Günther Anders: Nomade der Endzeit

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Zum 100. Geburtstag von Günther Anders.

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Zum 100. Geburtstag von Günther Anders.

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Günther Anders war das zweite Kind von Clara und Louis William Stern. Wenn er von seinen Eltern schrieb, tat er dies fast immer mit Freundlichkeit und verband mit den Erinnerungen sehr angenehme Gefühle. In dieser gelungenen Elternbeziehung dürfte auch der Ursprung für seine Glücksfähigkeit gelegen sein, denn im Gegensatz zu seinem philosophischen Werk, das oft apokalyptisch anmutet, war sein Leben vom Willen zum Glück geprägt.

Big Father in Breslau

Günther Anders hat immer mit Respekt von seinem Vater gesprochen und ihn bis ins hohe Alter immer in seiner Nähe gehalten. Doch trotz dieser engen, emotionalen Verbundenheit blieb Kritik am Verhältnis seines Vaters zur Welt nicht aus. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass Günther Anders sich auf Grund der Kontakte in Freiburg zu Edmund Husserl und später in Marbach zu Martin Heidegger und dann zu seiner ersten Frau Hannah Arendt auch aus dem Geisteszustand des Vaters und der Mutter, der geprägt war vom Glauben an Humanität und Aufklärung, befreien konnte. Der Vater schrieb über die Konstituierung des Kindes zum Menschen, über Spracherwerb und vieles mehr. Günther Anders jedoch schrieb über die Prozesse, die diese Entwicklung behindern oder gar unmöglich machen würden - in der Zukunft.

"Wahrhaftig, es gibt Zeiten, Tage und Augenblicke, in denen es unmöglich scheint, nicht hysterisch zu werden - einfach deshalb, weil uns zu viel Revoltierendes gleichzeitig zugemutet wird. Gute Zeiten müssen das gewesen sein - ich kann mich kaum mehr entsinnen - als es noch erlaubt war, uns jeweils immer nur über eine, eine einzige, Infamie aufzuregen; als wir uns noch emotional konzentrieren durften." Vielleicht hätte Günther Anders ja auch gerne die Beschaulichkeit und Behaglichkeit des Vaters gelebt, dieses konzentrierte Leben auf nur ein Problem hin. Aber hat er es nicht ohnehin getan, indem er all seine Energie, auf diese eine Frage der Auslöschung der Menschheit durch die Medien-, Atom- und Produktegesellschaft konzentrierte?

Der Glaube an Kultur und Fortschritt war ausgeträumt, und dennoch anerkannte er die Treue seines Vaters zu einer bestimmten Sache, auch wenn es nicht die seine war. Günther Anders verdankte sein stures Beharren auf bestimmte philosophische und politische Thesen und seine Unnachgiebigkeit gegenüber Menschen auch seinem Vater, diesem aufrechten, der Wahrheit verpflichteten jüdischen Bürger deutscher Sprache. Doch seine Sache lag nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft, sein Nullpunkt war noch nicht eingetreten, als der Vater bereits tot war. Das 19. Jahrhundert war in den Todeslagern von Auschwitz zugrunde gegangen, und mit dem Tod des Vaters (1938) und der Mutter (1945) begann der Aufstieg von Günther Anders zum Philosophen von Weltrang.

Der andere Stern

Immer wieder taucht in der biographischen Forschung zu Günther Stern ein Detail auf: seine Namensänderung. Anders zu sein und sich so zu nennen, war ihm Programm und kann mehrfaches bedeuten: Anders sein zu wollen, sich abzugrenzen gegen die eigene Herkunft, zu betonen, dass er anders ist als der Vater oder aber so sein zu wollen, wie die anderen, zu denen er auch nie gehörte, zu den Toten zahlloser Vernichtungskriege, über die er sein Leben lang berichtete und die er dokumentierte. Er selbst ist ja immer davongekommen, ein "aufgesparter Jude". "Und wenn Sie mich schließlich fragen, an welchem Tage ich mich am tiefsten geschämt habe - nein: nicht etwa Jude zu sein, (...) sondern an welchem Tage ich mich am tiefsten geschämt habe, als Jude noch dazusein, dann antworte ich, an jenem Sommertage, sieben Jahre nach Kyoto, als ich in Auschwitz vor den Gebirgen von Schuhen, Brillengestellen, ausgebrochenen Gebissen, abgeschnittenen Haarschöpfen und herrenlos gewordenen Handkoffern stand. Und unter diesen eigentlich auch meine Brille, meine Zähne, meine Schuhe, meine Handkoffer hätten sein müssen. Da fühlte ich mich, da ich kein Auschwitzhäftling gewesen war, da ich durch einen Zufall durchgekommen war, wie ein Deserteur."

