter Laune gehindert. Ordonnanzen liefen hin und wider. V. versuchte seinerseits, stockend und ungenau, Bruchstücke des italienischen Heeresberichtes zu übersetzen, in dem von andauernder ergebnisloser Bombardierung des Hafens La Valetta auf Malta und vom Treibstoffmangel der Panzereinheiten die Rede war.

Es machte uns Vergnügen, die italienischen Flugzeugführer zu beobachten. Zwischen Frühstück und Mittagessen flogen diesę hochgewachsenen, langbeinigen, kurzbehosten, un- gemein nervösen und diskussionseifrigen Männer mit Menjou-Bärtchen einen Transport „hinüber“, um dann wieder in die Kantine zu ihren Zigaretten und Orangeaden zurückzukehren. Manchmal auch kam einer nicht zurück und fand, von einem britischen Malta-Jäger abgeschossen, den Tod in den Fluten des Mittelmeeres. Es war so augenscheinlich, daß es hoffnungslos war, aus diesen Piloten der zivilen Luftfahrtgesellschaften, die man in Uniform gesteckt hatte, jemals echte Krieger zu machen. Sie bewegten sich in ihren Overalls mit zivilistischer, unnachahmlicher Eleganz und Grazie und unterschieden einen Leutnant kaum vom General. Aber sie konnten ausgezeichnet fliegen und wurden gebraucht, und es gefiel uns, wie sie Nonchalance mit Tapferkeit zu verbinden wußten. Befanden doch wir selber uns, auf andere Art, in ähnlicher Lage.

Plötzlich aber hieß es, nun sei es soweit! Man habe uns eingeteilt! Endlich! Nun wurde es ernst, hieß es, und es galt Abschied zu nehmen von Europa — auf unbestimmte Zeit —, vielleicht, wer wußte es, auf immer! Man trennte uns, ich sollte zuerst hinüber und Kamerad V. in einer anderen Maschine folgen. Aufregung hatte mich ergriffen, während wir mein Gepäck in solch einem großen, metallenen Vogel verstauten. Meinen einundzwanzig Jahren wurde allerhand zugemutet: Abschied vom alten Erdteil, der erste Flug, und sogleich übers Weltmeer und in einen anderen Erdteil, auf den heißesten Kriegsschauplatz der damaligen Tage!- Ich winkte V. aus dem Fenster zu, dem letzten Menschen, der mich mit der Heimat verband. Seltsamerweise waren außer der Besatzung und mir nur zwei ergraute italienische Oberstleutnants in der Maschine, offensichtlich Kuriere, sonst war sie leer bis auf Postsäcke und viele Pakete.

Die Propeller begannen zu wirbeln, der ohrenbetäubende Motorenlärm erstickte jedes Geräusch und die Möglichkeit weiterer Verständigung. Der Riesenvogel ruckte an und begann übers Feld zu rollen. Kamerad V. blieb winkend zurück. Immer schneller die Fahrt, ein Beben begann, und mit einem Male wurde ich gewahr, daß der metallene Vogel sich in der Luft befand und die Erde mit ihren Hallen, Hangars und abgestellten Maschinen rasch zurückfloh. Wir flogen, flogen mit vielen tausend Kilogramm Gewicht frei in der südlich flimmernden Luft!

War das nun jener gewaltige Moment, von dem der Weise sprach? Oder war er allzusehr überschattet durch das Besondere und Bedrohende einer speziellen Situation? Allein mit Menschen, mit denen eine Verständigung, außer durch Zeichen, unmöglich war, im Kriege, jeden Augenblick dem Zugriff, der Geschoßgarbe eines Jägers oder Zerstörers des Feindes ausgesetzt, die Drohung des kommenden Abenteuers vor sich? Ja — und dennoch! Es war ein großer Augenblick. Dieses gewaltige, bebende, rhythmisch donnernde Gewicht gehorchte dem Mann in der Kanzel und schwebte frei in der glänzenden Luft. Felder, Aecker und Dörfer verschwanden zur Winzigkeit, indem die Maschine rasch Höhe gewann, es gab ein unruhiges Gefühl im Magen, und dennoch — es war etwas Gewaltiges! Wir flogen! Es war ein mächtiger Jubel in mir.

Bald deutete einer der Offiziere hinab, und das große, metallische Glänzen des Mittelmeeres schlug blendend zu uns herauf. Der mächtige Atem des Meeres überlief in weiten Wogen die schimmernde Oberfläche, und gleißend blendeten die weißen Kronen. Violette Flecke schwammen wie unterirdische Inseln im Weiten — die Schatten der Wolken und Nebelstreifen, die wir durchstießen und die mit weißen, nassen Flügeln an die Scheiben unserer Fenster schlugen. Ich hockte klein und unbeachtet auf meinem Tropenrucksack und starrte hinaus in das Meer des Lichts, und ein großartiges Gefühl, ein echtes Abenteuer unserer unromantischen und illusionslosen Zeit zu erleben, erfüllte mich. In blauem Glanz schwamm tief unten das geheimnisvolle, uralt verheißende Meer, das Meer der Alten, die See des Odysseus, weit dehnten sich nach allen Seiten die Ahnungen goldener Küsten, von denen ich gehört und gelesen, Griechenland, Aegypten, Palästina, irgendwo gab es, winzig in der Flut, Kreta und Zypern! Der donnernde Gesang der Flugmotoren übertönte alles, die Zeit stand still und abgetan war, was sie sonst erfüllte, Furcht und Erwartung, Hoffnung, Bangen und Selbstbetrug. Wir hatten die Erde zurückgelassen und flogen unter der Sonne dahin, unbekanntem Schicksal entgegen!

Ich wurde plötzlich von dem stolzen Bewußtsein überwältigt, während dieser gewaltige, musikalische Motorenlärm mir in den Ohren hallte und unter mir, tief, die weiten Atemzüge des Meeres gingen, daß gewaltige Möglichkeiten zur Schönheit dem modernen, dem technischen Zeitalter geschenkt wurden, neben soviel Blendwerk und Teufelsdienst. Und ein weiteres wurde mir bewußt: Wie wir alle, die wir in dieser metallenen, dahinrasenden Schachtel im Weltraum saßen, einander nah und vertraut waren, ohne Unterschied des Alters, des Ranges und der Herkunft der Sprache, ausgeliefert einem gemeinsamen Geschick, alle gleich in der Empörung gegen uralte Ordnungen, die jahrhundertelang geherrscht, alle gleich der Gnade der Vorsehung anheimgegeben — der Pilot in seiner Kanzel, der Funker in seiner Kabine, die angegrauten Oberstleutnants mit allem Gold auf ihren Schultern und den ledernen Kuriertaschen und der Einundzwanzigjährige in der Gefreitenuniform, ohne Ahnung vom Krieg und vom Leben. Es war alles fast gleich, was »ie bewegte und bedrohte.

Wir erfüllten den grenzenlosen Raum mit dem anmaßenden und herrlichen Donner unserer Zeit, als ob er uns gehörte und wir darinnen zu schalten hätten. Wir versuchten,

unsere ungeheure Anfälligkeit völlig zu vergessen — und es gelang. Eine Ewigkeit schien vergangen, und es waren doch nur vier Stunden, als die Maschine zu kreisendem Gleitflug über Derna ansetzte, der gleißenden Wüstenstadt an der Küste, und die heiße, schieiernde, rote Erde Afrikas voller Lockung und voller Drohung uns entgegenstieg und empfing.

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