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Wagner-Weihe für das „Jausenplatzerl“

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Nur sonntags kam ein Zisterzienserpater aus Heiligenkreuz herüber, um in der kleinen Kirche die Messe zu lesen. Im barocken Gartenpavillon aus herrschaftlichen Tagen hatte der Wirt seinen Eiskeller eingerichtet. Der ganze Ort bestand aus wenigen ebenerdigen Häusern, denen, wie ein Zeitgenosse schrieb, „die Ärmlichkeit bei jeder Fensterluke herausguckte“.

Mayerling, ehe Kronprinz Rudolf dort einen Besitz kaufte, als Jagdschloß ausgestaltete und schließlich den Namen des vergessenen Dorfes zum weltweiten Begriff machte. Mayerling noch ohne Mythos und auch ohne Komfort.

Anfang der achtziger Jahre mietet ein Wiener Architekt namens Viktor Preyss den etwas abseits gelgenen „Marienhof“ als Sommerwohnung, ein einstöckiges Haus samt Wirtschaftstrakt. Dort logiert die Familie samt einem alten Faktotum von Beschließerin, dem Dienstmädchen und einem sinnigerweise „Hausknecht“ gerufenen großen Hund unerforsch-licher Mischung aus diversen Kreuzungen.

Aber die „Preyssischen“ brauchen nicht alle Räume des Anwesens, deshalb sind sie einverstanden, als ihnen Freunde einen jungen Mann empfehlen. Der habe ein paar Wochen Erholung dringend nötig und da wäre die stille Gegend draußen im Wienerwald gerade das Richtige.

Etwas befremdend wirkt es freilich, daß der Angekündigte nicht zum vereinbarten Termin eintrifft, sondern erst mitten- in der Nacht auftaucht und, von der verschlafen zum Tor schlurfenden Rosa oder Netti eingelassen, wortkarg in sein Quartier verschwindet. Das letzte Stück Weges von der Station des bespannten Postwagens — die verkehren damals noch wie im Biedermeier! — ist er mit seinem leichten Gepäck zu Fuß gestiefelt.

Am nächsten Tag verharrt er in den ihm so gastlich gewährten vier Wänden. Ist er vielleicht gar schon in so frühen Jahren ein Sonderling? Erst zur Jause gelingt es, ihn aus seiner Klausur zu locken. Freundlich zum gedeckten Tisch im Garten eingeladen, ist seine erste persönliche Äußerung keineswegs ein Wort der Entschuldigung wegen seines ungebührlich verspäteten Kommens, nein, ungeniert sagt er: „Also dieser Kaffee schmeckt aber herzlich schlecht!“ Einfach so, brüsk, gradheraus.

Der Architekt, ein sehr konzilianter Mann und seine heitere Frau übergehen diese Taktlosigkeit, sie wundern sich nur und insgeheim bereuen sie fast, daß sie den ruppigen Jüngling unbesehen aufgenommen haben, diesen Herrn — wie heißt er? — richtig, Wolf, Hugo Wolf, ein Steirer.

Er ist damals kaum Zwanzig und sieht ganz anders aus, als man ihn später kennt: noch bartlos, dafür trägt er eine Franz-Liszt-Mähne. Am Beginn stehend, hat er musikalisch natürlich noch nichts aufzuweisen. Dennoch: er besitzt eine ungewöhnliche Ausstrahlung, der intuitive Viktor Preyss, selbst eine Künstlernatur, erkennt sofort: dieser Mensch darf nicht mit dem üblichen Maß gemessen werden. Und als Wolf Zutrauen faßt, zeigt er, daß er nicht nur unbequem und schroff, sondern auch recht zugänglich und launig sein kann. Vor allem, wenn er spürt, daß man den Dingen, die ihn mit elementarer Gewalt beschäftigen, Verständnis entgegenbringt.

Auf dem Marienhof versenkt sich der Logiergast in die Dichtungen Jean Pauls, aber nicht ohne boshaftes Vergnügen holt er einmal auch ein anderes Buch hervor und liest im Garten den bohnenschneidenden Frauen aus Schopenhauers galliger „Abhandlung über die Weiber“ vor. In dem sehr belesenen Architekten hat er den idealen Gesprächspartner. Außer der deutschen Romantik entdeckt Wolf während jener Wochen Prosa und Lyrik der damals neueren Weltliteratur: Turgenjew, Lermontow, Giacomo Leopardi.