Das Schreiben darüber hat ihn zu einem Zeitgenossen von jedermann und jederfrau gemacht. Es ist ja wohl auch kein Zufall, dass sein erster großer Text "La Pathologie de la Liberté" ("Die Pathologie der Freiheit. Versuch über die Nicht-Identifikation") heißt. Ich halte es daher mit Werner Reimann, der in seinem Buch "Verweigerte Versöhnung" zum Schluß kommt: "Wenn Günther Stern jetzt Anders' heißt, dann spricht aus seinem Namen seine ganze frühe Philosophie."

Von diesem ersten Schritt aus der heimischen Welt heraus wird aus dem anderen Stern ein nomadisierender Anders, der durch seine Welt-Räume wandert und sich an dem zufällig zur Verfügung stehenden Ort namens Wien 1950 niederläßt. Als Nomade lebte er seither im Kopf, aber blieb dabei immer zwei Sorten von Menschen treu, bei denen er eine Art von Heimat fand. Bei Günther Anders gelingt eine positive Identifikation mit Menschen, er wird nicht zum Amokläufer, sondern zum Liebhaber. Hier kommt die behütete Kindheit, das Geliebt- und Glücklichsein in der Kindheit voll zum Tragen. Er wird zum Geliebten der Frauen und zum Liebhaber der Toten.

Der Identifikationswechsel ist aber nicht nur einer vom Namen Stern zum Begriff Anders, sondern auch einer vom Sohn: Stern zum Mann: Anders. In die Zeit der Nomadisierung fällt auch die praktische Entdeckung der Frauen als sexuelles Objekt/Subjekt. Und Günther Anders umgab sich gerne mit Frauen. Er schrieb oft über sie, in Nebensätzen oder langen Passagen. Es wimmelt von Hauptfrauen und Nebenfrauen. Als psychischer Nomade konnte er sich ein Umfeld schaffen, in dem es ihm möglich war, seriell heimisch zu werden, in bezug auf seine drei Ehefrauen ebenso wie auf die Orte der Vernichtung. Es beginnt mit Hannah Arendt und seiner Wandlung vom Sohn zum Mann. Die Serie setzt sich fort mit Elisabeth Freundlich und seiner Reise nach Hiroshima, seinem Briefwechsel mit Claude Eatherly und dem Brief an Klaus Eichmann. Und danach wieder ein Personenwechsel: Charlotte Zelka, eine amerikanische Pianistin, unterbricht als Intermezzo das Spiel mit Elisabeth Freundlich. Mit ihr reist er nach Auschwitz und Breslau und während der Ehe schreibt er über Vietnam. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, aber eines wird auch jetzt schon klar: Günther Anders war kein Heimatloser, denn er war zu Hause an den Orten, wo seine Frauen mit ihm lebten und wo die Toten Einzug gehalten hatten: Auschwitz, Hiroshima, Vietnam, Tschernobyl und bei jenen Menschen, wo er das Leben vermutete: Hannah Arendt, Elisabeth Freundlich und den zahlreichen anderen ihm nachgesagten Frauenepisoden.

Bis 1945 bleibt sein Werk bestimmt von der Frage nach der Weltfremdheit, nach dem Menschen ohne Welt. Erst mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki dämmert das Zeitalter einer Welt an seinem philosophischen Horizont herauf, das er als Welt ohne Menschen bezeichnete. Als Anders von der Nachricht erfuhr, konnte er nichts anderes denken, als dass der "6. August den Tag Null einer neuen Zeitrechnung darstellte, den Tag von dem an die Menschheit unevozierbar fähig war, sich selbst auszurotten." Anders blieb bis ins hohe Alter ein Reisender, ein Beobachter, einer, der die Welt nach dem Tag Null, dem 6. August 1945 neu kartographierte. Und als dieser Humboldt der Endzeit reiste er seit 1950 durch die ihm bekannte Welt.

