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Phantasien einer Justiz

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Die Staatsanwälte in Prag und Warschau veranstalten winterliche Treibjagden auf politisches Freiwild, auf „westliche Spione“ und „Verschwörer“. Die zwei spektakulärsten Prozesse sollten nicht unerwähnt bleiben, denn bald werden neue Opfer der Spionagejustiz vor Parteirichter gestellt werden.

Der Prager Städtische Gerichtshof hat den bekannten Journalisten Ar-nost Prazak (bürgerlicher Name: Ar-nost Vrajik) zu zehn Jahren Gefängnis sub titulo Spionage und Verletzung der Währungsvorschriften verurteilt. Um dem Fall das notwendige Gewicht zu verleihen, wurde der Fall vom militärischen Sicherheitsexperten, Generalleutnant Jifi Hecko, in der Rüde Pravo erörtert.

Prazak-Vrajik, 52, wurde als ein „Opportunist des Prager Frühlings“ von 1968 apostrophiert, der damals die einmalige Gelegenheit wahrnahm und alle Arten von „klassifizierten Informationen“ an westliche Diplomaten und Journalisten verkauft haben soll. Die US-Botschaft war angeblich sein Hauptabnehmer. Ein willkommener Anlaß, einen amerikanischen Diplomaten zur persona non grata zu erklären und auszuweisen. Die Warenliste des verurteilten Journalisten umfaßte angeblich eine reiche Auswahl: verschlüsselte Dispositionen des Verteidigungsministeriums, Daten über Bewegungen und Dislozierung „sowjetischer Befreiungstruppen“ in der CSSR, Informationen über tschechoslowakische Militärmanöver, Informationen aus dem Außenministerium über die Resultate von Verhandlungen im Ausland usw.

Generalleutnant Heöko bezeichnete diese Informationen als meist sehr wichtig und wertvoll. Wie wertvoll in ausländischer Währung? Laut Anklage soll Prazak-Vrajik 28.000 DM zwischen dem Sommer 1968 und dem Herbst 1970 dafür erhalten haben. Anläßlich seiner Verhaftung, deren Datum diskret verschwiegen wurde, haben die Sicherheitsorgane angeblich 4050 DM und mehr als 1000 US-Dollar in seiner Wohnung gefunden, wobei nicht • übersehen werden darf, daß in einem kommunistischen Einparteienstaat die Detektive bei jedem finden können, was sie wollen.

Die Anklage gegen Prazak-Vrajik wurde auf Grund des Paragraphen 105 des Strafgesetzes von 1961 erhoben, wonach für Spionage die Todesstrafe oder Gefängnis von zehn bis fünfzehn Jahren verhängt werden kann. Der Prozeß wurde geheim geführt und sein Ziel war es offensichtlich, die Bevölkerung vor der Kontaktnahme mit westlichen Aus- ' ländern abzuschrecken. Nebenbei sollten die Sicherheitsorgane zur „höheren Wachsamkeit beim Schutz von Staatsgeheimnissen“ aufgefordert werden.

Nachdem die „große Spionagegefahr“ am Fall Prazak „bewiesen“ wurde, hat die Föderative Versammlung kürzlich neue Sicherheitsmaßnahmen angeordnet. Das schwere Urteil soll eine unmißverständliche Warnung für alle Leute sein, die nach dem Westen schielen.

Das Warschauer Woiwodschafts-Gericht hat sechs Personen zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt: Andrej Czuma und Stefan Myszkiewicz-Niesiolowski zu je sieben Jahren; Benedikt Czuma zu sechs Jahren; Marian Golobiowski und Boleslaw Stolarz zu je vier Jahren und sechs Monaten, Emil Norgie-wicz zu vier Jahren. Sie alle haben auch ihre bürgerlichen Rechte verloren. Ihr Sündenregister enthält unzählige Vergehen und Verletzungen der Paragraphen des Strafgesetzbuches, von „staatsfeindlichen Taten“ bis hin zur „Verschwörung“.

Die Gerichtsverhandlungen begannen am 21. September des Vorjahres. Das ganze Verfahren lief hinter hermetisch verschlossenen Türen ab. Nur ein paar auserwählte Parteifunktionäre und Sicherheitsbeamte durften ihm mit Sondergenehmigungen beiwohnen.

Wer sind diese bedauernswerten Opfer der polnischen Verschwörungshysterie? Andrej Czuma, 33, war Eisenbahnbeamter; Myszkiewicz-Niesiolowski, 31, arbeitete als Assistent am Lehrstuhl für Biologie auf der Universität zu Lodz. Gemeinsam sollen sie alle der „illegalen Vereinigung Ruch“ angehört haben. Ein erster Ruch-Prozeß fand bereits im Juli 1971 statt, in dem jeoch die Angeklagten viel mildere urteile erhielten.

Laut Radio Warschau war der trund für die plötzliche Härte darin n suchen, daß diesmal die „Füh-jngsgruppe der Ruch-Verbindung“ bgeurteilt wurde. Die früheren Ver-rteilten seien nur simple Mitglieder ewesen. Jedenfalls sind die jetzigen trafen schwerer als jene, die seit

1968 üblich waren und die später, entsprechend der Amnestie vom Juli 1969, herabgesetzt wurden.

In der CSSR und in Polen ist eine nicht erlahmende, permanente „Säuberung“ im Gange. Zahlreiche Personen, die nicht „prominent“ sind, werden laufend auf dem kalten Wege der „administrativen Maßnahmen“ oder mit Hilfe von Gerichtsprozessen von ihren Posten enthoben und „aus dem Verkehr gezogen“, andere warten noch bei den Sicherheitsorganen und in Untersuchungsgefängnissen auf ihre Aburteilung, ganz abgesehen von den vielen, die nicht wichtig genug sind, um ihnen den Prozeß zu machen, und die deshalb einfach in ein Arbeitslager gesteckt worden sind. Die Möglichkeiten einer an Phantasie reichen Parteijustiz sind unerschöpflich.

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