6880802-1979_09_06.jpg
Digital In Arbeit

Chinas Ziel: Neutrales Vorfeld

19451960198020002020

Was bezweckt China mit seinem massiven Angriff auf Vietnam, mit dem es zunächst doch nur erreicht hat, daß sich der politisch wie wirtschaftlich umworbene Partner USA verschämt von der Aggression distanzieren muß und auch kommunistische Parteien in aller Welt, die eurokommunistischen eingeschlossen, von Peking abrücken? Nur eine Strafexpedition? Oder ein Versuch, SALT II zu torpedieren? Analytiker und Kommentatoren in West und Ost rätseln. Die FURCHE erteilt an dieser Stelle einem der versiertesten China-Kenner Österreichs das Wort. Dr. Gerd Kaminski ist Universitätsdozent für Völkerrecht an der Universität Wien und Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für China-und Südostasienforschung. Er war bereits vielen China-Besuchsgruppen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ein kundiger Berater und Begleiter.

19451960198020002020

Was bezweckt China mit seinem massiven Angriff auf Vietnam, mit dem es zunächst doch nur erreicht hat, daß sich der politisch wie wirtschaftlich umworbene Partner USA verschämt von der Aggression distanzieren muß und auch kommunistische Parteien in aller Welt, die eurokommunistischen eingeschlossen, von Peking abrücken? Nur eine Strafexpedition? Oder ein Versuch, SALT II zu torpedieren? Analytiker und Kommentatoren in West und Ost rätseln. Die FURCHE erteilt an dieser Stelle einem der versiertesten China-Kenner Österreichs das Wort. Dr. Gerd Kaminski ist Universitätsdozent für Völkerrecht an der Universität Wien und Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für China-und Südostasienforschung. Er war bereits vielen China-Besuchsgruppen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ein kundiger Berater und Begleiter.

Werbung
Werbung
Werbung

Zur Zeit, als die Amerikaner in Vietnam, Kambodscha und Laos militärisch aktiv waren, fand sich in chinesischen Kommentaren des öfteren der Satz, China und jene Länder verhielten sich wie Lippen und Zähne: „Wenn die Lippen fehlen, werden die Zähne kalt.“

Dieses chinesische Sprichwort ist nicht neu, sondern hat seinen Ursprung in mindestens 2500 Jahre alten Gleichgewichtsüberlegungen. Es verrät, wie wichtig die Aufrechterhaltung des politischen Gleichgewichts für die chinesischen Staatsmänner stets gewesen ist. Die Verletzung dieses Prinzipes war im alten China ein Kriegsgrund.

Und wie steht es heute? China vertritt eine Politik der Vereinigten Front, welche strategisch ein Ungleichgewicht zugunsten der darin zusammengeschlossenen Staaten herbeiführen soll. Ziel ist eine Isolierung der Sowjetunion durch alle jene Staaten, die sich durch sowjetische Vormachtbestrebungen gefährdet sehen.

Die chinesische Führung ist aber realistisch genug, um zu wissen, daß dieses strategische Ziel, wenn überhaupt, dann nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten und sehr langfristig zu verwirklichen ist. Daher sind ihr Lösungen willkommen, die zumindest eine Verschiebung des Gleichgewichts zugunsten der Sowjetunion verhindern.

Eine solche China willkommene Lösung ist die Neutralität. Das war nicht immer so. Anfänglich bezeichnete Mao Tse-tung die Neutralität als Tarnung. Liu Schao-tschi sprach insbesondere kommunistischen Staaten die Möglichkeit zur Neutralität ab und wetterte gegen die Vorstellungen Titos, man könne sich zwischen den Lagern der Sowjetunion und des Imperialismus niederlassen.

Heute sieht China sogar die Neutralität kommunistischer Staaten positiv. Diejenigen, welche meinten, China würde nach der Etablierung rein kommunistischer Regierungen in Kambodscha und Laos die Maske fallen lassen und die Neutralität jener Staaten als überholt abtun, wurden enttäuscht. Die chinesische Führung begrüßte die Beibehaltung der Neutralität durch die neue kambodschanische Führung und erinnerte Laos, das „Neutralität“ aus seinem offiziellen Vokabular gestrichen hatte, nachdrücklich an seine Verpflichtung zur Unabhängigkeit.

Aus dem chinesischen Außenamt wurde dem Verfasser dieses Beitrages 1977 ausdrücklich bestätigt, daß China, ungeachtet des gemeinsamen ideologischen Bekenntnisses, von kommunistischen Neutralen keine außenpolitischen Aktionen erwartet, die mit ihrem Status unvereinbar wären: zweifellos eine interessante Alternative zum sowjetischen Satellitenmodell.

Doch auch über den Raum der unmittelbaren Nachbarschaft hinaus hat China während der letzten Jahre Neutralitätstendenzen begrüßt. Seit 1978 versuchte Vietnam, diesbezüglich mit China zu wetteifern, um sich Sympathie oder sogar Zugang bei der neutralitätswilligen Gruppe der ASEAN-Staaten (Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand) zu verschaffen.

Deng Xiaoping, der starke Mann Chinas, der sich vergangenen Herbst an die Fersen des vietnamesischen KP-Chefs Pham Van Dongs heftete und seinerseits ASEAN-Staaten besuchte, konnte dabei versichern, daß China die Neutralität strikt und ohne Seitenblick auf ein bestimmtes Lager achten würde. Er selbst hatte 1974 auf der Rohstoffkonferenz der UNO verkündet, für China sei das sozialistische Lager nicht mehr existent. Eine Neutralität der ASEAN-Staaten im klassischen Sinne scheint für China der geeignete Riegel zu sein, um nach der amerikanischen Truppenverdünnung „dem (sibirischen) Tiger den Eintritt über die Hintertür zu verwehren“.

Die ganze Konstruktion geriet je-

doch ins Wanken, als Vietnam seinen neutralen kommunistischen Nachbarn Kambodscha überfiel. Schon vorher hatte das Naheverhältnis Moskaus zu den „Lippen“ Vietnam und Laos im chinesischen Mundraum Kälte verbreitet. Mit Kambodscha soll aber nun ein neutralitätswilliger Staat seines Status beraubt und zu einer „militanten Solidarität“ (Formulierung der vietnamesischen Zeitung „Nhan Dan“ im Leitartikel vom 19. Februar) mit Vietnam gebracht werden. Damit würde aber zugleich die Neutralitätslösung für ganz Südostasien in Frage gestellt und China hat eine neue, diesmal gegen sich gerichtete Dominoreaktion zu befürchten.

Ein Hauptmotiv der chinesischen Aktion in Vietnam dürfte daher die Absicht sein, Vietnam aus Kambodscha hinauszuzwingen und die Neutralität unter Einbeziehung des alten Praktikers Sihanouk wiederherzustellen.

Während seiner langen Geschichte ist China stets dann eingeschritten, wenn eine Großmacht versuchte, sich auf Kosten schwacher Staaten in seiner Nachbarschaft zu etablieren. Die siegesgewohnten Vietnamesen hätten dies mit einem Blick in chinesische Geschichtswerke feststellen können. Dort wären sie auch auf folgenden Spruch gestoßen:

„Durch häufige Kriege wird das Volk erschöpft und durch häufige Siege ein Herrscher überheblich. Mit einem überheblichen Herrscher ein erschöpftes Volk zu regieren - das ist es, wodurch sich ein Staat zugrunde richtet.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung