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Digital In Arbeit

Plexiglasscheibe oder Das Fremde im Bild

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Geständnis 1:

Zwingt mich das Unsägliche meines hauptsächlichen Arbeitsplatzes in akute Weltentsagungssehnsüchte, so schleppe ich mich neuerdings - seit dessen Begehbarkeit - ins neue Wiener Allgemeine Krankenhaus, lustwandle in demselben eine Weile, gebe mich sozusagen einem psychotherapeutischen Spaziergang hin und gehe nach längstens einer Stunde, gewiß aus der Depression gehoben, von dannen, froh, diesen Brutofen aller Teufel zu verlassen, und mit heiterem inneren Blick auf mein wunderbar vollkommenheitsfeindliches Kaiser-Franz-Joseph-Spital mit seinen Platanen, Eichhörnchen, gatschigen Fußwegen und seinen unzähligen Fenstern, ob dicht oder undicht.

Geständnis 2:

Durch eine Baustelle, die mich das gesamte letzte Jahr über erbarmungslos in ihren stählernen Klauen gehalten hat, bin ich notgedrungen zum Kreuzschlitzschraubenexperten geworden. Von der fünfunddreißig Millimeter langen Gipskartonbefestigungsschraube über die fünfundfünfzig Millimeter lange Preßspanplattenschraube bis zur einundzwanzig Zentimeter langen Balken verbin-dungsschraube, übrigens wahrhaftig ein Mordinstrument, kenne ich sie alle. Nicht zuletzt auf Grund des Ausgleiches jener - ursprünglich sprach ich von „meiner” - Innenausbaufirma und des nachfolgenden, monatelangen Kreuzschlitzschraubenstillstandes, der letztlich nur durch die Anschaffung eines 9,6 Volt-Akku-Bohrschraubers meinerseits durchbrochen werden konnte, habe ich eine reichlich problematische Beziehung zu Kreuzschlitzschrauben entwickelt; das heißt, sie, die anfangs gänzlich fremden und darob gefürchteten, wurden mir vertraut, vertrauter, allzu vertraut; ja, ich bekenne: manchmal hasse ich sie.

Geständnis 3:

Sehr im geheimen - ein Freund sagte mir, dies sei bezeichnend für mich und das Klima hierzulande -habe ich mich mit der Theorie des Kunstwerkes auseinandergesetzt, mit der Ästhetisierung der Kunst Hand in Hand mit der Entzauberung der Welt, mit der Zeigbarkeit des Häßlichen und der Nichtmehrzeigbarkeit des Schönen, mit der Auferstehung des Verdrängten im schöpferischen Akt, mit dem inneren Museum als privatem Pandämonium des Unbewußten. Dies alles hat rein gar nichts gefruchtet: Gewisse Bilder gefallen mir, obwohl ich sie, sobald ich anfange, über sie nachzudenken, nichtssagend, abscheulich, geradezu ekelhaft finde, und gewisse Bilder finde ich nichtssagend, abscheulich, geradezu ekelerregend, obwohl sich, sosehr ich auch über sie nachdenke, nichts gegen sie einwenden läßt.

Nachdem ich solchermaßen dem Zeitgeist, welchem zufolge das Geständnis zunehmend die einzig mögliche Form wird, etwas auszusagen, meinen Wegzoll entrichtet habe, sei es gestattet, eine kleine Reisebeschreibung folgen zu lassen, gewissermaßen einen Erbauungsspaziergangsbericht:

Die U6, dieses Bastardl, diese We-der-U-noch-Straßenbahn, bringt mich zur Station Michelbeuern, ein Name, der eine bayrische Benediktinerabtei erwarten läßt, der freilich in Wahrheit zwei Türme ganz anderer Dimension euphemistisch verbirgt, eigenartige Exkremente der Verstopfung eines Wesens, von dem man sagt, es seien ihm die Hämorrhoidalknoten bereits operativ entfernt worden. Wie hin-g'schissn! sagte letzten Sommer ein einigermaßen bekannter älterer Herr Burgschauspieler, vom Nebentisch im Cobenzlcafe die Skyline Wiens betrachtend. Ich weiß nicht wirklich einen anderen Weg, sich sprachlich

über die Angelegenheit insgesamt herzumachen. Vielleicht hätte es einen Karl Kraus reizen können, die Pathophysiologie klarzulegen, die es ermöglicht, Würfel zu scheißen.

