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Montmartre

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Paris ist wunderbar. Und wenn die Franzosen behaupten: „Paris, c'est la Capitale du Monde“ (Paris ist die Metropole der Welt), so haben sie eine nidit leicht zu bestreitende Berechtigung dazu Die Stadt ist architektonisch überaus schön entwickelt und besitzt eine äußerst hochkultivierte Bevölkerung, die sich harmonisch in diesen Rahmen einfügt. Eine Unzahl von ausgezeichneten Baudenkmälern und Sehenswürdigkeiten höchsten historischen und künstlerischen Wertes erschweren dem ausländischen Besucher die Wahl seiner Besichtigungsobjekte, besonders wenn 'eine Zeit knapp bemessen ist.

Über das ganze Stadtgebiet hin sind zahllose ehrwürdige Kirchen, Denkmäler, Museen, Schlösser, Gärten. Theater und Vergnügungsstätten gestreut. Breite, gerade Straßenzüge schaffen kürzeste Verbindungen. Große und weite Plätze strahlen sternförmig Straßen aus. Sympathisdie, edel geformte Häuserzeilen erfreuen da Auge des schönheitsdurstigen Fremden. Wohl entbehrt auch Paris, wie jede Großstadt, der Schattenseiten nicht. In den Vororten gibt es Mietskasernen wie ;n jeder Millionenstadt, die in dem häßlichen Rot ungetünch-ter Ziegelwände an die Nüchternheiten des Lebens und der Gesellschaft gemahnen. Die Einfahrt von der Bahn het ist, wie in allen GroßstHd-en, trostlos. Man bemerkt nur verlotterte Hinterfronten mit schreienden Reklamen, verrußt und besdimutzt. Um dieses Bild nodi düsterer zu machen, ragen die unvermeidlichen Schornsteine der Fabriken in den Pariser Himmel, den auch das Industriegewerke des grauen Alltags abscheulich lärmend erfüllt. Dieser graue, scheinbar trostlose Alltag begleitet den fremden Besucher auch nach Verlassen des großen Bahnhofpalastes und seiner Umgebung unablässig auf seiner Entdeckungsreise durch das Pariser Neuland, bis er dann plötzlich merkt, wie er allgemach zu einer bewußt behüteten Romantik wird.

Wenn ihm dies aber bewußt wird, dann befindet er sich auf dem alten Montmartre — butte Montmartre. Der Aufstieg zum langgekrümmten Hügelrüdsen des alten „Mont des Martyrs“ ist zwar kurz, jedoch steil, und verlangt einige Anstrengung. Und dann die komischen, prosaisch wirkenden, sdiachtelartigen kleinen Häuschen mit den hohen Schornsteinen, die den Hügel als Rückenlehne und Fundament benützen. Wie sehen sie doch verhärmt und verkümmert aus ihren erstaunlich großen Fensterhöhlen.

Bei ihrem Anblick erinnere ich mich, daß Frankreich die Tradition der hohen, weiten Fenster im Barock Ludwigs XIV. geschaffen hat und daß dies hier also eine Art Vererbung darstellt.

Eine große Anzahl von Cafes, kleinen Vergnügungsstätten, die alle von außen einen Elendsanstrich haben, zeigen jedoch, daß es kein alltäglicher Alltag ist, in dem man sich wieder findet. Man sieht malerische schmutzige Winkel. Hinter ungeputzten Auslagescheiben hängen Radierungen und Aquarelle zu spottbilligen Preisen, denn wir sind hier im Eldorado der Malerkäuze. Ein besonderer Blickfänger ist das mittelalterliche Häusdien: „La Mairie du vieux Montmartre“. Bürgermeisterei des alten Mont-marte. Ein Hahn, in grellen Farben auf ein Blechsdiild kühn hingesetzt, verkündet das Vergnügungslokal seiner Patronanz: Du Cocque. Das unbarmherzige Sonneni;,'ht des Frühnachmittags meißelt uns ein Elendsbild von Sdimutz und Verwahrlosung, abblätternder Tünche und rissiger Mauern altertümlichen Gepräges in scharfen Konturen heraus.

