Mandalay Bay Hotel. - Mandalay Bay Hotel.<br />
Paradise, Nevada. 1. Oktober 2017.<br />
60 Tote; 867 Verletzte (413 durch Schusswunden,<br />
454 im anschließenden Chaos). - © Spencer Ostrander

Im Land der vielen Waffen: Paul Austers "Bloodbath Nation"

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Warum werden gerade in den USA so viele Menschen erschossen? Der Schriftsteller Paul Auster sucht nach Erklärungen und landet bei einer langen Geschichte der Gewalt.

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Warum werden gerade in den USA so viele Menschen erschossen? Der Schriftsteller Paul Auster sucht nach Erklärungen und landet bei einer langen Geschichte der Gewalt.

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Jeden Tag werden in den USA durchschnittlich mehr als einhundert Menschen erschossen. Seit 1968 haben eineinhalb Millionen Amerikaner ihr Leben durch Schusswaffen verloren. Zynisch könnte man also festhalten, dass sich die USA selbst erschießen, sie brauchen keinen Krieg gegen andere dazu. Der Amoklauf erscheint dabei, so der Schriftsteller Paul Auster, als eine besonders „teuflische neue Variante zeitgenössischer Performance-Kunst. Es ist Amerikas neuestes Geschenk an die Welt, eine psychopathische Fußnote zu früheren Wunderdingen wie Glühbirne, Telefon, Basketball, Jazz oder dem Impfstoff gegen Polio.“

Navigator - © Die Furche

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Der Irrsinn lässt sich in Ziffern und Statistik darstellen. Aber Zahlen alleine stumpfen ab, für Massen entwickelt man selten Gefühle. Will man Empathie wecken und menschliche Tragödien sichtbar machen, hilft der Blick auf den einzelnen. Etwa auf jenen neunjährigen Buben, der zusehen musste, als seine Mutter den Vater erschoss. Oder auf den sechsjährigen Bruder, den die Mutter zuvor noch ins Bett gebracht hatte. Dieser einst Sechsjährige war Paul Austers Vater.

Gut gehütetes Geheimnis

Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster beginnt sein Buch „Bloodbath Nation“ mit einem Familiengeheimnis, das jahrzehntelang gut gehütet wurde. Es gab zwei Großmütter und einen Großvater – vom anderen Großvater fehlte jede Spur. Kein Foto erinnerte an ihn, und das Kind erhielt auf seine Fragen unterschiedliche Antworten über den Tod des Großvaters. Einmal hieß es, er „sei vom Dach eines hohen Gebäudes, an dem es etwas auszubessern gab, gestürzt und dabei zu Tode gekommen“, ein anderes Mal, „er sei bei einem Jagdunfall getötet worden“, ein anderes Mal, „er sei als Soldat im Ersten Weltkrieg gefallen".

Aber selbst ein Kind weiß, „dass ein Mensch nur einmal stirbt, nicht dreimal, doch aus mir kaum nachvollziehbaren Gründen habe ich meinen Vater nie auf diese Widersprüche hingewiesen und um Aufklärung gebeten. Vielleicht hatte ich, weil er so unnahbar und wortkarg war, schon damals gelernt, den Abstand zwischen uns zu respektieren und gehorsam hinter der Mauer zu bleiben, die er um sich gezogen hatte.“

Zeitlebens sprach der Vater nicht über das, was in seiner Kindheit geschehen war.

Zeitlebens sprach der Vater nicht über das, was in seiner Kindheit geschehen war, und als Paul Auster als Erwachsener einige Jahre vor dem Ableben des Vaters die Wahrheit über den Tod seines Großvaters erfuhr, sprach er seinen Vater gar nicht mehr darauf an. Die Mauer blieb.

Dabei hatte der Mord für die ganze Familie Folgen: Die freigesprochene Großmutter verbot den Kindern, jemals mit irgendjemandem darüber zu sprechen, sie zog ruhelos und immer am Rand des sozialen und ökonomischen Abgrundes von Ort zu Ort; der Onkel, der den Mord mitangesehen hatte, wurde ein aufbrausender und oft tobender Mann. Und der Vater? Er trug das Schicksal auf seine Weise in und mit sich herum und teilte es nicht mit. Er umgab sein düsteres Innenleben mit einer Mauer, „und wann immer ich an die im Grunde guten Eigenschaften meines Vaters denke, und was aus ihm hätte werden können, wäre er unter anderen Umständen aufgewachsen, denke ich auch an die Pistole, der mein Großvater zum Opfer fiel – die Waffe, die das Leben meines Vaters ruiniert hat".

Auch seelisch Verletzte

Wenn man über den Einsatz der Schusswaffen und ihre schrecklichen Folgen spricht, so Paul Auster in seinem Essay, sollte man daher nicht nur an die Toten denken, sondern auch an die vielen durch Schüsse Verletzten, Verstümmelten, für immer gezeichneten und beschädigten Menschen, aber auch an die an der Seele Versehrten. Durchschnittlich zweihundert Menschen werden in den USA nämlich täglich durch Schüsse verletzt.

