Im Diogenes-Verlag, Zürich, ist ein von Paul Flora illustriertes Bändchen mit ausgewählten Essays von Sigismund von Radecki über Lesen, Schreiben, Drucken und verwandte Dinge erschienen. In den Vorläufern der Literarischen Blätter der „Furche", dem „Krystall“, hat Sigismund von Radecki, den Reinhold Schneider einmal den „Grand old man“ des deutschen Essays nannte, zahlreiche Beiträge veröffentlicht.Das hört man fast so häufig wie „Haben Sie Feuer?“ Mein Gott, was man alles muß. Steht man aber im Gerüche eines Literaten, dann geht es erst recht an: „Kennen Sie dies?
Ein Vorfahre von ihm war 1570 Kanzler des Herzogs von Teschen; dagegen waren seine mütterlichen Vorfahren Bürgermeister der kleinen Hansestadt Wolgast. Da das Quellgebiet der Oder bei Teschen liegt, Wolgast jedoch vor deren Mündung, so kann man Radecki mit Fug als einen Oder- Menschen bezeichnen. Dies äußert sich darin, daß er fast allem, was behauptet wird, sein Oder entgegensetzt, meist sogar sein „Oder auch nicht…“, wodurch er in den Ruf eines streitlustigen Menschen geraten ist. Geboren wurde er in Riga am Totlebenboulevard; das Hintergäßchen des Hauses hieß „Der
Das meistzitierte Beispiel für den welthistorischen Zufall lautete: „Wäre die Nase der Kleopatra ein wenig länger gewesen, so hätte die Weltgeschichte eine andere Wendung genommen.“ Doch warum die Nase und warum gerade Kleopatra? In Wirklichkeit besteht die vergessene Pointe darin, daß Kleopatra — wie ihre Porträtskulptur zeigt — schon sowieso eine recht lange Nase hatte, so daß die Distanz vom Erhabenen zum Lächerlichen nicht sehr groß war. Sie, die Nase, stand bereits an der Grenze, wo es gefährlich wurde und sie wäre ungefährlich gewbrden. Eben dieses Beinah hat jenes
Für midi haben Kugeln etwas Faszinierendes. Zur vergangenen Weihnachtszeit hingen sie überall in den Schaufenstern — goldene, silberne, grüne, blaue und rote. Sie nahmen die Welt krummgespiegelt in sich herein und blieben unangreifbar als die vollkommensten aller Figuren. Man hat bei ihrem Anblick ein Gefühl, das man vor allem Schicksalsmäßigen empfindet, wie vor Licht und Dunkel, vor Geburt und Tod. Denn die Kugel ist unser Schicksal, weil wir ja auf einer leben — von ihrer Drehung, welche Tag und Nacht, von ihrer Schiefstellung, welche die Jahreszeiten macht. Fast komisch: kaum
Ich finde folgenden Passus in der Gedenkrede auf einen Schauspieler:„Aber am Anfang dieser via triumphans, am Beginn seiner Laufbahn steht eine Szene, in der mir heute die Summe seiner vielfältigen Existenz enthalten scheint. Der Schauplatz dieser Szene ist Max Reinhardts Wohnung am Kupfergraben. N. N. war auf gefordert, dem großen Theatermann vorzusprechen... Nachdem er ihm eine Reihe von Rollen... bittet der Professor ihn, eine Stelle aus ,Jedermann“ vorzutragen. Diese Textstelle ist das Vaterunser. ,Ich stellte mich in eine Ecke“, erzählt N. N. in seiner Autobiographie, die er ,Das
Es gibt zwei Arten von Bücherkäufern. Solche, die neue, und solche, die alte Bücher kaufen.Der erste kauft Bücher, weil sie neu sind, oder weil er hofft, daß es jetzt gerade viele Genies gibt. Er will mit der Zeit Schritt halten, bzw. sie sich vertreiben. Seine Bücher haben wunderbar frische und glänzende Umschläge. Er muß sich auf Waschzettel, Bauchbinden, Kritiken, Empfehlungen des Verkäufers oder, das Schlimmste, sich selbst verlassen.Der andere kauft alte Bücher. Doch er ist eigentlich kein Käufer, sondern ein Jäger. In ihm erwacht ein schlummernder Urtrieb, denn alle waren
Der Film, diese neue, kraftvolle Kunst, hat eine basische Grausamkeit, welche schon darin besteht, daß er die Zeit anhält und sie nach Belieben wiederauferstehen läßt. Er tut das, wofür Faust bereit ist, sich verdammen zu lassen: er spricht zum Augenblick „Verweile doch!“ und macht aus Millionen aneinandergereihter Medusenblicke blühendes Leben. Schon stofflich lehrt der Film Gewalttat; ich hatte zum Beispiel nicht gewußt, daß man Ohrfeigen nicht nur mit der inneren Handfläche, sondern auch mit dem Handrücken gibt: pitsch, patsch! das geht hin und retour, das sind amerikanische
Der unseren Lesern gut bekannte Autor feiert am 19. November seinen 70. Geburtstag.Als der zweistöckige Autobus uns wie ein stürmender Turm an das Gebäude herantrug, befiel mich wieder jener geheimnisvolle Schauer. Nicht, daß er etwa von der Architektur ausging, nein, nicht diese mühsamen Caracallathermen, sondern ihr Inhalt war es, der mich schauem machte. Er war so phantastisch, daß ihn der Gedanke auch in der schlaflosesten Nacht nicht erreichen konnte, sondern wie eine hochfahrende Rakete zerplatzend, kraftlos in goldenen Tropfen absank.Denn es war das Haus der Büöher.Scheu schob