Man tritt in ein sogenanntes Cafe, das jedoch mit dem Wiener Begriff nichts zu tun hat, denn es fehlt die uns geläufige Gemütlichkeit der Ausstattung. Das Büfett glitzert wie überall blitzblank, kalt metallen. Flaschen, Fläschchen, Tassen und Täßchen,Kaffeemaschine und Spülanlage für die schmutzigen Gläser! In letzterer wäscht die Wirtin seelenruhig ihre Wäsche rumpel-dipumpel auf der Rümpel. Und ihr Mann, mit gallischer Krummnase beweglichen warmen Äuglein, die unvermeidliche Baskenmütze auf dem Dickkopt einen dicken Schal um den Hals gewirbelt, dessen Ende am Rücken festiienadelt ist, trinkt seelenruhig an der Pudel einen Aperitif, den bekannten hoch alkoholischen Appetiran reger.

Ein scheinbares Liebespaar sitzt verdrückt in der Ecke und hat vor sich eine Anhäufung geleerter Gläser aller Größen stehen. Er,\ mit langen schwarzen Tangolocken, jener Typ des mondänen blasierten Jünglings, den man in Paris mit „Sasou“ bezeichnet, hat sie fest um die Taille gefaßt und trinkt ihr zu. Sie blickt ihn mit 14er-sdimachtenden Augen an. Sie hat kupferbraunes Haar. Beide sind sehr farbenfreudig gekleidet. Und der dicke Wirt bedient sie mit auserlesener Aufmerksamkeit, denn es sind „die Gäste“ und gute Gäste. Das konnte der fremde Laie aus det Anzahl der geleerten Gläser und Tassen ermessen. Dann gab es noch einen Hund mit Benehmen, denn er war mäuschenstill, hatte den Schwanz eingezogen und kauerte in der Ecke.

Hie und da wehte audi ein Handwerker herein, mit dem dann witzige Worte familiär gewechselt wurden.

Auffallend ist nur immer wieder, daß die französisdien Wirte ihr Lokal als Familienaufenthaltsort betrachten. Sie nehmen Mittag- und Abendessen mit ihrer Familie im selben Raum mit den Gästen ein, sei es nun ein kleines Restaurant oder ein Cafe. Wenn sie Kinder haben, scheuen sie sich nicht, mit ihnen im Lokal herumzuspielen, und auch die Gäste beteiligen sich gerne daran. Es besteht ein familiäres Verhältnis mit den Gästen, das man in anderen europäischen Ländern vermißt. Ausdruck dieser Familiarität ist es auch, wenn sich entfernte, kaum Bekannte auf der Straße treffen, sich umarmen und auf Wangen und Mund küssen.

Aus dem Dunst der engen Verhältnisse trete ich wieder in das befreiende Freie der herbstlichen Sonne. Der Blick fallt auf ein Ding, das ich bisher vernachlässigt hatte. Zwischen engen Gäßchen schimmert in erstaunlicher Weiße eine Kuppelrundung. Ihr nähert sich der Schritt. Plötzlich fallen links und rechts die Hüllen des kleinen, altersschwachen Mauerdunkels, vor mir erhebt sich auf freiem Plateau ein majestätischer Rieser.leib in gleißender Weiße, der mit dem azurb'auen Himmel in wundervollem Kontrast steht. Wie eine Fata Morgana aus dem Morgenlande steigt eine sich verjüngende Riesenkuppel auf, beschützt von minarettartigen Turmschäften, und schaut hernieder auf die Stadt. Das ist „Sacre coeur“, die Kathedrale des heiligen Herzens. Ihre fremdartige Schönheit dient dem Allerhöchsten. Die Sonne, welche sich auf kurze Zeit hinter schweren Wolken verborgen hatte, drang hervor und küßte den weißen Leib, daß er heller als je zuvor erstrahlte, und dann übergoß sie die Stadt mit einem goldigen, gedämpften Licht, in dem herbstliche Schleier verdämmernd hingen.

Vor meinen Füßen liegt das Häusermeer in Dunst und Glast und verschwimmend am Horizont, lieger Türme, Paläste und Gärten in einem seltsam harmonischen Farbengemisch von Violett, Grau, Braun und Grün. Ihre Konturen mengen sich. Einige hohe Fabriksschlote schneiden mir ins Herz. Paris ist eine hügelreiche Stadt, darin liegt mit ein Großteil ihres Reizes.