Sei's wie es sei, ich bewege mich irgendwie kriechend - dieser Art der Selbstwahrnehmung kann sich an diesem Ort wohl niemand entziehen -hinein in dieses Gebräu, diesen Atem einer gigantischen Klimaanlage. Nachdem ich mich durch den ersten Anfall von Angst, auf der Stelle verlorenzugehen (wem?), ich weiß nicht wie durchgerettet habe, vollführe ich im breiten Strom der Menschen zaghaft einige Tempi und steuere also gewissermaßen schwimmend das Ufer an, will heißen eine Wand. Ich finde mich wieder vor dem ersten Bild: „Code” von Franz Unzeitig. Das Bild kenne ich, das heißt, ich glaubte es zu kennen, von einem meiner letzten Selbstermunterungsspaziergänge. Es ist dasselbe Brki, aber es ist „dahinter” dasselbe Bild, man steht nicht mehr wirklich davor, _ sondern wird durch eine Plexiglasscheibe vor dem unmittelbaren Zugriff des Bildes bewahrt-oder umgekehrt.

Eben diese Plexiglasscheibe wird durch eine erkleckliche Anzahl (bei Unzeitig habe ich sie noch nicht gezählt) von Kreuzschlitzschrauben nicht an der Wand, sondern direkt am Bild gehalten. Die Kreuzschlitzschraubenköpfe wurden - vielleicht von einer Schulklasse im Rahmen der Bildnerischen Erziehung -fein säuberlich in der Farbe des jeweils durchbohrten Bildausschnittes bepinselt. - „... da ist ein Loch in der Wand...” heißt es unheilsprophetisch in Unzeitigs Text zu seinem Bild; - „schön wär's”, ist man versucht zu ergänzen, und: „da sind viele Löcher im Bild”.

Plexiglasbewahrung

Voll von erwachter Neugier schwimme ich im weniger turbulenten Menschenmassenrandstrom die Wand entlang und stoße auf Maria Theresia Litschauers Fotoinstallation „Landschaft und Architektur”. Eines der drei Diptychen wird in Hüfthöhe von einem Kratzer durchzogen. Schlüssel? Münze? Injektionsnadel? frage ich mich und versuche mir die Wahrnehmungsverwachsungen eines Menschen vorzustellen, der diese Bilder mit einem Auto verwechselt. Jedenfalls sind beide, Bilder und Kratzer, nunmehr durch Plexiglasscheiben vor weiterer mechanischer Veränderung geschützt, wobei in diesem Fall - mit dem Kratzer ist dem Be-

Schädigungsgebot offenbar Genüge getan - die Kreuzschlitzschrauben bloß in die Rahmen gedreht wurden.

(K)ein Interview

Nachdem ich mich an Peter Atana-sovs Spruch zum Bild: „Der Weg des Herzens ist die Wahrheit, aber es gibt auch andere” ergötzt habe, werde ich eines bewegungslos dastehenden Wachgesellschaftssicherheitsorganes ansichtig und sehe mich genötigt zu Interview I: Autor: Herr Wachmann? Sicherheitsorgan: Sind Sie von der Zeitung? Autor: (mehr oder minder lügend): Nein. Sicherheitsorgan (mehr oder minder enttäuscht): Ham's was verloren? Autor: Nein. Sicherheitsorgan: Na, was wollen's dann? Autor: Ich hätte eine Frage zu den Bildern. Sicherheitsorgan: Zu welchen Bildern? Autor: (auf Bilder deutend): Zu diesen Bildern. Sicherheitsorgan: Aha, Sie meinen: zu diesen sogenannten Bildern. Autor: Genau! - Haben Sie jemals beobachtet, wie jemand eines dieser sogenannten Bilder beschädigt hat? Sicherheitsorgan (empört): Erstens: wissen Sie, wieviele Leute hier vorbeikommen? Autor: (blickt sich um): Ich seh's. Sicherheitsorgan: Na also! Autor: Und zweitens? Sicherheitsorgan (leise, geradezu vertraulich): Und zweitens: bei manchen Bildern ... nicht bei allen, wirklich nicht bei allen!... bei manchen dieser sogenannten Bilder... Sie verstehen? Autor (verstehend):... möchte man geradezu selbst... Sicherheitsorgan (strahlend). Ich seh', Sie sind wirklich nicht von der Zeitung. Autor: Ich danke Ihnen für das Interview.