Die Hausleuf lassen ihn gern gewähren, wenn er allein sein will, sich in die „Wolfshöhle“ zurückzieht, über die wir erfahren: „Ein geheimnisvoller Zauber spann sich um diesen Raum, wenn die Eingangstüren fest verschlössen waren und aus dem Inneren wunderbare Klänge drangen. Der Raum hatte zwei Fenster, die Einrichtung war höchst einfach und umfaßte nur das Nötigste: einen Sehrank, einen Tisch, ein Bücher- und Notenregal, das Klavier aus einer Badener Leihanstalt und einige Stühle. Ganze Tage saß er hier im eifrigen Studium und einsamer Arbeit.“

Oft wandert Wolf nach Heiligen-kreuz hinunter. Bisher wurde seine Vorstellung von einem ländlichen Kloster durch Besuche im Kärntner Stift St. Paul im Lavanttal geprägt. Er weiß nicht, daß die Zisterzienser nach einem uralten Prinzip immer in der Niederung bauen. Doch der Unterschied fällt ihm auf, Heiligenkreuz begeistert ihn und er schreibt an seine Eltern: „... es ist gerade umgekehrt wie in St. Paul. Dort liegt das Stift auf einer Anhöhe, man muß hinaufschauen — hier ist die Straße höher als die Türme der Abtei, und man muß hinabsehen. Das gibt einem keine besondere Meinung von Heiligenkreuz. Aber man muß darin gewesen sein, um alle Wunder und Träume der Romantik wieder neuerstanden zu sehen, ja ich war so entzückt und ergriffen, daß ich keinen anderen Wunsch mehr übrig hatte als den: Mönch zu sein!“

Ein musikalisches Werk beschäftigte ihn damals besonders, es ist Heinrich Marschners Oper „Hans Heiimg',' ihren Naturzauber meint er in der Mayerlinger Landschaft wiederzufinden. Sein Phantasie malt ihm im Umkreis des Marienhofs das märchenhafte Geschehen aus, auf Schritt und Tritt sieht er Übereinstimmung. In den Abendnebeln erblickt er Hexen und Geister, auf Spaziergängen improvisiert er Szenen wie aus dem „Sommernachtstraum“, schwelgt in bunten Bildern einer unerschöpflichen Magie, um, plötzlich aufschreckend, laut schreiend vor dem selbst heraufbeschworenen Spuk davonzulaufen. Freunde, die solche Phantasmagorien miterleben, wissen später nicht zu sagen, ob Wolf nur seinem komödiantischen Übermut die Zügel schießen ließ oder ob es bereits ein erstes We-terleuchten seiner psychischen Zer-rütung war. ■

Er hat die Klavierauszüge seines Abgottes Wagner mitgebracht und so vollzieht sich auf dem einschichtigen Marienhof manches in seiner Art singuläres künstlerisches Ereignis. An Regentagen macht der junge Mann aus seiner „Wolfshöhle“ eine Weihestätte. Während draußen die Bäume vor Nässe triefen und trübes Grau das Tal einhüllt, bittet Wolf das Ehepaar Preyss und dessen Anhang in sein karges Zimmer und spielt lange Partien aus dem in Wien noch fast unbekannten „Tristan“ und den „Meistersingern“ vor.

Für sich und mit Wagner allein kann er aber auch das schönste Sommerwetter vergessen, nie erfährt er, daß er beim Musizieren zuweilen ungebetenes Publikum hat. Denn drunten im Dorf spricht sich herum, daß im Marienhof ein wunderlicher Tonkünstler hause. Touristen kommen herauf und hören ihm zu, hinter einem nahen Heuschober versteckt.

Lächelnd denkt er an die erste Begegnung mit den Gastgebern, als er, wie er selbst sagt „in den friedlichen Taubenschlag“ ungestüm eingebrochen war. Das ist nur wenige Wochen her, aber Wolf hat sich schon völlig in dem Retiro eingelebt und weiß den familiären Umgang mit diesen klugen Menschen von vornehmer Gesinnung sehr zu schätzen. Es sind tiefe Sympathien, die der Architekt und dessen Frau herzlich erwidern.

Unter dem Eindruck einer guten Stunde schreibt der junge Mann in einem Brief: „Wir sind nun übereingekommen, daß es eine Schmach für Mayerling sei, wenn der liebe Herrgott nur in Frankreich gedeihen sollte und haben deshalb feierlichst beschlossen, der Erinnerung an diese

Tage durch die Variante ,Man lebt wie der Herrgott in Mayerling' ein bleibendes Denkmal zu setzen.“

In Wien wird der Kontakt weitergepflegt. Ganz kurz sieht Wolf die „teure Halle“ im Jahr 1881 wieder, diesmal zu Ostern. Den Sommer verbringt er in seiner Hiema't Windischgraz, im Herbst folgt er der Verpflichtung als Kapellmeister des Salzburger Stadttheaters, ein berufliches Intermezzo, das für ihn disharmonisch endet. Gern kehrt er nach Wien zurück, in eine unsichere Existenz zwar, aber in die Freiheit.

Um so eher zieht es ihn nach dem Marienhof. Schon im Mai 1882 übersiedelt er in das noch leerstehende Haus. Bald nachdem er sich draußen solo eingerichtet hat, besucht er seine späteren Gönner, die Familie Werner in Perchtoldsdorf. Für den Heimweg verläßt er sich gar nicht erst auf Wagen und Pferde, sondern auf die eigenen Beine. Zu Fuß bis nach Mayerling, eine typische, prächtige Hugo-Wolf-Marotte! Bis Gießhübel gibt ihm die Freundesrunde das Geleit. Dann schreitet er von der Anhöhe allein südwärts in die Wienerwaldnacht hinaus. „Kruzi Eidaxl! Das war kein Gspaß!“ ruft er mit furiosem Humor in seinem Bericht über dieses Abenteuer aus. „Gut, daß Sie in meinem zugespitzten Gesichte nur an die herrliche Gestalt des sinnreichen Junkers von la Mancha erinnert wurden; wäre mir noch die überwuchernde Phantasie Don Quixotens eigen, so hätte ich gestern, wie jener in Windmühlen Riesen, in jedem Strauch ein Unding von Menschen erblicken müssen. Dank dem Vegetarianismus hielt ich aber jeden Strauch und jeden Baum nur für das, was sie sind.“ Dennoch wähnt er sich lauernden Räubern entronnen und fragt brieflich: „Alterniert Sie 's nicht? Zittern Sie nicht nachträglich?“

