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Ein Kontinent, der ständig pendelt

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Ein Großteil jener Wissenschafter, die sich mit den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vorstellungen Lateinamerikas befassen, vertreten das „Gesetz der Pendelbewegungen.“ Im Unterschied zu Europa, wo man in Begriffskategorien wie Anfang und Ende sowie (End)Ziel denkt, hat sich in Lateinamerika die Vorstellung von einem ständigen Auf und Ab bezüglich der Staatsform, der Wirtschaftsstufe und der Kultur durchgesetzt. Hanns-Al-bert Steger von der Universität Erlangen spricht in diesem Zusammenhang von der „Vorstellung vom regelmäßig wiederkehrenden

Chaos“.'

Das Problem der europäischen Einflüsse, der Abhängigkeit Lateinamerikas, vielleicht sogar der Inter-dependenz mit Europa zog sich wie ein roter Faden durch den „Dialogkongreß Westeuropa - Lateinamerika“, der .vom österreichischen College Ende Juni in Alpbach veranstaltet wurde. Gerade auf politischem Gebiet wurde deutlich, wie sehr Lateinamerika vom Europa des achtzehnten Jahrhunderts geprägt wurde, sich dann aber mit deutlicher Eigengesetzlichkeit weiterentwickelt hat.

Die Unabhängigkeitskämpfer der südamerikanischen Staaten waren hauptsächlich durch die Französische Revolution und die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten inspiriert worden. Während sich aber die neuen Republiken zwischen 1810 und 1830 im Rahmen demokratischer, liberaler Verfassungen bildeten, litten die Völker unter der starken Unterentwicklung und unter einem System, dessen Strukturen noch die Charakteristika von Sklaverei,

Latifundienwirtschaft und Abhängigkeit aufwiesen.

Von den 20 lateinamerikanischen Ländern könne man heute lediglich fünf als „zufriedenstellend demokratisch“ bezeichnen, führte Professor Luis Manuel Penalver aus Venezuela aus. Die politischen Verhältnisse werden durch ein noch immer streng getrenntes Klassensystem - wenige Grundbesitzer, Massen von Armen -gekennzeichnet. Weitere signifikante Merkmale der lateinamerikanischen Situation: eine ständig wachsende, immer mächtiger werdende liberal gesinnte Mittelklasse, eine langsam voranschreitende und unausgeglichene sozioökonomische Entwicklung, bei der ein sozialer Ausgleichsmechanismus fehlt, ein weit verbreitetes Führerprinzip, Streitkräfte, die immer wieder als die Hüter der Macht auftreten, ein geringes kulturelles Niveau und das Fehlen sozialer Orientierungsmöglichkeiten.

Von den multinationalen Organisationen kann kaum Hilfe erhofft werden. Während die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) bei ihrer Gründung eine große Hoffnung darstellte, ist sie heute durch die wirtschaftliche Ubermacht der USA, die mehrheitlich autoritären Mitgliedsstaaten mit deutlich diktarori-schen Zügen und durch Einflüsse der transnationalen Unternehmungen zweifelhaft geworden.

Der frühere Präsident Ecuadors, Galo Plazo Lasso, erklärte, daß sich auch in den Vereinten Nationen und deren Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) für die Dritte Welt Probleme ergeben würden. Denn alle Länder, die nicht zum Westen oder zum Osten gerechnet werden könnten, würden in einen Topf geworfen und für sie stelle sich der kleinste gemeinsame Nenner als zu wenig dar. So stünde der Lebensstandard der doch teilweise entwik-kelten lateinamerikanischen Länder im deutlichen Gegensatz zur Situation im unterentwickelten Afrika.

Die Rechtsordnung kann für die Staaten von entscheidender Bedeutung sein, sei es als Mittler, als Integrationsfaktor oder als Widerstand gegen ausländische Einflüsse. Allerdings besteht bei allen Überlegungen in Zusammenhang mit dem Recht in der Bevölkerung ein berechtigtes Identifikationsproblem und fehlendes Vertrauen, da - im Unterschied zu Europa - weder eine „immergültige Verfassung“ besteht, noch „das Recht“ die demokratischen Rechte schützt: Außerdem wird es je nach machtpolitischer Lage interpretiert.

So wurde in Brasilien während der Zeit der Militärjunta 1966 bis 1973 jeglicher hoheitlicher Akt als Gesetz bezeichnet, und bis heute blieb zwischen Oberstem Gerichtshof, Kongreß und Exekutive ungeklärt, ob diesen Akten einzeln zu widerrufen ist, was zu großen Problemen bezüglich Botschafter-, Offiziers- und Richterernennungen geführt hat.

Die politische Situation in Lateinamerika ist schlecht und beunruhigend. Positive Akzente können durch die Pendelbewegung, Be-wußtmachung und Modernisierung der sozialen Instrumente, Bildungszuwachs und internationalen Protest gegen die die Bevölkerung unterdrückenden Regierungen gesetzt werden.

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