Die letzte Epoche

Von nun an arbeitete sich Günther Anders an diesem Thema ab. Er äußerte sich dazu und begann seinen Kongresstourismus von Wien aus, wo er sich niederließ, denn "von Wien aus habe ich herumgeschnuppert, um zu erfahren, was sich in West- und Ostdeutschland tat. Adenauer reizte mich ebensowenig wie Ulbricht. (...) So beschloß ich, im Weder-noch: in Wien zu bleiben."

Die späten Jahre waren stark von seiner Krankheit, Arthritis, geprägt. Sein Aktionsradius schränkte sich zusehends ein. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiter seine Thesen und theoretischen Konzepte auszubauen. Er läßt sich noch Mitte der achtziger Jahre, unter dem Eindruck von Zwentendorf, Wackersdorf und Tschernobyl auf sein letztes großes Abenteuer ein, auf die Frage nach: Gewalt - ja oder Nein. Als die ersten Protagonisten der RAF längst tot waren und das Gewaltmonopol in Europa von niemandem mehr in Frage gestellt werden durfte, ließ er sich zu Aussagen hinreißen, wie: "Wir Atomgegner kämpfen also, wie gesagt, einen Verteidigungskampf gegen so enorme Bedroher, wie es deren nie zuvor gegeben hatte. Also haben wir das Recht, Gegengewalt auszuüben, obwohl hinter dieser keine amtliche' und rechtmäßige' Macht, also kein Staat, steht. Aber Notstand legitimiert Notwehr, Moral bricht Legalität."

Apokalypse ist möglich

Wer wie Günther Anders einen Lebensweg hinter sich gebracht hatte, an dessen Anfang die in einem Blutbad geendete Monarchie und an dessen Ende die antizipierte atomare Auslöschung der Menschheit durch demokratische Nationalstaaten stand, mit den Auslöschungen im Zweiten Weltkrieg, in Vietnam in der Sowjetunion und anderswo, als Intermezzi, kann gar nicht mehr anders, als mit der Frage nach der Gegengewalt auf diese Verhältnisse zu reagieren, um nicht dorthin abzugleiten, wohin ihn seine Gegner immer rücken wollten, in die Welt der Apokalyptiker, wo es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Günther Anders' Spruch zum Ende der Welt, hat nichts von seiner Gültigkeit verloren: "Nicht nur von dieser letzten, sondern von allen hier aufgestellten Behauptungen gilt: Sie sind niedergeschrieben, damit sie nicht wahr werden. Denn nicht wahr werden können sie allein dann, wenn wir ihre hohe Wahrscheinlichkeit pausenlos im Auge behalten, und dementsprechend handeln. Es gibt nichts Entsetzlicheres als recht zu behalten. - Denjenigen aber, die, von der düsteren Wahrscheinlichkeit der Katastrophe gelähmt, ihren Mut verlieren, denen bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen die zynische Maxime zu befolgen: Wenn ich verzweifelt bin, was geht es mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!"

Günther Anders zählt für mich zu den wichtigsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gerade weil er am Übergang von der mechanischen zur technologischen Zivilisation steht und weil er diesen Übergang nicht nur selbst erlebt, sondern auch als Zeitgenosse beobachtet und dokumentiert. Seine Philosophie ist zwar spannend, doch seine Biographie zeigt die Widersprüchlichkeit eines Menschen, der von der Kindheit zum Glück prädestiniert, jedoch in in eine Welt hineingeboren wurde, die in eine Zukunft aufgebrochen ist, in der die Vernichtung der Zivilisation der Menschen möglich ist.

Der Autor ist Leiter des Günther-Anders-Forums, der Text die Kurzfassung seines Vortrags auf dem Internationalen Anders-Symposium am 27. und 28. Juni im ORF-Funkhaus.

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