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Meine Bekehrung

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Am 6. August 1868 wurde ich geboren. Meine Bekehrung vollzog sich am 25. Dezember 1886. Ich war also achtzehn Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt war ich in meiner geistigen Entwicklung weit voraus. Obwohl ich von beiden Seiten in einer Ahnenreihe vor Gläubigen stand, die der Kirche mehrere Priester geschenkt hatten, war meine Familie religiös gleichgültig und seit unserer Übersiedlung nach Paris allem gegenüber, was den Glauben betraf, ausgesprochen feindlich gesinnt. Zuvor hatte ich eine schöne erste heilige Kommunion gemacht, die wie für die meisten jungen Menschen damals zugleich Krönung und Schlußpunkt meines religiösen Praktizierens war. Zunächst wurde ich durch einen freidenkerischen Professor, dann in Provinzgymnasien (weltliche Schulen) und schließlich im Lycee Louis-le-Grand erzogen oder vielmehr unterrichtet. Mit meinem Eintritt in diese Anstalt hatte ich meinen Glauben verloren, der mir unvereinbar schien mit der Vorstellung von der Pluralität der Welten. Die Lektüre des „Leben Jesu von Renan lieferte neue Vorwände für diesen Gesinnungswandel, den im übrigen alles um mich herum erleichterte, ja ßogar ermutigte. Man entsinne sich nur jener traurigen Zeit der achtziger Jahre, jener Epoche der höchsten Blüte der naturalistischen Literatur. Niemals schien das Joch der Materie dauerhafter geschmiedet. Alles, was in Kunst, Wissenschaft und Literatur einen Namen hatte, war gottlos. Alle (sogenannten) großen Männer des ausklingenden Jahrhunderts hatten sich durch ihre Feindseligkeit gegenüber der Kirche ausgezeichnet. Renan beherrschte das Feld. Er präsidierte die letzte Preisverteilung im Lycee Louis-le-Grand, der ich auch beiwohnte; wenn ich mich recht entsinne, so empfing ich aus seinen Händen einen Preis. Victor Hugo entschwand soeben in einer Apotheose. Mit achtzehn Jahren glaubte ich also, was die Mehrzahl der sogenannten gebildeten Menschen jener Zeit glaubte: Der große Gedanke vom Individuum und von der Fleisch gewordenen Wahrheit war in mir erloschen. Ich eignete mir die monistische und mechanistische Hypothese in ihrer ganzen Strenge an; ich glaubte, alles sei „Gesetzen“ unterworfen und diese Welt sei eine Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die die Wissenschaft bereits übermorgen entwirren würde. All das kam mir im übrigen sehr betrüblich und höchst unbefriedigend vor. Den Kantschen Pflichtgedanken, den mein Professor in Philosophie, Herr Burdeau, vor un entwickelte, vermochte ich niemals zu verdauen. Ich führte im übrigen ein unmoralisches Leben und verfiel nach und nach in einen Zustand der Verzweiflung. Der Tod meines Großvaters, den ich lange Monate an einem Magenkrebs dahinsiechen sah, hatte mir einen tiefen Schrecken versetzt, und der Gedanke an den Tod verließ mich seitdem nicht mehr. Ich hatte die Religion vollständig vergessen und befand mich ihr gegenüber im Zustand der Unwissenheit eines Wilden. Der erste Strahl der Wahrheit drang zu mir durch die Begegnung mit den Büchern eines großen Dichters, dem ich hiefür ewigen Dank schuldig bin und der bei der Formung meines Denkens eine überragende Rolle gespielt hat: das war Arthur Rimbaud. Die Lektüre der „Illu-rninations“ und dann einige Monate später von „Une Saison en enfer“ waren für mich ein Ereignis von entscheidender Bedeutung. Zum erstenmal wurde durch diese Bücher eine Bresche in mein materialistisches Bagno geschlagen, und sie vermittelten mir den lebendigen und beinahe physischen Eindruck des übernatürlichen. Doch mein bereits zur Gewohnheit gewordener Zustand der Betäubung und Verzweiflung blieb sich gleich.