Paul Auster und Spencer Ostrander - © Siri Hustvedt
© Siri Hustvedt

Schriftsteller Paul Auster und Fotograf Spencer Ostrander
Foto von Siri Hustvedt

Etwa 393 Millionen Schusswaffen befinden sich Schätzungen zufolge zurzeit im Besitz amerikanischer Staatsbürger. Zwar gibt es in immer weniger Haushalten Waffen, dafür besitzen aber immer weniger Menschen immer mehr Waffen. Eine unheimliche Entwicklung, vor allem auch angesichts der unübersehbaren Radikalisierungen. Aber wie konnte es dazu kommen? Und warum wird nichts dagegen getan?

Brutale Landnahme

Auf der Suche nach einer Antwort tastet sich Auster zeitlich zurück. In seine Kindheit, die geprägt war vom Bild des Wilden Westens, wie das Fernsehen es zeigte. Aber vor allem in die Geschichte Amerikas, zurück zu den Anfängen der USA. Sein Blick richtet sich auf die brutale Landnahme, den Unabhängigkeitskrieg und die erste Unabhängigkeitserklärung, die Auster als Lüge bezeichnet. Denn sie versprach Gleichheit und Freiheit für alle. Doch damit war es nicht weit her.

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit“, zitiert Auster daraus. Doch es waren nicht alle Menschen gleich und frei. Im Bundesrecht räumte man „den Südstaatlern unverhältnismäßig viel Einfluss“ ein und gestand ihnen zu, „jeden ihrer Sklaven als drei Fünftel einer Person zu zählen und damit die Anzahl der Repräsentanten zu erhöhen, die sie in den Kongress wählen konnten. So war es, und so blieb es, bis nach dem Bürgerkrieg die Verfassungszusätze 13, 14 und 15 kamen – und wieder einmal waren Schwarze die Opfer.“

Schonungslos klopft Paul Auster die amerikanische Unrechtsgeschichte ab.

Schonungslos klopft Auster die amerikanische Unrechtsgeschichte ab. „Die Vereinigten Staaten sind durch Gewalt zustande gekommen, haben aber auch eine Vorgeschichte, hundertachtzig Jahre in ununterbrochenem Krieg mit den Ureinwohnern des Landes, das wir ihnen weggenommen haben, sowie kontinuierliche Unterdrückung unserer versklavten Minderheit – die zwei Sünden, die wir in die Revolutionszeit mitgebracht und für die wir bis heute nicht gebüßt haben. Ob es uns gefällt oder nicht, und unabhängig von allem Guten, was Amerika im Lauf seiner Geschichte geleistet hat, tragen wir immer noch an der Schmach dieser zwei Sünden, dieser Verbrechen gegen die Ideale, für die wir angeblich eintreten.“

Im Unterschied zu Deutschland hätten die USA ihre Vergangenheit nie kritisch aufgearbeitet und sich dieser Realität nicht gestellt. Es ist daher auch eine Geschichte von Versäumnissen zu erzählen, und eine Lösung noch nicht in Sicht. Denn ein Verbot von Waffen alleine würde, so zeigt sich Paul Auster überzeugt, wie die Prohibition einst das Gegenteil erreichen und erst recht zum Einsatz von Waffen führen – und zu Gewalt.

Emanuel African Methodist Episcopal Church - Emanuel African Methodist Episcopal Church.<br />
Charleston, South Carolina. 17. Juni 2015.<br />
9 Tote; 1 Verletzter. - © Spencer Ostrander
© Spencer Ostrander

Emanuel African Methodist Episcopal Church. Charleston, South Carolina. 17. Juni 2015. 9 Tote; 1 Verletzter.

Zu einem Buch wird Austers fünfteiliger Essay durch die ihn begleitenden beeindruckenden Schwarz-Weiß-Fotografien von Spencer Ostrander. Sie führen an Orte, an denen Menschen ermordet und verletzt wurden: eine Kirche, eine Schule, ein Geschäft, ein Konferenzzentrum, ein Café, ein Nachtclub … Lauter Orte, wo sich sonst Menschen versammeln. Die Fotografien zeigen sie menschenleer. Aus jedem wurden von jetzt auf gleich Menschen gelöscht.

Angesichts der vielen Gewalttaten und der Opfer versagt letztendlich die Sprache – und am Ende auch der Versuch, den Wahnsinn vernünftig zu erklären. Und so ist es wohl die Stille – das Unsagbare, das aus diesen Fotografien spricht –, die Austers sprachliches Ringen um Verstehen notwendig ergänzt.

Bloodbath Nation - © Rowohlt
© Rowohlt
Literatur

Bloodbath Nation

Von Paul Auster
Übersetzt von Werner Schmitz
Mit Fotos von Spencer Ostrander
Rowohlt 2024
167 S., geb., € 27,50

Navigator - © Die Furche

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