Vergleichsweise allein

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Darf man den März ’38 mit dem Februar ’22 vergleichen? Ja, denn vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern Ähnliches und Unterschiede benennen.

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Darf man den März ’38 mit dem Februar ’22 vergleichen? Ja, denn vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern Ähnliches und Unterschiede benennen.

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Vier Tage vor dem russischen Angriff rief unser VP-Außenminister im Fernsehen zur Solidarität mit der Ukraine auf, es gehe um den Bruch des Völkerrechts als rote Linie: „Wir haben doch 1938 am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn man alleingelassen wird.“ Anderntags schallte aus allen anderen Parteien Empörung zurück: Das sei „Geschichtsrevisionismus“ und reaktiviere den „Opfermythos“, sogar die FPÖ verlangte seinen Rücktritt. Eine politische Debatte nach dem Reiz-Reaktions-Schema verkennt die historischen Tatsachen: Zweifellos war die Republik Österreich völkerrechtlich das erste Opfer Hitlerʼscher Aggressionspolitik. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht sollte die Abhaltung der von Schuschnigg kurzfristig angesetzten Volksabstimmung über einen Anschluss verhindert werden, deren Ausgang für Österreichs Selbständigkeit damals vorhersehbar war. Der „Opfermythos“ der Nachkriegszeit diente dazu, unter Ausnützung der Annexionsumstände das Bild der Jubelmasse auf dem Heldenplatz und die vielen NS-Mittäter „ostmärkischer“ Herkunft zu verschleiern. Aber darf man den März ’38 mit dem Februar ’22 vergleichen? Ich denke: ja, denn vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern Ähnliches und Unterschiede benennen. Ähnlich ist der Auftritt des narzisstisch gekränkten Diktators, der ein Reich wiedererrichten will und dem die Renitenz des kleineren bzw. schwächeren „Brudervolks“ ein Dorn im Auge ist, der es zunächst wirtschaftlich unter Druck setzt (Tausend-Mark-Sperre), dann verhöhnt, bedroht und schließlich überfällt, nachdem er den Nachbarn (Mussolini) in Abhängigkeit gebracht hat. Die austrofaschistische Regierung war aber nicht demokratisch legitimiert, und sie hat auf militärischen Widerstand verzichtet. Nicht zuletzt wohl auch, weil die Großmächte damals Appeasement-gemäß stillhielten und im Völkerbund allein Mexiko gegen den Rechtsbruch protestierte.

Die Autorin ist Germanistin und Literaturkritikerin.

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