Das Einschlafen, auch Einnicken, Einduseln und so weiter genannt, gehört zu den merkwürdigsten Fähigkeiten des Menschen. Man stelle sich vor, daß ein ausgewachsener Industriekapitän, Chauffeur oder Betriebschemiker, der soeben noch die verzwicktesten Kombinationen von zwei mal zwei ist vier gelöst hat, sich plötzlich auf die Seite legt, aufseufzt, um zusehends den Aspekt eines schnarchenden Sackes Kartoffeln zu gewinnen — man stelle sich das vor, und man wird zugeben, daß hiermit die phantastischesten Stellen eines Mondromans überboten sind. Es wäre anzunehmen, daß hier ein
Wie es in der Geologie Leitfossilien gibt, die uns anzeigen, mit welcher Erdschicht wir es zu tun haben, so gibt es auch in der Sprache Ausdrücke, die untrüglich signalisieren, welcher Kulturschicht der Sprechende angehört. Auf den Einwand: „Was kann der Mensch dafür?“ antwortet man am besten mit der Maxime des Augustinus, daß wir zwar den Sünder lieben, aber die Sünde hassen sollen; und das gelte eben auch für die Sprachsünden. Doch nur keine Pedanterie W'iwfe frei v*n deV>fiebi*fcg,1äwte-wohl man dich eben darum bis. auf die Nieten prüfen kann.Eines der hervorragendsten
Unserem technischen Zeitalter entsprechend, spielt das Telephon in Theater und Film immer größere Rollen. Wie schwer war es einst zu begründen, warum eine Person auf die Bühne trat— heute ruft sie per Telephon an, meinetwegen aus Australienijujd karra.se jlieijHapdlung vorwärtstreiben.. Durch das Telephon- steht die ganze Menschheit zum Mitspielen bereit.Ein Bahnbrecher des dramatischen Telephons war Max Reinhardt, welcher dadurch „moderne Atmosphäre“ schuf, daß er einen Jemand bei aufgehendem Vorhang und abgedunkelter Bühne ins Telephon sieben Minuten lang „Ja — ja — ja—
Kinder staunen; und wir Erwachsene staunen über Kinder, wiewohl wir doch selbst welche gewesen sind. Oder vielmehr, weil wir selbst Kinder gewesen sind, denn sie erinnern uns mit ihrer kleinen Gegenwart stets wieder daran, ein wie vorübergehender Zustand Menschsein eigentlich ist. Kinder stehen noch nahe am Ursprung der Zeit, die für sie ja kaum erst begonnen hat und noch zart geherzt im Schöße der Ewigkeit liegt. Kinder hegen noch Furcht und Zittern vor der Zeit: im Jubel über Kurzweil und in der schrecklichen Angst vor der Langeweile (Ursache allen „Unartigseins“), während sich
Es gibt zwei Grundtypen der Kleidung: Entweder ist sie eine Hängekleidung, die von den Schultern herabhängt, oder eine Stützkleidung, die sich auf Taille und Hüften stützt. Die Hängekleidung betont das Gemeinsame von Mann und Weib, das Allgemeinmenschliche; durch sie kann der Geschlechtsunterschied mitunter völlig überhüllt werden. Priestergewänder sind stets Hängekleidung. Die Stützkleidung aber akzentuiert die Verschiedenheit der Geschlechter, da ja die Taille bei Mann und Weib verschieden ist, was so weit führen kann, daß Männer und Frauen gänzlich anders gekleidet gehen.
Vergiß nie, daß dein Aerger dein Bestes ist, und weise darum alle Begütigungsversuche — auch die eventuellen de”-»s Inneren — als Schwäche und Kompromißlerei ab: am besten derart, daß du gerade sie zum Anlaß eines neuen Aergers nimmst. Denn der Aerger ist darum dein Bestes, weil er dir gleichzeitig zwei wunderbare Gefühle gibt — davon, wie gut du bist, und davon, wie böse die anderen sind. Du allein gut und die ganze Welt schlecht: das gibt dir einen festen Standpunkt und ein schwellendes Selbstbewußtsein, unter dessen Blutdruck du dich eine Weile für mutig und
So sprach ein Weiser: Alles Unheil, alle Sünde in der Welt entsteht dadurch, daß entweder der Zweck zum Mittel erniedrigt oder das Mittel zum Zweck erhoben wird. Betrachte ich als Schriftsteller meine Mittel — „Sintemal denn alles beisammen hier: Feder, Dinte, Toback und Papier" —, so kann meine Sünde darin bestehen, diese Dinge für wichtiger zu halten als den Zweck, nämlich das Geschriebene. Und in der Tat, gerade das ist leider meine Sünde. Es kam leise und von selbst, denn Sünde entsteht ja nur selten in dem dramatischen Entschluß: „Jetzt will ich sündigen!“ — o nein,
Wie ist es nur gekommen, daß dieses Stück Glas aus einem Augenschaden einen unleugbaren gesellschaftlichen Vorzug hat machen können? So daß selbst Menschen, die keineswegs an ungleicher Sehstärke leiden, sich dennoch deren Korrektur ins Auge klemmen? Man könnte das ja so erklären: Das geistigste Organ des Menschen ist das Auge; das bedeutende Auge blitzt; das Monokel nun verstärkt dieses Blitzen, ohne das Antlitz durch die Apparatur einer Brille zu entstellen. Aber die Erklärung taugt nichts, weil nach ihr ein Gesicht mit zwei Monokeln mindestens die gleiche faszinierende Wirkung