So stand es um dieses arme Kind, das sich am 25. Dezember 1886 in Notre-Dame de Paris begab, um dort dem Weihnachtshochamt beizuwohnen. Ich fing damals mit Schriftstellern an, und es schien mir, als könne ich in den katholischen Zeremonien, die ich nyt einem überlegenen Dilettantismus betrachtete, ein geeignetes Reizmittel und den Stoff für einige dekadente Übungen finden. In dieser Verfassung wohnte ich, von der Menge gestoßen und gedrückt, dem Hochamt mit mäßigem Vergnügen bei. Dann, da ich nichts Besseres zu tun hatte, kam ich zur Vesper wieder hin. Die, Knaben der Singschule in weißen Gewändern und die Schüler des kleinen Seminars Saint-Nicolas-du-Chardonnet, die ihnen assistierten, sangen gerade; wie ich später erfuhr, war es das „Magnifikat“, das sie sangen. Ich selbst stand unter der Menge, nahe beim zweiten Pfeiler beim Choranfang, rechts auf der Seite der Sakristei . Da nun vollzog sich das Ereignis, das für mein ganzes Leben bestimmend sein sollte. In einem Nu wurde mein Herz ergriffen und ich glaubte. Ich glaubte mit einer so mächtigen inneren Zustimmung, mit einem so gewaltsamen Empor-gerissenwerden meines ganzen Seins, mit einer so starken Überzeugung, mit solch unerschütterlicher Gewißheit, daß keinerlei Platz auch nur für den leisesten Zweifel offen blieb, daß von diesem Tage an alle Bücher, alles Klügeln, alle Zufälle eines bewegten Lebens meinen Glauben nicht zu erschüttern, ja auch nur anzutasten vermochten. Ich hatte plötzlich das durchbohrende Gefühl der Unschuld, der ewigen Kindschaft Gottes, einer unaussprechlichen Offenbarung. Bei dem Versuch, den ich schon öfter angestellt habe, die Minuten zu rekonstruieren, die diesem außergewöhnlichen Augenblick folgten, stoße ich auf eine Reihe von Elementen, die indessen nur einen einzigen Blitz bildeten, eine einzige Waffe, deren die göttliche Vorsehung sich bediente, um endlich das Herz eines armen verzweifelten Kindes zu treffen und es sich zu öffnen: „Wie glücklich doch die Menschen sind, die glauben! Wenn es wirklich wahr wäre? Es ist wahr! Gott existiert, er ist da. Er ist jemand, es ist ein ebenso persönliches Wesen wie ich! Er liebt mich, er ruft mich.“ Tränen und Schluchzer überkamen mich und der liebliche Gesang des „Adeste“ trug noch mehr zu meiner Erregung bei. Eine recht sanfte Erregung übrigens, der sich gleichwohl ein Gefühl des Schauders und beinahe des Schreckens zugesellte! Denn meine philosophischen Überzeugungen waren unangetastet geblieben. Gott achtete ihrer nicht und überließ sie ihrem Schicksal; ich sah keinen Anlaß, sie zu ändern; die katholische Religion kam mir nach wie vor wie ein Schatz törichter Anekdoten vor; ihre Priester und Gläubigen verursachten mir die gleiche Abneigung, die sich bis zum Haß, ja bis zum Ekel steigerte. Das Gebäude meiner Ansichten und Kenntnisse brach nicht zusammen, und ich entdeckte keinen Fehler an ihm. Ich war aus ihm herausgetreten, das war alles, was geschehen war. Ein neues, gewaltiges Wesen mit schrecklichen Forderungen für den jungen Menschen und Künstler, der ich war, hatte sich offenbart, das ich mit nichts von dem, was mich umgab, in Einklang zu bringen verstand. Der Zustand eines Mannes, den man mit einem Schlage seiner Haut entrisse, um ihn in einen fremden Körper und mitten in eine ihm unbekannte Welt zu verpflanzen, ist der einzige Vergleich, den ich finden kann, um diesen Zustand völliger Fassungslosigkeit veranschaulichen zu können. Was meinen Ansichten und Neigungen am meisten widersprach, gerade das sollte wahr sein, gerade damit sollte man sich wohl oder übel zurechtfinden. Ach! Dann aber wenigstens nicht, ohne daß ich nicht alles, was in meiner Macht stünde, an Widerstand aufzubieten versucht hätte.

