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Gewinner des Kalten Krieges

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"Jetzt ist Gorbatschow am Zug." Schon wieder? ist man geneigt zu fragen. Der frohlockende, die Scheinwerf er beinahe überstrahlende deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl hat aber etwas anderes gemeint als neue Abrüstimgsinitiati-ven des Kreml-Chefs (die bei sei-

nem bevorstehenden Besuch in der Bimdesrepubük zweifellos kommen werden),als er vor den TV-Kameras am Dienstagabend immittelbar nach dem Gala-Diner in Bonn zu Ehren des Staatsgastes George Bush über dessen Abrüstungsofferte sprach. Der US-Präsident hatte ja den NATO-Krisen-Gebxirtstagsgipfelin Brüssel mit einem diplomatisch wohl durchdachten Abrüstungsvorschlag souverän über die Weltbühne gebracht.

Das Aufatmen im Westen nach Bushs Initiative, die in West- und Osteuropa stationierten amerikanischen undsowjetischenTruppenaiif je 275.000 Mann zu senken imd Kampfflugzeuge sowie -Hubschrauber atif ein Niveau von 15 Prozent unter dem derzeitigen NATO-Stand abziirüsten, war allseits hörbar. Substantiell neu an diesem Vorschlag ist die Erweiterung der von der NATO bisher bei den Wiener Verhandlimgen über konventionelle Abrüstung (VKSE) angewandten Abrüstungskategorien Panzer, Artillerie imd Schützenpanzer um Kampfflugzeuge, Hubschrauber imd Truppenstärken.

Parallele Verhandlungen über Kurzstreckenraketen, gar eine sogenannte dritte Null-Lösung - Herzensanliegen der Russen, dem die deutsche Außenpolitik mehr als nur Sympathie entgegenbringt md deswegen auch die NATO-Krise auslöste - wird es aber nicht geben. Erst nach einem Erfolg auf konventionellem Gebiet,auf dem die Russen überlegen sind, will Bush über die taktisdien Nuklearwaffen reden.

Was ist so "genial", so "revolutionär" an Bushs Manöver in Brüssel, wie die Kommentatoren im Westen schreiben, die so lange auf eine dem Gorbatschowschen Abrüstimgs-ideenf euerwerk entsprechende US-Antwort warten mußten? Erstens können sich jetzt alle Konfliktpartner als Sieger fühlen, zweitens hat der Präsident tatsächlich atmosphärisch wie inhaltlich viel für die Wiener Verhandlungen getaii.

Die USA waren erfolgreich im Beharren auf der Modernisierung der Lance-Kurzstreckenraketen in Deutschland. Die Bundesrepublik kann darauf verweisen, "b^dige" Kurzstreckenraketenverhandlim-gen durchgesetzt zu haben; schließlich sollen sie - möglicherweise biimen Jahresfrist - nach einem VKSE-Abschluß kommen. Maggie Thatcher darf mit den USA ob der erneut festgeschriebenen nuklearen Option der NATO jubeln. Die NATO-Krise um die Modernisierung der Lance ist vorläufig beigelegt. Und die Sowjets können behaupten, Bush habe von ihnen gelernt.

Aber es geht im sich verändernden Europa um mehr als um ein paar Raketen. Was über Gorbatschows Angebote - zum Teil einseitige Abrüstungsvorleistimgen, von denen im Westen keine Rede sein Trann - gesagt Wird, daß sie erst realisiert werden müssen, gilt gleicherweise für Bushs Offerte. An der grundsätzlichenNATO-Doktrinder abgestuften Abschreckung hat sich nichts geändert. Militärische Stärke, Drohung und taktischer,das heißt auf Europa beschränlrter Atomkrieg bleiben Grundbestandteile der NATO-Doktrin.

Hatman also vorschnell vomEnde des Kalten Krieges gesprochen? Besteht überhai^>t in NATO-Kreisen Interesse an seinem Ende? Heute muß es doch darum gehen, daß Europa als Gewinner des Kalten Krieges aussteigt. Wie lange wird der zerrissene Kontinent - vmd Deutschland als dessen Realsymbol - noch darauf warten müssen?

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