Das Komische in der Architektur besteht darin, daß die Häuser hartnäckig stehenbleiben. Ein schwaches Gedicht, eine verpatzte Sonate werden vergessen, ein gemalter Schinken kommt in die Rumpelkammer, aber so ein Schmarren von einem Haus steht seine guten hundert Jahre, wobei Tausende es täglich anschauen müssen. Dichter, Musiker, Maler können sagen: „Ein Jugendwerk. Beachten Sie das nicht, damals war ich noch unreif “ Aber was hilft es uns, daß der Architekt damals noch unreif war — desKalb bleibt sein Haus doch nicht weniger dauerhaft stehen als ein Palazzo Pitti. Dabei fallen
Der Reiseteufel zitterte, als er vor seinen Vorgesetzten geführt wurde. Auch in der Hölle gibt es Säuberungen.Der Vorgesetzte begann falsch-freundlich: „Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“ und fuhr sodann strenger fort: „Wir hatten Ihnen die Abteilung Reisen zur Bearbeitung übergeben. Was Sie dort seit einigen Jahrtausenden zuwege gebracht haben, ist unzureichend und dilettantisch: Ungeziefer in Gasthäusern, überfordernde Wirte, schlechte Straßen, Taschendiebe, Wegelagerer, Wirbelstürme, Moskitos — das sind schülerhafte Einfälle, die an der Sache so wenig ändern wie die
An Kerze und Neonröhre kann man erkennen, daß es lebendiges und totes Licht gibt. Alles an der Kerze lebt: ihre Goldflamme kämpft gegen das Dunkel und macht dieses erst sichtbar; sie kann flackern, sie kann rußen, sie kann anzünde- We kann AVachsttStfeii weinen. Die' Menschenphantasie spielt mit ihr und hat die Kerze in allen Formen und Farben geschaffen: weiße und rote, dicke und dünne, gebogene und gewundene, vergoldete und bemalte KerzenlUnd wie lebendig ist auch die Entstehung so eines Wachslichtes: wieviel tausend Bienenbein-chen haben am Wachs gearbeitet, es modelliert, es mit
Fünf Jahre hatte ich nicht Theater gespielt, sondern an meinem Schreibtisch gesessen. Ich lebte so gemütlich! Da wurde ich telephonisch angerufen: „Wollen Sie für den Schauspieler X einspringen? Probe heute vormittag, halb zwölf, Auftreten heute abend.“ — „Gern“, sagte ich.Als ich die Eisentreppe zur halbdunklen Hinterbühne hinabstieg, angezogen wie ein Narr, war ich bereits recht traurig. Ich wußte ja nicht, daß mir das schwerste Los in puncto Lampenfieber zugefallen war: erstens in eine bereits fertige Vorstellung einspringen; zweitens als Neuling und drittens gleich mit
Das Neueste in der Herrenmode: die Weste hat ihren Einzug in den Anzug gehalten, und dieser ist wieder die Dreieinheit von Hose, Weste und Jackett! Es ist allerdings fraglich, ob man überhaupt von einer Herrenmode sprechen kann, denn im Grunde kleiden wir uns fast so, wie Goethe 1830. Gibt es eine Herrenmode, so schöpft sie ihre Inspiration jedenfalls aus anderen Quellen als die Damenmode. Diese resultiert aus der Gestalt des neuesten Weltstars Audrey Hepburn, den Phantasien des Modeschöpfers Dior, den Dispositionen der mit ihm liierten Textilfabriken des Monsieur Boussac sowie einem Etwas,
Merkwürdig, daß das Ding noch keinen Namen hat: ich meine jene Börsenhausse mit nachfolgendem Krach, wie sie im Wirtschaftsleben seit Errichtung der Börse immer wiederkehrt. Darum nenne ich es den Haussekrach, und dieser hat einen wirtschaftlichen, aber auch einen moralischen Aspekt. Der wirtschaftliche läßt nur Produktion und Konsum erblicken, der moralische nur die entfesselte Habgier der Börse. Doch in Wirklichkeit gehören beide, die Wirtschaft mit ihrem Produktionsvolumen und die Börse mit ihrem Seelenleben, zusammen. Kein falscherer Satz .als „Die Börse ist das Barometer der
Der Tabak ist ungeheuer schädlich. Fast so schädlich wie das Leben selbst, das ja doch zumeist einen letalen Ausgang nimmt. Allein innerhalb dieser Schädlichkeit gibt es Unterschiede. Man hat Zigaretten (das heißt wenn man sie hat), die machen fast nichts, die sind sozusagen warme Luft, in Rauch aufgehende Illusionen, kurz der Schnuller des erwachsenen Mannes. Und dann wieder gibt es anderen Tabak, wie eine Notiz lehrt, die kürzlich als Lauffeuer durch den Blätterwald flog. Darnach steckte sich der im Emslande ansässige Landwirt Uwe Jens Karsten mit den Worten „Nu wfillt wi ja ok en
Seitdem ich allwöchentlich mein Horoskop lese, hat das Leben wieder einen Inhalt bekommen. Sonst passierte rein gar nichts, jetzt dagegen: „Sie stehen vor wichtigen Entscheidungen“, „Jetzt heißt es für Sie, die Nerven nicht verlieren!“, „Befragen Sie jetzt mehr Ihr Herz als Ihre Vernunft“ — kurz, meine Existenz ist recht spannend geworden, so daß ich das funkelnde Firmament (abends, nach dem Kino) wie einen sensationellen Spezialkorrespondenten begrüße. Zwar passiert noch immer nichts, doch ich habe immerhin das Gefühl, daß man sich dort für mich interessiert. Es ist,
