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Kunstkritik als Kunst

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ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MODERNEN KUNST. Von J. Meier-Graefe. 2 Bände mit 9 Tafeln und 57 Textabbildungen und einer Einleitung von Benno Reifenberg. R.-Piper-&-Co.-Verlag, München 1986, Paperback, 77 Seiten. DM 29.80. Nach der dritten Auflage neu herausgegeben von Benno Reifenberg und Annemarie Meler-Graefe-

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ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER MODERNEN KUNST. Von J. Meier-Graefe. 2 Bände mit 9 Tafeln und 57 Textabbildungen und einer Einleitung von Benno Reifenberg. R.-Piper-&-Co.-Verlag, München 1986, Paperback, 77 Seiten. DM 29.80. Nach der dritten Auflage neu herausgegeben von Benno Reifenberg und Annemarie Meler-Graefe-

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Zwei der drei Bände dieses später so berühmt gewordenen Werkes waren schon vor dem ersten Weltkrieg in etwa der Form fertig, in der sie heute wieder vorgelegt werden. Die letzten Bücher wurden dann 1924 hinzugefügt oder — wie der Autor es ausdrückte — „kam mit Gottes Hilfe der dritte Band zum Abschluß“. Daß weiteres Warten noch besser getan hätte, wird man nicht mit ihm glauben wollen. Man kann nicht über den eigenen Schatten springen. Man würde natürlich gerne lesen, was der 1867 Geborene, der, indem er neben den großen Malern des 19. Jahrhunderts auch noch die des 20., neben Manet, van Gogh und Gauguin auch Matisse und Picasso, Beckmann und Klee, würdigte, der also der modernen Kunst Pate gestanden hat, zu den Folgen gesagt hätte, zu den Folgen von Surrealismus, Tachismus, Neoplasti-zismus und Konstruktivismus. Denn der Stil dieses unvergleichlichen Kunstkritikers scheint in geheimnisvoller Weise jedesmal mit dem Stil der von ihm gerade beschriebenen Kunstwerke eins zu werden. Und davon rührt her, daß seinen Urteilen die Kraft eines Volksentscheides innezuwohnen scheint, daß wir uns ihnen ohne Widerspruch beugen. Da strahlt alles Gewißheit aus, da gibl es kein „Vielleicht“, da ist noch 19. Jahrhundert.

In jeder Sekunde hat der Autor den ganzen ungeheuren Stoff gegenwärtig. Da schießen die Verbindungsfäden nur so hin und her und im Nu ist das Neue mit deim Alten verwoben und ist selbstverständliche: Teil eines Ganzen geworden, das wii begreifen, weil wir dem glauben, der es begriffen hat. Man muß nichl schon Kunstkenner sein, um an diesem Werk Gefallen zu finden. Es ist im Grunde Dichtung und zählt zweifellos zur Literatur. Rein wird da* Vergnügen daran freilich nur fü den sein, der den Helden dieser Dichtung — in diesem „Epos der Kunst“, wie im Klappentext steht — bereits kennt, wer in der Kunst zu Hause ist, die sie beschreibt. Wie Eis in der Sonne werden die eingefrorenen Erinnerungen an die Kunstwerke unter dem wärmenden Blick dieses begeisterten Kenners wieder auftauen. Und das tut den Werken so gut wie uns. Beim Formen seiner Einsichten sind dem Autor Verkürzungen gelungen, die Formeln gleich auswendig gelernt zu werden verdienten. Kunst kann nur durch Kunst geschildert werden. Und diese Kunstkritik ist selbst Kunst. Meier-Graefe ist Künstler. Wovon auch immer die Rede ist in dem Buch, immer scheint es sieh um uns selbst zu handeln. Gelingen und Mißlingen der Künstler wird unsere eigene Angelegenheit, wird unser Sieg und unsere Niederlage. Wie ein Manetsches Gemälde, in breit hingestrichenen Flächen, wird Abschnitt um Abschnitt zum Ganzen zusammengeschlossen. Leitmotive durchziehen das Werk und reißen Unzusammenhängendes in einen Zusammenhang, der für uns zur Offenbarung wird. So, wenn er die Maler in Komponisten und Musiker teilt und bei jeder Anwendung dieses Vergleichs den Nagel auf den Kopf trifft. So, wenn er immer wieder in andere, frühere Epochen zurückspringt, um das jeweils Gegenwärtige verständlich zu machen. (Wie wunderbar schließt er das Poussinsche Licht an das Licht der modernen Franzosen an!) Diese Technik des begnadeten Kritikers beglückt ebenso durch die klare Ordnung, die sie in dem scheinbaren Chaos erkennen läßt, wie auch durch die Gedankenfülle, mit der sie das einzelne an das Ganze bindet.

Das Buch ist kein modernes Werk, wir erkennen es an den Fremdwörtern, die darin stehen und die heute nicht mehr gebraucht werden, und an den Schriftstellern, die es zitiert und die heute nicht mehr zitiert werden. Aber das Werk ist nicht veraltet und es kann nicht veralten, sowenig, wie die Kunstwerke, denen es geweiht. Denn diese Kunstgeschichte ist ein Kunstwerk.

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