Dieser Widerstand hat vier Jahre lang gewährt. Ich wage zu behaupten, daß ich mich tapfer geschlagen habe und daß der Kampf ohne Falsch und bis zu Ende geführt wurde. Nichts wurde unversucht gelassen. Ich wandte alle Verteidigungsmöglichkeiten an und mußte eine nach der andern meiner Waffen strecken, die zu nichts taugten. Es war die große Krise meines Lebens, jener Kampf des Denkens auf Leben und Tod, von dem Arthur Rimbaud geschrieben hat: „Der geistige Kampf ist ebenso brutal wie das Schlachtgetümmel der Menschen. Harte Nacht! das trocknende Blut dampft noch auf meinem Gesicht!“ Junge Menschen, die so leichtfertig ihren Glauben aufgeben, wissen nicht, was es kostet, ihn wiederzuerlangen, und was für Qualen der Preis dafür sind. Der Gedanke an die Hölle, der Gedanke auch an all die Schönheiten und Freuden, die zu opfern meiner Meinung nach die Rückkehr zur Wahrheit mir auferlegte, waren es vor allem, die mich zurückhielten.

Aber schließlich griff ich noch am Abend jenes denkwürdigen Tages in Notre-Dame, nachdem ich durch die regnerischen Straßen, die mir jetzt so fremd vorkamen, nach Hause zurückgekehrt

Warum man nur dem Publikum nicht mehr erlaubt, diesen Teil der Kirche während der Messe zu betreten, die vom Kirchenschiff aus ohnedies unsichtbar bleibt, weiß ich nicht (1938) war, nach einer protestantischen Bibel, die eine deutsche Freundin früher einmal meiner Schwester Camilla gegeben hatte, und zum erstenmal vernahm ich den Klang jener so sanften und doch unbeugsamen Stimme, die seitdem unablässig in meinem Herzen nachhallt. Ich kannte nur durch Renan die Geschichte Jesu, und im Vertrauen auf diesen Verleumder wußte ich nicht einmal, daß jener sich je Sohn Gottes genannt hatte. Jedes Wort, jede Zeile widerlegte mit einer überlegenen Schlichtheit die schamlosen Behauptungen des Abtrünnigen und entsiegelte mir die Augen. Gewiß, ich bekannte mit dem Zenturio, ja, Jesus ist der Sohn Gottes. An mich, an Paul, hatte er sich unter allen gewandt und mir seine Liebe versprochen. Aber gleichzeitig ließ er mir, sofern ich ihm nicht folgte, keine andere Wahl als die Verdammung. Ach, mir mußte man nicht erklären, was die Hölle sei, ich hatte meine „Jahreszeit“ dort verbracht. Diese wenigen Stunden hatten genügt, um mir zu zeigen, daß die Hölle überall dort ist, wo Jesus Christus nicht ist. Und was kümmerte mich schon die übrige Welt im Schutze dieses neuen wunderbaren Wesens, das mir soeben offenbart worden war?

Der neue Mensch in mir sprach so, aber der alte leistete mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften Widerstand und wollte nichts von dem Leben aufgeben, das ihm offenstand. Soll ich es gestehen? Im Grunde war das Gefühl, das mich am stärksten daran hinderte, meine Überzeugung offen zu bekennen, die Scheu vor den Mitmenschen. Der Gedanke, vor allen meine Bekehrung zu bekennen, meinen Eltern zu sagen, daß ich freitags fasten wolle, mich selber als einen jener vielverspotteten Katholiken zu proklamieren, verursachte mir kalten Schweiß, und für Augenblicke bereitete mir die Gewalt, die mir angetan wurde, eine wahre Entrüstung. Doch fühlte ich über mir eine starke Hand. Einen Priester kannte ich nicht. Ich hatte keinen einzigen Katholiken zum Freund.

Das Studium der Religion war mir zum Hauptanliegen geworden. Sonderbar, das Erwachen der Seele und der dichterischen Fähigkeiten vollzog sich bei mir zur gleichen Zeit und widerlegte damit meine Vorurteile und meine kindlichen Schrecken. Um diese Zeit schrieb ich die ersten Fassungen meiner Dramen: „Goldhaupt“ und „Die Stadt“. Obwohl ich den Sakramenten noch fernblieb, nahm ich doch bereits am Leben der Kirche teil, endlich atmete ich, und das Leben drang in midi durch alle Poren. Pascals „Pensees“, ein unschätzbares Werk für den, der den Glauben sucht, wiewohl sein Einfluß oft unheilvoll gewesen ist; die „Elevations sur les Mysteres“ und die „Betrachtungen über die Evangelien“ Bossuets und seine übrigen philosophischen Betrachtungen; die Dichtung Dantes und die wunderbaren Berichte der Schwester Emmerich, das waren die Bücher, die mir um jene Zeit am meisten halfen. Die „Methaphysik“ des Aristoteles hatte mir den Verstand gereinigt und führte mich in das Reich der wahren Vernunft. Die „Nachfolge“ gehörte für mich einer zu hohen Sphäre an, ihre beiden ersten Bücher kamen mir schrecklich hart vor.