Weil wir ihn so gezüchtet haben? Aber wilde Früchte werden ja auch süß zur Zeit der Reife. Was ist Reife? Wenn das Saure süß wird, wenn das Individuum sich fortpflanzen kann. Doch was ist eine Frucht? Schutzhülle, Mitgestalterin und endlich Nahrung für den Kern. Die Frucht ist die Mutter des Kerns. Das Insekt legt seine Eier in eine Frucht, es schafft sich instinktiv ein Fruchtfleisch für seinen ,,Kern". Die Frucht ist aber für den Apfelbaum auch noch ein Mittel zur Fortbewegung: entweder durch ihre Schwere — sie fällt zu Boden und bildet verwesend die günstigste Nahrung und
Frauen sind ciie geborenen Menschenkenner. Wenn Männer zusammen sind, unterhalten sie sich über Ding e; wenn Frauen zusammen sind, unterhq|(en sie sich über Menschen: über Frauen, Kinder, Dienstboten und vor allem über Männer — das ist der berühmte „Tratsch“. So zieht sich neben dem Wissensstrom der von Männern geschaffenen Psychologie ein elementarer Unierstrom der praktischen weiblichen Psychologie i— die nicht mit Buchhille erlernt wird, wo jede von neuem anlangt und dennoch den Mann au dem Felde schlägt. Jede Frau studier) ihren Mann, um ihn besser ?y lieben oder ihn
Weil es auch in der Schule des Lebens schwer ist, immer still auf einem Platz zu sitzen. Weil dreißigtausend Prospekte, Reklamen und Annoncen uns rotglühende Bergesgipfel bzw. waschblaue Mittelmeergestade vorgaukeln. Weil wir uns Glück nur in Form von Reisen vorstellen — woher denn sonst die vielen Autos? Weil man jung ist und hinaus in die Ferne will, oder alt, und auch mal ausspannen möchte. Weil man einen Traum hat — von Griechenland, von Italien, von der Südsee, vom Amazonas — und ihn per Fahrkarte realisieren will. Weil man soeben geheiratet hat. Weil man nicht geheiratet hat
Karl Kraus war ein so geistiger Mensch, daß ihn öde Gesprächspartner sogleich auch körperlich an den Rand der Erschöpfung brachten. Eine schwache Theatervorstellung ließ ihn prompt einschlafen. Einmal hatte er bei einer solchen Vorstellung den Balkonsitz an der Brüstung. Beim Hellwerden bot sich folgendes Bild: Kraus lag in tiefem Schlaf mit seinem Kopf auf dem Plüsch der Brüstung, während seine Arme schlaff darüber herabhingen — unten im Parkett aber gab es Aufregung, weil sein Operngucker einer Dame in den Schoß gefallen war. Ein anderes Mal hatte ihn ein Dichter gebeten, der
Das ganze Verhältnis der Menschheit zur Mutter Gottes ist enthalten in den Worten Christi vom Kreuz herab: ,,Sohn, das ist Deine Mutter.“Gott ist wie die Luft — man kann Ihn auch nicht sehen, aber ohne Ihn müßte man ersticken.Wenn jedes Essen Töten ist, so muß der Tod aller Tode erst recht Nahrung aller Nahrung sein — Kreuzigung und Kommunion.Christi Tod wird von zwei Mählern umrahmt: von dem Herrenmahl vorher und dem Emmausmahl nachher. Vorher nennt Er die Wandlung ,,das Geheimnis des Glaubens“, nachher verschwindet Er bei der Brotbrechung, das heißt Er wird das Brot.Ohne
Zum Vollenden ihrer genialsten Erfindung — der Schrift — hat die Menschheit tausend Jahre gebraucht und in dieser Zeit entstand die Vorstellung von einem göttlichen Buche, wo die Taten jedes Menschen verzeichnet stehen. „Gib acht“, sollte dies sagen, „denn alles, was du tust, wird aufbewahrt, und es kommt ein Tag, da du Rechenschaft geben mußt.“ Das irdische und moderne Symbol dieses Buches ist das sogenannte Dossier, welches bei der Polizei, Partei, Kartei, Auskunftei und überhaupt allem, was auf „ei“ ausgeht, über dich angelegt und geführt wird. Dort steht alles von dir
Nachdem der Berufsberater meine Kleidung, meine Handschrift sowie meine Seele analysiert hatte, schob er sich die Brille auf die Stirn und sagte:, ,,Mr. Williams, Sie sind der geborene Rentner. Ich kann Ihnen nur den Rat geben, sich in eine Unfallversicherung einzukaufen und sodann fleißig über die Straße zu gehen. Vielleicht haben Sie Glück, und es geschieht ein Unglück.“ Seitdem machten alle Autos einen Bogen um mich herum. Da ich immerhin Seele und Körper zusammenhalten mußte, so wurde ich nacheinander Bürstenreisender, Unfallreporter, Wahrsagerassistent und Reklameberater Ich war