Wolf selbst ist es, der dann bald zu zittern beginnt, aber vor Nervosität und Wut. Ein Gönner hatte ihm einen schwarzen Salonrock geschenkt — sogar ein Stück aus der hochnoblen Stadtfirma Gunkel! Allerdings muß dieser willkommene, elegante Garderobenzuwachs auf die kleine, schlanke Figur des neuen Besitzers umgearbeitet werden. Getreulich übernimmt ein Freund die Aufgabe, beim Wiener Schneider zu urgieren, während Hugo in Mayerling harrt. Als ewig kein Paket einlangt, steigert sich der Jähzornige in wilde Haßparoxysmen hinein, er möchte dem säumigen Meister Insektengift in den Tee schütten oder ihn mit der Zuschneideschere massakrieren.

Man muß wissen, er braucht den formellen Anzug wirklich dringend. Will er doch zu den Bayreuther Festspielen fahren. Die guten Marienhofer hatten ihm in Baden den Klavierauszug des „Parsifal“ besorgt. Diese Noten sind für ihn nun so etwas wie der Gral von Mayerling und das einfache alte Haus ist Wolfs persönliche Gralsburg. Tagelang sitzt er, ins Studium vertieft, am Instrument.

Die erste Bayreuther Aufführung findet am 26. Juli statt. Aber Wolf ist nicht in Wagners Nähe, wie er es ersehnt und erhofft hatte, sondern im nun schon angestammten Tuscu-lum. An der vertrackten Finanzmisere war die Reise gescheitert. Todtraurig geht der so hart Geprüfte ruhelos im Garten umher, ständig muß er an das große Ereignis denken, das ihm versagt bleibt. In dieser Betrübnis hat er plötzlich einen kühnen Einfall: wenn er nicht in Bayreuth sein kann, wird er sich hier sein eigenes Bayreuth schaffen!

Spontan erklärt er den Hausgenossen: „Auch wir führen den ,Parsifal' heute auf und zwar um dieselbe Stunde.“ Nachmittags schließt Wolf die Türen seines Zimmers und läßt nur das dem „Jausenplatzerl“ zugewandte Fenster offen. Dort versammeln sich die Zuhörer, andächtig schweigend, nicht anders als die Wagnerianer in der fränkischen Stadt. Punkt vier Uhr beginnt Wolf am Klavier. Nach dem 1. Akt kommt er ins Freie. Auf die Sekunde hält er die vom Meister eigens vorgeschriebenen Pausen ein und spielt solo, mit bewundernswertem pianistischen Können, ohne zu ermüden das gesamte gewaltige Werk. Richtig synchron, wie man nun sagen würde. Als in Bayreuth der Vorhang fällt, sind auch in Mayerling die letzten Akkorde verklungen.

Eine wahrhaft romantische Künstleridee und in dieser schlichten Umwelt eines altösterreichischen Wienerwaldsommers wohl die ungewöhnlichste Wagner-Huldigung der Musikgeschichte!

Im August kann Wolf dann doch noch überglücklich nach Bayreuth pilgern. Für 1883 erhofft er sich wieder einige Wochen Abgeschiedenheit auf dem Marienhof. Aber die Familie Preyss muß diesmal anders disponieren, sie braucht die „Wolfshöhle“ für auswärtige Verwandte. Außerdem wollen die Dienstleut' lieber nicht mehr mit dem oft schwierigen Logiergast zu schaffen haben, auch nicht gegen Sonderhonorar. Der Architekt bemüht sich, dem jungen Freund die Situation mit allem Takt verständlich zu machen. Der reagiert sehr höflich, wenngleich etwas gekränkt: „Fern sei es von mir, mich Ihnen aufzudrängen; da ich recht wohl begreife, daß Sie alle Gemächer ohne Ausnahme benötigen. Ich bitte tausend-mat um Entschuldigung.“

Die harmonische Beziehung wird dadurch nicht ernstlich gestört, aber Hugo Wolf kommt künftig nicht mehr nach Mayerling, sondern fährt ins Salzkammergut. Auf dem Marienhof hatte er, nur ein einziges Lied komponiert, das „Mausfallensprüchlein“, und zu seinem neuen Schwerpunkt in der nun folgenden Epoche eigener schöpferischer Entfaltung wird im Wienerwald das Perchtoldsdorfer Landhaus Werner, heute ein neu gestaltetes Wolf-Museum.

So bleibt dieses Mayerlinger Capriccio seines Lebens letzten Endes ohne Mißton.

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