Versuche, dem Unsagbaren Sprache zu verleihen

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"Ich habe meine beiden Romanzyklen aus Scham geschrieben und aus Besessenheit von Literatur. Jetzt, fast 40 Jahre später, hat sich an meiner Scham nichts geändert", sagt Gerhard Roth im 2015 erschienenen Interviewband "Reise ins Unsagbare". In diesen beiden Zyklen habe er sich in sein "eigenes Angstzentrum begeben", sie seien "Berichte von diesen Höhlenwanderungen".

Drei Jahre vor Kriegsende, am 24. Juni 1942 in Graz geboren, wuchs Roth in der Zeit des großen Schweigens auf. Das Medizinstudium brach der Sohn eines Arztes und NSDAP-Mitglieds ab, bis 1977 arbeitete er als Programmierer und Organisationsleiter im Grazer Rechenzentrum, danach zog er zum Schreiben aufs Land. Dort und in Wien begann er seine gründlichen Recherchen. Literatur als "Verbrechensanalyse" und "Mentalitätsforschung", "Verbrechensromane", denen es um die Verfassung der Täter und Opfer geht: Aus ursprünglich zwei geplanten Büchern über die Zeit des Nationalsozialismus wurden sieben Bände, nämlich die berühmten "Archive des Schweigens", 1980 mit "Der Stille Ozean" begonnen.

Die Frage, wozu der Mensch fähig ist, begleitet den zweiten Zyklus "Orkus", 1995 begonnen mit "Der See". Beide Zyklen sind eng miteinander verwoben, Figuren tauchen immer wieder auf - die vielen intertextuellen Verweise werden noch Germanistengenerationen beschäftigen. Wie Bilder eines Mosaiks komponierte Roth seine Zyklen - und "der Bien" lieferte mit seiner Wabenstruktur in den Stöcken die Struktur. Gesamtkunstwerke, deren Teile aber durchaus einzeln lesbar sind, in beliebiger Reihenfolge.

In "Wahnsinn und Gesellschaft" stellte Michel Foucault dar, wie die Gesellschaft wegsperrt, was sie stört. Dem Wahnsinn und dem Unsichtbaren spürte auch Gerhard Roth nach. 1976 besuchte der "Augenmensch", der später auch Fotobände veröffentlichte, zum ersten Mal die Gugginger Künstler - die Begegnungen und die Kunst sollten sein Schreiben nachhaltig prägen, nämlich auch in jener Hinsicht, "beim Schreiben Vorstellungen zuzulassen, die auf den ersten Blick unsinnig waren." In seinem jüngsten Roman "Grundriss eines Rätsels" (2014) schreibt ein Autor angeblich an einem Roman, der "'die sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit -wie die Klein'sche Flasche - zugleich außen und innen' abbilde, weshalb man nie wisse, welche der beiden Seiten die äußere und welche die innere sei". Möglicherweise auch eine Poetologie jenes Schriftstellers, der im Sommer den Großen Österreichischen Staatspreis 2016 erhalten wird.

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