Himmel, was ich mich schon gelangweilt habe! Ein Defekt, sicher, denn wer etwas will, langweilt sich nicht. Doch seien wir gerecht: sie, die Langeweile, ist jene Reibung, ohne die man nicht gehen könnte — jenes Schwachstromsignal, welches anzeigt, daß unser Kostbarstes, unsere Einmaligkeit des Lebens, beleidigt wurde — jene Göttin, die, stärker noch als Liebe und Tod, sich durch alles drängt — ach, vielleicht auch durch diesen Aufsatz! Ja, die Langeweile ist ein Unterpfand des Himmels. Denn sie ist die Karikatur der Ewigkeit.Hunger und Liebe, das sind die sich selbst spannenden
Kaum rollt dieser Stern, auf dem wir leben, mit seinen Dschungeln, Tankstellen und Philatelistenkongressen in den Schatten, so schließen sich die Blumenkelche, die Vögel stecken den Schnabel unter den Flügel, und auch die sonstigen Lebewesen rollen sich irgendwie zusammen und verlieren das Bewußtsein. Dieser tolle Vorgang vollzieht sich jeden Abend. Alles liegt in der süßen Narkose, alles schläft; sogar die Winde sind still geworden, und die Ozeandünung schaukelt schläfrig ihre silbernen Sternenbilder. Alles schläft, aber nur der Mensch kann nicht schlafen, weil er tagsüber zuviel
Ich muß zugeben, daß ich ein Kampfhahn bin — beileibe kein Querulant, der mit jedem Streit anfängt, aber doch einer, der die Hoffnung hegt, durch Disput mit dem Nebenmenschen auf die Wahrheit zu kommen. Einer, der da glaubt, durch Argumente überzeugen zu können, aber gleicherweise bereit ist, sich durch Argumente überzeugen zu lassen. Ungefähr dasselbe glaubt ja jeder Mensch, doch in diesem Tennisspiel der Dialektik seine höchste Lust zu finden: das macht den Kampfhahn aus. Der Normalmensch läßt jeden bei seiner Meinung — „Wozu unnütz streiten?“ —, der Kampfhahn aber
Tag für Tag meinte ich den fragenden Blick der Hausfrau zu sehen: „Ist denn das Reh immer noch nicht geschossen?“ Tag um Tag erweiterte ich meine Nachsuche — und vergrämte dadurch die Rehe immer mehr. Das ging so drei Wochen lang; jetzt war's schon Anfang Dezember 1944. Bezaubernd auch diese schwarze Zeit im Walde: leise tropft der Nieselregen von den grünen Nadeln; unter den Laubbäumen schwimmen gelbe Blätter auf der Pfütze; ein paar zerbrochene, wurmzerfressene Pilze liegen noch herum, und langsam, wie um ihre Langeweile zu betäuben, pendeln die zerrissenen Spinngewebe hin und
In jeder Wohnung gibt es einen Zähler. Er sieht wie ein schwarzpolierter kleiner Kessel aus, ist an die Wand geschraubt und plombiert. Manchmal tickt er sogar. Manchmal kommen Leute, schreiben sich die Zahl, die er zusammengetickt hat, auf und kassieren Geld ein mit einer Miene, als ob sie persönlich nichts dafür könnten. Manchmal, sagt der Polizeibericht, sind diese Leute sogar Schwindler. Manchmal feiern die Menschen in der Wohnung Feste mit Punschbowlen, oder sie werfen sich gegenseitig das ganze Leben vor, oder sie küssen einander — und vergessen für Augenblicke ganz, daß sie
Das meistzitierte und hypothetische Beispiel für den welthistorischen Zufall lautet: „Wäre die Nase der Kleopatra ein wenig länger gewesen, so hätte die Weltgeschichte eine andere Wendung genommen.“ Doch warum die Nase, und warum gerade der Kleopatra? Aehnliches ließe sich ja von jeder schieksalsentscheidenden Schönheit sagen. In Wirklichkeit besteht die vergessene Pointe darin, daß Kleopatra — wie ein Blick auf ihre Porträtskulptur zeigt — schon sowieso eine recht lange Nase hatte, so daß die Distanz vom Erhabenen zum Lächerlichen verschwin-dend klein war. Sie, die Nase,
Der Mensch ist das einzige Erdenwesen, welches die Welt denkt und sich damit über sie hinausschwingt. Dieses Grundwort der Sprache „ist“, das die Welt setzt und damit gewissermaßen abbildet, macht den Unterschied zwischen tierischer Verständigung und menschlicher Sprache aus, denn noch nie hat ein Tier etwas abgebildet. Der andere Unterschied ist, daß das Tier seine Verständigungslaute erbt, der Mensch aber seine Sprache erlernen muß und sie darum auch fortgestalten kann. Vom Schöpfer als Ebenbild angelegt, betätigt sich der Mensch am eigensten, wenn er spricht und also mit seiner
Ein Mann, ein Philosoph von achtzig Jahren, erzählte mir: „Bis vierzig rauchte ich Zigaretten, von vierzig bis sechzig Zigarren, von sechzig an aber rauche ich Pfeife. Das muß einen tieferen Grund haben.“ —- Vielleicht den, daß die Pfeife Ruhe verbreitet.Rauchen ist der dauerndste Genuß, denn Essen und Trinken finden ihre Grenze, aber atmen kann man immer. Eine Würze der lebenslangen Luftschnapperei! Europa begann zu rauchen, als es auch mit dem Kaffee- und Teetrinken anhub, denn eben zu derZeit kamen die Errungenschaften auf, und die gehen bekanntlich auf die Nerven. Koffein, Tein