Und die Seineinsel mit den stumpfen Türmen der gotischen Kathedrale von Notre Dame, das Ur-Paris, schimmert in der Ferne und winkt zu mir herüber. Dort zieht's midi hin, zum mittelalterlichen Stadtkern, zum Quartier Latin, zum Tour Sa\nt - Jacques, zu den Bouquinisten (den Bücherverkäufern an der Seine), zur Sorbonne (Universität) und dem Palais de Justice mit seinen gedrungenen Rundtürmen. Dort liegt der Geist des alten Paris und der „Isle de France“ hingebreitet, jener ehemaligen geistigen Hochburg des mittelalter-'ichen Abendlandes in Prunk und Macht. Von der Butte Montmartre, meinem Standort, aber spannt sich eine undefinierbare Atmosphäre zu jenem anderen, rückwärtsgewandten Paris hinüber, die jeden Fremden in dieser Stadt befällt: die Atmosphäre lebendigen, wirklich gelebten Lebens, die Gebärde der Anschauung, die Empfänglichkeit der Farben und eine eigentümliche ästhetische Sinnesfreude am Sinnfälligen, Schönen und Reizvollen. In Paris vermag man sich mit den Dingen und Wesen, die einen umgeoen, zu identifizieren. Alles erhält bewußtes Leben, das Leben der Veranschaulichung und des Erschauten, denn hier versteht man es, zu leben und zu erleben, man iäßt sich trotz allen scheinbaren Hastens Zeit dazu. Und das ist das Schöne dieser Stadt und die Ursache, daß sie das Malerparadies schlechthin bedeutet. Sie macht den Wahnsinn des Kollektivs nicht mit. Hier, in ihr, vermag es noch „Inseln der Seligen“ zu geben. Hier vermag das Irdische lebenswert zu scheinen, denn hier ist alles Kunst. Schon in der Grazie des ärmsten Vorstadtmädchens und in ihrem GeschmackMnn wirkt sie offenbar. Die Atmosphäre von Paris ist mit Kunst getränkt. Hier konnte der Impressionismus entstehen. An einem leuchtenden Himmel ging er auf, in einem leuditenden intensiven Grün der Gärten fand er lebensvolle Nahrung, in der Phantasie der geschmackvollen Moden seine besten Impulse. Und blicke ich rund um mich, sehe ich Staffelei um Staffelei und davor schwarze Baskenmützen auf dem Haupt emsiger Malerkäuze, die in kühnen Farbenklexen alles einfangen, was ihr Auge durchdringend und visionär zu erschauen vermag. Es sind ewig dieselben Motive von Generationen her, aber stets inspirieren sie die Geister der Musensöhne aufs neue; denn ewig jung und neu ist die Sonne in ihren Wirkungen, ist der Himmel in seinem Farbenspiel auf das Menschenauge, ist ihnen ihre liebe Vaterstadt in ihrem individualisierenden Überschwang und in ihrer Grazie.

Ich spinne meine Gedanken nicht weiter. Dem weißen Herzen will ich noch nicht untreu werden. Ruhig schreite ich die Stufen zum erhabenen Hauptportal hinan. Dämmeriges Halbdunkel umfängt meinen Eingang in die Hallen. Vorne am Hauptaltar schimmert die Statue des Erlösers und mahnt zur inneren Besinnung auf ein höheres Leben. Und wie der Geist sich aufwärts wendet, verklingt das Hasten, das mich bis nun erfüllt. Die Emsigkeit des Alltags hat mich verlassen und alles Irdische scheint klein. Langsam wird die Seele ruhig und der Atem still. Eine Insel der Ewigkeit, in dem die Zeit ohne Sinn, der Raum ohne Maß und das Leben Ergebung ist, hält mich nun umfangen. Und anhebt die Orgel ein brausend Lied. Erschütternd greift die Allgewalt der Töne in die Hallen aus. Ihnen muß ich mich ergeben. Das „Te Deum lau-damus“ hat mich seit je erschüttert. Soll ich weinen, soll ich midi freuen? Draußen die Welt und hier die Begegnung mit der Überwelt, mit Ihm. Aus beiden aber ward mir Paris zur schönsten Erinnerung. Aus der Synthese von Gott und Welt ist diese Stadt gemacht, und darum ist sie höchste Kunst.

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