Aber das große Buch, das vor mir aufgeschlagen war und in dem ich zur Schule ging, war die Kirche. Gelobt sei auf ewig die große, herrliche Mutter, auf deren Knien ich alles gelernt habe! Alle meine Sonntage verbrachte ich in Notre-Dame, und so oft als möglich ging ich unter der Woche dorthin. Ich war damals in Fragen des Glaubens ebenso unwissend, wie man es über den Buddhismus sein kann, und hier nun entfaltete sich das heilige Drama vor meinen Augen mit einer Pracht, die alle meine Vorstellungen übertraf. Ach, das war nicht die armselige Sprache der Andachtsbücher! Das war die tiefste und großartigste Dichtung, waren die erhabensten Gesten, die je menschlichen Wesen anvertraut worden sind. An dem Schauspiel der Messe konnte ich mich, nicht sattsehen, und jede Bewegung des Priesters schrieb sich tief in Geist und Herz ein. Die Lesung des Totenamtes, der Weihnachtsmesse, das Schauspiel der einzelnen Tage in der Karwoche, der erhabene Gesang des „Exsultet“, neben dem die trunkensten Klänge eines Sophokles und eines Pindar mir schal vorkamen, all das drückte mich nieder vor Ehrfurcht und Freude, vor Dankbarkeit, Reue und tiefster Verehrungl Nach und nach, sehr langsam und mühsam, brach sich in meinem Herzen der Gedanke Bahn, daß Kunst und Dichtung auch etwas Göttliches sind, und daß sie der Freuden des Fleisches durchaus •entraten können, ja, daß sie ihnen sogar im Wege stehen. Wie sehr beneidete ich die glücklichen Christen, die ich kommunizieren sahl Was mich betraf, so wagte ich es kaum, mich jeden Karfreitag unter die Schar derer zu mischen, die die Dornenkrone küßten.

Indessen gingen die Jahre hin und meine Lage wurde unerträglich. Ich betete zu Gott im verborgenen unter Tränen, und dennoch wagte ich es nicht, den Mund aufzutun. Gleichwohl wurden meine Einwendungen jeden Tag schwächer und die Forderung Gottes härter. Ach, wie gut kannte ich ihn zu jener Zeit, und mit welcher Gewalt traf er mich in meiner Seele! Woher nahm ich nur den Mut, ihm zu widerstehen?

Im dritten Jahr las ich die „Posthumen Schriften“ Baudelaires und sah, daß ein Dichter, dem ich vor allen andern Franzosen den Vorzug gab, in den letzten Jahren seines Lebens den Glauben gefunden hatte und sich unter den gleichen Ängsten und den gleichen Gewissensbissen geschlagen hatte wie ich. Ich raffte mich auf und trat eines Nadimittags in einen Beichtstuhl in Saint-Medard, meiner

Gemeinde. Es sind die bittersten Augenblicke meines Lebens gewesen, als ich dort auf den Priester warten mußte. Ich fand in ihm einen alten Mann, der nicht sehr beeindruckt schien von meiner Geschichte, die mir so interessant vorkam; er sprach mir von „Erinnerungen an meine erste Kommunion“ (zu meiner tiefsten Bedrückung), und gebot mir, bevor er mir die Absolution erteilen könne, meine Bekehrung meiner Familie bekanntzugeben, worin ich ihm heute nicht mehr unrecht geben kann. Ich kam aus dem Gehäuse erniedrigt und erzürnt hervor und ging erst im darauffolgenden Jahr wieder hin, als ich mich unausweichlich dazu gezwungen fühlte, mich geradezu genötigt sah und zur Verzweiflung getrieben. Dort, in der gleichen Kirche Saint-Medard, fand ich einen jungen, barmherzigen und brüderlichen Priester, den Abbe Menard, der mich wieder versöhnte, und später den frommen ehrwürdigen Kirchenmann, den Abbe Villaume, der mein Beichtiger und hochverehrter geistiger Vater wurde und dessen Schutz ich vom Himmel herab, wo er jetzt weilt, unaufhörlich über mir fühle. Meine zweite Kommunion machte ich an jenem gleichen Weihnaditstage, am 25. Dezember 1890, in Notre-Dame.

Aus dem Buch „Paul Claudel, Ausgewählte Prosa“, Verlag Benzinger, EinsiedeLn.

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