Auf diese Weise erbaut und entängstigt ströme ich mit, lasse mich von einer durchschraubten Leinwand zur nächsten treiben, lande vor den Arbeiten von Wolfgang Hollegha und Dieter Kleinpeter. Vor dem Format derselben mußte der Plexiglashersteller aueenscheinlich kapitulieren, so daß die Schutzvorrichtungsmonteure jeweils zwei Scheiben übereinander, eine für die obere, eine für die untere Hälfte, vors Bild schraubten, was eine nette horizontale Trennlinie erzeugt, wo sie nicht hingehört. - „Bild, zerschnitten” gewissermaßen. Mit der Arbeit von Hannes Mlenke, die noch in der schutzlosen Ära durch einige Bleistiftkringel, ein grünes Faserschreibergesicht und eine (hierzulande unvermeidliche) dreibuchstabige, ein weibliches Genitalorgan bezeichnende Aufschrift ergänzt wurde, verfuhr man genauso, nur daß die horizontale Trennfuge noch mit einem Ti-xostreifen überklebt wurde. - „Bild, zerschnitten und wieder zusammengefügt” gewissermaßen.

In Gedanken über die Ästhetisierung der Alltags welt parallel zur Entzauberung der Kunst wechsle ich per Lift das Geschoß und gerate wenige Schritte nach dem Aussteigen wie durch eine himmlische Fügung in einen Plexiglasscheibenmontagetrupp, dessen Chef in Überwachung seiner Mitarbeiter bewegunglos dasteht, geradezu heischend nach Interview II:

Autor: Herr Chef? Chef: Sind Sie von der Zeitung? Autor: (mehr oder minder lügend): Nein. Chef: Sie sehen, daß wir arbeiten! Autor: Darum geht's! Chef: Sind Sie vom Arbeitsin-spektorat? Autor: Nein. Chef: Paßt Ihnen etwas nicht? Autor: Ja. Chef: Was heißt: Ja? Autor: Ja, mir paßt etwas nicht! Chef: Mit welchem Recht paßt Ihnen etwas nicht? (pflanzt sich auf) Wer sind Sie denn überhaupt? Autor (lügend): Ich bin ein Künstler. Chef: Was für einer? Autor: Ein durchgeschraubter. Chef: Was heißt das? Autor: (phantasierend in einer Art Extrapolation): Vierzehn Kreuzschlitzschrauben haben Sie durch meine Leinwand gebohrt. Chef: Das muß schon lange her sein. Autor: Was heißt das? Chef: Seit vier Wochen schrauben wir nur noch in die Rahmen. Autor: Da hab' ich was davon! Chef: Andere haben sich früher aufgeregt. Autor: Wer? Chef: Zwei, drei von Ihren Kollegen. Autor: (ungläubig): Zwei, drei? Chef: Jawohl. Wir arbeiten exakt nach Arbeitsauftrag! Autor: Wer gibt Ihnen den Arbeitsauftrag? Chef: Die VAMED. Autor: Verstehen Sie, daß man sich aufregt? Chef: Aus Ihrer Sicht: ja, andererseits... Autor: Andererseits? Chef: Wenn ich mir ein Bild kauf, dann gehört' s mir, und da redet mir keiner was drein. Autor: Drehen Sie Schrauben durch Ihre Bilder? Chef: Die Bilder gehören der VAMED, die VAMED bestimmt! Autor: Wissen Sie, wer die Bilder bezahlt hat? - Sie! Chef: Was heißt das: Ich? Autor: Sie, Herr Steuerzahler. - Insgesamt mehr als fünfzig Millionen

Schilling. Chef:.........Autor: Danke für das Interview!

36 Kreuzschlitzschrauben

Glücklich, den Chef sprachlos zurückgelassen zu haben, streife ich durch die Ebenen und Gänge, halte schließlich letzte Andacht vor einem Tryptichon von Markus Prachensky. In bemerkenswert lokalempathischer Weise wurde die Malerei mittels Blutschlieren (Kreissägenverletzung? Schußwunde? Hackebeilchenhieb?) vervollständigt. Darüber wurden durch die Plexiglasscheibe hindurch jeweils zwölf, also insgesamt 36 Kreuzschlitzschrauben ins Bild gesetzt.- Welche Dimension sie wohl haben? Ich habe vergessen zu fragen.