Jeden Morgen entbrennt mein Kampf gegen etwas, das nun einmal nicht wachsen soll und von Natur doch wächst. Jeden Morgen vollbringt mein Bart das schwierigste metaphysische Kunststück, nämlich zugleich da zu sein und nicht da zu sein. Jeden Morgen pinsle ich mich weiß ein wie ein Zirkusclown, und nur die Witze, die mir dabei einfallen, haben einen Bart. Jeden Morgen hofft mein Bart, daß ich einmal ein Auge zudrücken und ihm die schmerzlich entbehrte Materialisierung gönnen werde. Doch erst wenn man mir beide Augen zudrückt, dann ist es soweit — dann ist mir schon alles eins, und ich
Rußlands Entwicklung wurde durch zwei Tatsachen bestimmt: erstens durch das religiöse Schisma zwischen Rom und Byzanz, zweitens durch seine Lage als Grenzland Europas.Das Schisma wurde endgültig um 1050, etwa um die Zeit, da Heinrich IV. vor Canossa stand. Also zu einer Zeit, wo die Cluniazenser-Bewegung als Auftakt das Kommen des Hochmittelalters meldete. Dieses Schisma hatte, ungleich der Reformation, die etwas anderes, nämlich eine theologische Spaltung war, rein politisch-geographische Gründe: solange die griechische Kirche frei war, das heißt einen Rückhalt im Papste hatte, waren
„In dieser Nacht erschien mir die verstorbene Baronesse von W. Sie war ganz in Weiß gekleidet und sagte zu mir: .Guten Tag, Herr Wirklicher Geheimrat!'“ SwedenborgKein Zweifel, sie erscheinen. Aber ihre gute Zeit ist dahin. Einst wurden sie von Ben-venuto Cellini in der Mondnacht des Kolosseums lateinisch heranzitiert: das war fast eine Ehre. Der Beschwörer handelte auf eigene Verantwortung; er tat etwas Verbotenes, etwas Entsetzliches und hatte sich seinen Vorwitz mit dem Schauder verdient. Oder sie erschienen dem Herrn Buchhändler Nicolai, wie er sich gerade die Perücke pudern ließ:
Immer öfter zogen die Bekannten, wenn es ans Rauchen ging, kleine Nickeldinger aus der Tasche, knipsten damit vielfach, wobei Funken wie beim Gasanzünder durch die Luft sprühten, und lehnten die von mir gereichte Streichholzflamme ab, weil sie auf eigenes Feuer hofften. Kam dieses endlich, so beleuchtete es eine befriedigte Nasenspitze und einen strapazierten Daumen. — Kinder, dachte ich mir, kleine Kinder, die ihr Spielzeug haben wollen! Ich verhielt mich zu der Sache ablehnend.Aber endlich sagte ich mir: du mußt es doch wenigstens probieren! (So wie man auch in Monte Carlo „bloß zum
Ich bin nicht neugierig, sondern eher altgierig, denn im Alten das Neue zu entdecken, ist mir stets reizvoller erschienen, als im Neuen wieder einmal das Alte zu agnoszieren. Wenn ich auf meinem Spaziergang zu dem großen Hund komme und ihn hinterm Ohr kraue, so weiß ich, daß jetzt aus dem eisgrauen Gezottel seine kaffeebraunen Seelenaugen heraufblicken werden — ich weiß es, und dennoch entzückt es mich stets aufs neue. Trotzdem gibt es Dinge, die auch mich neugierig machen, nämlich solche, an die man schon oft gedacht hat. Ein Kalb mit sechs Beinen lasse ich gut und gern laufen, aber
Wenn man an einem summenden Sommertag im Salon über ein Buch gebückt sitzt, dabei elf Jahre alt ist und dazu noch Pflaumen verspeist, und wenn man gerade bei der furchtbar schönen Stelle „Cuchillos Verrat“ anlangt, wo auf der kolorierten Lithographie der Sonnenuntergang in tragischen Blutfarben brennt — dann, sage ich, hat man nicht mehr viel Sinn für die Außenwelt übrig; denn man sitzt verpuppt in seinen Schmetterlingstraum, ohne Hören und Sehen. Und daher spürten meine Sinne einen Fremdkörper erst in dem Augenblick, als er sich mir warm und weich auf den gebeugten Nacken
Ich könnte Ihnen die Amsel nach dem Hineingucken in Brehms Tierleben ziemlich genau schildern. Doch wozu das angemaßte Wissen: schlagen Sie selber nach! Ich weiß von der Amsel nur, daß sie ein halbgroßer, glänzend schwarzer Vogel ist mit lustigem Wippsteert und gelbem Schnabel, und daß sie im Winter immer schnell über den Schnee hüpft, sich unterm trockenen Laub zu verbergen. Ach ja, einmal beim Holzhacken schlüpfte ein schwarzer Gast durch die Schuppentür herein und sah mir längere Zeit bei der Arbeit zu. Sie muß wohl sehr hungrig gewesen sein.Man muß aber jegliches Wesen nach
Es gibt Lebensalter, da man lieber tanzt als geht, und Gedichte, das sind Worte im Tanz. Als Achtzehnjähriger las ich sie, wie man Wein trinkt, hatte den Hofmannsthal hinter mir, kannte Rilke auswendig und hörte nun, als Student zum erstenmal in Deutschland, einen neuen lyrischen Ton, der mich sonderbar ergriff. Ihn vernehmend, sprach ich wie Adam „das ist wohl Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein“, denn der Jüngling sucht den Freund, die Gleichaltrigen, die Gleichgestimmten — hier aber, in den Gedichten von Georg Heym, drang sie mir ans Ohr: die Stimme meiner
