Militärhistoriker Martin Levi van Creveld: „Netanjahu ist ein Opportunist“
Der israelische Militärhistoriker und Pentagon-Berater Martin Levi van Creveld über Sharons verfehlte „Hamas-Politik“, den explosiven Mix aus Religion und Nationalismus sowie Ägyptens Rolle.
Der israelische Militärhistoriker und Pentagon-Berater Martin Levi van Creveld über Sharons verfehlte „Hamas-Politik“, den explosiven Mix aus Religion und Nationalismus sowie Ägyptens Rolle.
Einst ging die israelische Regierung davon aus, dass die Hamas ihren Fokus auf Glauben, Bildung und Wohltätigkeit legen würde – und pushte sie so sogar, sagt der israelische Militärhistoriker Martin Levi van Creveld. Ein Trugschluss, wie er im Interview mit der FURCHE ausführt. Zudem erklärt er, warum er die Anarchie, die sich aktuell in Gaza Bahn bricht, für die bedenklichste Entwicklung hält, sich seine Haltung zum militärischen Vorgehen Israels in den vergangenen Jahren gründlich verändert hat und weshalb Benjamin Netanjahu mitunter verschweigt, dass er säkular sozialisiert wurde.
DIE FURCHE: Israels Militär gibt als Hauptziel im Gazakrieg an, die Strukturen der Hamas zerschlagen zu wollen. Wie konnte es eigentlich so weit kommen, dass die Hamas zur führenden politischen Kraft in Gaza geworden ist?
Martin Levi van Creveld: Die Hamas ist eine islamische Bewegung mit tiefen Wurzeln in der arabischen Geschichte, insbesondere in Ägypten mit seiner Muslimbruderschaft. Der Aufstieg der Hamas lässt sich auf die späten 1970er und frühen 1980er Jahren datieren. Damals war Ariel Sharon unter Premierminister Menachem Begin Verteidigungsminister von Israel. Es galt, der wachsenden Macht von Jassir Arafats palästinensischer Befreiungsbewegung und der Ersten Palästinensischen Intifada (Arabisch für „Abschütteln“) entgegenzuwirken.
Aus Sharons Sicht und der seiner Berater bestand der beste Weg darin, eine Bewegung, die religiöser veranlagt und – davon ging man damals aus – gemäßigter ist, in der südlichen, armen und rückständigen Hälfte des Westjordanlandes zu ermutigen, sich mehr einzubringen. Die Hoffnung war, dass diese Bewegung ihren Fokus auf Gebet, Bildung und Wohltätigkeit legt und nicht auf antiisraelischen Terrorismus.
Ein Trugschluss. Anstatt gemäßigter als die PLO zu werden, wurde die Hamas noch radikaler. Sie lehnte jeden Frieden mit Israel prinzipiell ab. Israel bemühte sich daraufhin rasch, die Bewegung wieder zu unterdrücken, einschließlich der „gezielten Tötung“ ihres ersten Anführers, Scheich Ahmed Yassin, und seines Nachfolgers Abdel Aziz al-Rantissi – doch das erwies sich als erfolglos. Im Gegenteil: Die Macht der Hamas breitete sich im Gazastreifen aus. Im Jahr 2006 führte die Hamas sogar einen Putsch durch, bei dem einige der PLO-Funktionäre im Gazastreifen getötet und der Rest vertrieben wurden.
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