In freier Luft wird mein Kopf glücklicherweise bald klar genug für einige grundsätzliche Überlegungen:

□ Auf das Unbewußte ist Verlaß wie auf den Straßenbahnkontrollor: es schlägt erbarmungslos zu, wo man es am wenigsten erwartet, das heißt, es schlägt auch und besonders hier in Österreich erbarmungslos zu.

□ Es ist bemerkenswert, daß mit Hilfe von Untersuchungen in Wien, genauer, in der ehemaligen Wiener Kin-derübernahmsstelle, durch Rene Spitz das Fremdeln, das heißt die Reaktion von Angst und Ablehnung des Kleinkindes auf das Fremde, Unvertraute, erstmals detailliert beschrieben und wissenschaftlich untersucht wurde. Auch Margret Mahler, die amerikanische Kinderpsychoanalytikerin, der wir die brillantesten Untersuchungen über die Entstehung von Selbst und Nicht-Selbst, von Innen und Außen, von Vertrautem und Fremdem verdanken, stammt aus Wien.

□ Es ist ebenso bemerkenswert, daß sich hierzulande das Repertoire des Umganges mit dem Fremden, und das ist gleichbedeutend mit dem Gefühl der Angst vor dem Fremden, also gleichbedeutend mit dem Fremdeln, auf zwei Möglichkeiten beschränkt: Die gängigere, weniger auffällige und sanftere Variante ist, sich selbst von seiner Angst los- und dem Fremden seinen Anspruch, ein Eigenes zu bleiben, abzukaufen. Ich bezahle, du assimilierst dich, und ich kann wieder ruhig schlafen. Die zweite Variante besteht darin, es sich immer wieder mit dem gleichen Fremden anzulegen, sich damit dieses immer gleiche Fremde - und die Angst davor -mit der Zeit vertraut werden zu lassen. Immer war ich gegen dich, immer hab' ich mich ein wenig gefürchtet, immer hab' ich dich ein wenig gehaßt, - warum sollte es diesmal anders sein?

□ Versucht man nun, eines dieser traditionell Fremden, die moderne Kunst, nach Variante eins gefügig und damit das eigene Unwohlsein den „sogenannten” Bildern gegenüber flüchtig zu machen, so schlägt, wie gesagt, zuverlässig das Unbewußte - auch die öffentliche Hand hat eines - zu: nicht in Gestalt eines Straßenbahn-kontrollors, sondern eines Plexiglasscheibenmonteurs, der fremdelnd Kreuzschlitzschrauben in Leinwände dreht. Damit ist sichergestellt, daß dieses Fremde die Zähmung verweigert und unvertraut bleibt. Ist das nicht beruhigend?

Von Sharif Sophieh

Protest in diesem wien wo ich lebe höre ich stets nur Vorurteile gegen mich und die ausländer das ist eine alte tradition ein erbe aus vergangener zeit ein bestandteil dieser kultur für mich schmerzvolle gegenwart es wird viel von freiheit geredet in den zeitungeirim radio im fernsehen in der gewerkschaft und im parlament in kunst und Wissenschaft in politik bei jedem anlaß bei passender gelegenheit doch ich hab keine stimme hab kein recht zu sagen was ich denke was ich meine wenn wir von freiheit sprechen heute jetzt man schiebt mich immer nur beiseite sagt du hast kein recht von freiheit uns zu sprechen komm später wieder komm ein andermal am besten nie - so denken sie ich fühle die gefahr in dieser zeit in diesem niemandsland in diesem Vakuum von gestrigem faschismus von heutigem rassismus in der man zwar von freiheit spricht und freiheit propagiert doch sie nicht zugesteht dem der sie fordert der sie braucht zum leben ich hab ihn satt den höhn den spott auf mich ich protestiere gegen jede unrechtspolitik die weiter meine stimme unterdrückt die mich von recht und freiheit ausschließt die mich in isolation ins abseits drängt ich protestiere gegen dieses umecht. Sharif Sophieh wurde 1959 in Garus. iranisch Kurdistan, geboren; ab 1977 studierte er Physik an der Universität Teheran. Seit 1981 im Exil in Österreich. Heute Lyriker und Wissenschaftspublizist. Nachdichtung von Peter Paul Wiplinger

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