Als ich morgens meine Krawatten an der Schranktür musterte (sie hängen innen wie ein Bündel Schlangen und warten im Dunkeln, wer von ihnen drankommen wird) — da fand ich sie schäbig, verrunzelt, frühzeitig gealtert und beklagte mein Schicksal, so etwas am Halse hängen zu haben… Ich beschloß, mir eine neue zu kaufen. Kein leichter Entschluß. Es ist ja kaum ein Mensch ganz geizig oder ganz freigebig, sondern man hat seine speziellen Knauser- und Verschwendungsgebiete. Bei mir zum Beispiel ist vor dem Kino eine Mark grade noch ‘ne Mark, doch sowie es ans Krawattenkaufen geht, ist
Ein Vorfahre von ihm war 1570 Kanzler des Herzogs von Teschen; dagegen waren seine mütterlichen Vorfahren Bürgermeister der kleinen Hansestadt Wolgast. Da das Quellgebiet der Oder bei Teschen liegt, Wolgast jedoch vor deren Mündung, so kann man Radecki mit Fug als einen Odermenschen bezeichnen. Dies äußert sich darin, daß er fast allem, was behauptet wird, sein Oder entgegensetzt, meist sogar sein „Oder auch nicht… , wodurch er in den Ruf eines streitlustigen Menschen geraten ist. Geboren wurde er in Riga am Totlebenboulevard: das Hintergäßchen des Hauses hieß „Der Katzensprung
Ich bin nämlich zufällig dabei gewesen. Die russische Revolution ist bekanntlich in der Kaserne des wolhynischen Garderegiments ausgebrochen, und unser Haus lag dicht daneben an einer belebten Tramwaykreuzung. Vom zweiten Stock dieses Eckhauses sah man nun folgendes: vor allem einen Delikatessenladen, hinter dessen Schaufenster kleine Kerzen brannten, damit die Scheibe in der Kälte nicht vereisen sollte. Sie war aber doch vereist — außer einem kleinen Fledc in der Mitte, der gerade eine Schachtel mit Datteln freiließ. Und vor dieser Schachtel mit Datteln fror auf der Straße tagaus,
Der Schulkorridor war leer. Durch die Milchglasscheiben der Klassentüren drang das übliche Schulgeräusch: trompetende Lehrertöne, Kreideknirschen, und ein chorweises Sprechen, welches einen leichten Beiklang von Idiotie hatte. In unsere Klasse war der Lehrer, Pyrrhus genannt, noch nicht gekommen; allein wir sechzig Quartaner standen bereits schlotternd stramm, weil er es so verlangte.Nun kam Pyrrhus, die Hefte unterm Arm, plötzlich herein und blieb auf halbem Weg zum Katheder in theatralischer Pose stehen. Drei volle Minuten lang musterte er uns schweigend mit rollenden Augen, wobei sein
Hier wurde der Versuch gemacht, die russische Sphinx aus dem angewehten Wüstensand täglicher Meinungen ein wenig herauszugraben; die Sphinx bleibt, doch werden ihre Umrisse besser erkennbar. Was Frankreich, was England in der europäischen Geschichte bedeuten, weiß jeder, und man rechnet mit ihnen wie mit bekannten Größen. Bei den Deutschen beginnt die Frage, was sie eigentlich sind, bereits problematisch zu werden — und bei Rußland erst! Da zerbrechen sich die Westeuropäer bereits jahrhundertelang den Kopf, und besonders heute, wo es ja um ihren Kopf geht. Das Sonderbare jedoch ist,
Seitdem ich allwöchentlich mein Horoskop lese, hat das Leben wieder Inhalt bekommen. Sonst passierte rein gar nichts, jetzt hingegen: „Sie stehen vor wichtigen Entscheidungen“, „Jetzt heißt es für Sie, die Nerven nicht verlieren!“, „Befragen Sie jetzt mehr Ihr Herz als Ihre Vernunft“ — kurz, meine Existenz ist recht spannend geworden, so daß ich das funkelnde Firmament (abends nach dem Kino) wie einen sensationellen Spezial-korrespondenten begrüße. Zwar passiert noch immer nichts, doch ich habe immerhin das Gefühl, daß man sich dort für mich interessiert. Es ist, als ob
Wie die meisten Saisonneuheiten kommt das Wetter aus Amerika, wobei es, gegen alle Gesetze der Physik, der Achsendrehung unserer Erde noch vorausläuft. Natürlich gibt es dafür wissenschaftliche Erklärungen, aber sie kommen leider erst nachher, also wo man schon weiß, was man beweisen will. Käme das Wetter im Gegenteil aus der Mongolei, so würde man das ebenfalls sehr angenehm erklären. Vor seiner Ankunft spaltet sich das Wetter meist in ein „Azorenhoch“ und ein „Minimum d'Ir-lande“, welch letzteres auf seinem Tränenwege über Europa von mannigfachen Verwünschungen begleitet
Bis zu Peter dem Großen hat sich Rußland um Europa kaum gekümmert und Europa um Rußland auch nicht allzuviel. Immerhin gab es die Berichte der elisabethanischen Kaufleute und die Bücher von Olearius und Herberstein. Mit der Petrinischen Revolution ändert sich das: Europa macht sich über Rußland Gedanken; besonders wenn dieses ihm gefährlich wurde. Dagegen kreist das russische Denken seitdem nur um die beiden Brennpunkte der Ellipse: Rußland und Europa. Heute aber, nach dem zweiten Weltkrieg, kreist bereits das politische Denken der ganzen Welt unablässig um'diese beiden Punkte.
Auf dieser Welt leben, gelinde gerechnet, zwei Milliarden Menschen, von denen jeder, mit „Wer da?“ angerufen, ohne Zögern „Ich“ antwortet. Wir setzen uns stets als zu bekannt voraus, und gerade darum wäre es notwendig, die Menschen einzuteilen. In einem uralten Gutsgebäude fand man zum Beispiel folgendes Dokument: „In diesen erschröck-lichen Kriegsnöten haben wir alle unsere Schätze und Pretiosen verborgen unter Tanf Ulrikchens Zimmertür.“ Wer war und wo wohnte Tante Ulrikchen? Das Haus aber hatte 85 Türen.Doch wie soll man nun die Menschen einteilen? Das ist die Frage. In
Als kleiner Junge kam ich in die große Stadt Kopenhagen. Der Waggon fuhr auf ein Schiff, und das Schiff fuhr übers neblige Wasser. Im Hafen stand der riesengroße Schatten eines englischen Kreuzers, und daneben die russische Kaiserjacht „Polarstern“. Darum war die Stadt voll von Matrosen; Arm in Arm zogen immer je ein baumlanger Russe und ein ganz kleiner Engländer auf Abenteuer — der große und der kleine Klaus. Auch sonst war die Stadt märchenhaft: alle Viertelstunden erklang ein Glockenspiel, als ob das Ganze eine Spieldose sei. Eigentlich hätten ia dann alle stehenbleiben
Ich schreibe mit der Füllfeder. Sie ist, nach Pinsel, Griffel, Rohr, Gänsekiel und Stahlfeder, die letzte Etappe vor den Fallbeilen der Schriftguillotine, nämlich der Schreibmaschine. Das ist immer so: nach der Vollendung, nach der innigsten Verkörperung von Seele in Schrift, erfolgt der Absturz, ins Wesenlose. Denn die Füllfeder ist nicht bloß Tintenfaß und Schreibzeug in einem, sondern sie hat sich sanft in deine Hand eingewöhnt und bleibt dir für immer vertraut: eine Lebensgefährtin. So etwas muß Paganini für seine Geige empfunden haben. Ihre Iridiumspitze ist der
Diese Geschichte, die man für eine Erfindung halten könnte, hat sich genau so zugetragen, wie ich es berichte.Bekanntlich spielt sich das Münchner Leben in „Kreisen“ ab, und damals — 1940 bis 1942 — waren die markantesten Figuren meines Kreises Theodor Haecker und der Doktor S., welche beide nach der Machtergreifung zeitweilig gefangengesetzt worden waren. Wir trafen uns täglich im Hofgartencafe und hatten sogar zwei Nazispitzel, was wir dadurch erkannten, daß jeder dieser beiden uns insgeheim vor demanderen warnte. Dr. S. war eine kindliche, sehr sensible Gelehrtennatur. Er
Auch ich habe einmal einen Frack gehabt. Und was für einen. Mit traumhafter Pikeeweste, schwarzen Seidengalons und einer Hintertasche im linken Schößel, die den mondänsten Vermutungen Raum gab. Wenn schon ein Pintsch durch sein Halsband im Selbstbewußtsein gehoben wird, wie erst ein Jüngling durch seinen Frack: bleich steht er da, mitten unter dem mittelsten Kronleuchter, fühlt sidr als Alkibiades und macht ein Parthenon-gfries.Ich brauchte ihn nämlich dringend zu einem Ball des Petersburger Terijoki-Jachtklubs im Dachgarten des Hotel de l'Europe: die Welt rief mich, und ich kam— im
Ich muß heute abend von acht bis neun vorlesen. Den ganzen Tag über arbeite und spaziere ich wie gewöhnlich, aber um 6 Uhr fühle ich plötzlich, daß ich sehr abgespannt bin, und beschließe, da man ja um 8 Uhr frisch sein muß, mich hinzulegen. Merkwürdigerweise kann ich trotz der Müdigkeit nicht schlafen. Auf einmal überfällt mich ein verzehrender Hunger, worauf ich esse. Um 7 Uhr bin ich ganz satt und schwer, aber da fährt es mir siedendheiß durch den Sinn, daß ich ja um 8 Uhr lesen muß! Wie kann ein satter Mensch lesen? In meiner Angst beschließe ich, so lange Rum zu trinken,