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DIE BÜCHERJAGD

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Es gibt zwei Arten von Bücherkäufern. Solche, die neue, und solche, die alte Bücher kaufen.

Der erste kauft Bücher, weil sie neu sind, oder weil er hofft, daß es jetzt gerade viele Genies gibt. Er will mit der Zeit Schritt halten, bzw. sie sich vertreiben. Seine Bücher haben wunderbar frische und glänzende Umschläge. Er muß sich auf Waschzettel, Bauchbinden, Kritiken, Empfehlungen des Verkäufers oder, das Schlimmste, sich selbst verlassen.

Der andere kauft alte Bücher. Doch er ist eigentlich kein Käufer, sondern ein Jäger. In ihm erwacht ein schlummernder Urtrieb, denn alle waren wir einmal Jäger in blauer Vorzeit: suchend im Urwald, was sich verbarg; verbargen uns vor dem, was uns fauchend suchte. Der Jäger wartet auf seinen einen Augenblick, da das Wild noch entrinnen kann, aber nicht entrinnen wird, da Sehne und Seele gespannt sind bis zum Klingen — nun schwirrt der Pfeil, das Opfer bricht zusammen, und alles ist vorüber. Kein Jäger darf auffallen; auch der Bücherjäger muß völligen Gleichmut heucheln. Und weil er sich nicht auf die Nahrung des Leibes, sondern auf die der Seele stürzt, so lodern bei ihm primitivste Jagdlust und höchste Geistessehnsucht zu staub verzehrender Leidenschaft zusammen.

Und, wie bei jeder Leidenschaft, eröffnen sich ihm Höhen und Abgründe. Denn er steht vor dem wirren, zerfetzten, stockfleckigen Bücherhaufen (den zwanzig Käufer wie ein Trupp Ameisen leise raschelnd durchstöbern) mit einer Vision: der Vision von den Siegen und Niederlagen des menschlichen Geistes. Nie wird der Bücherjäger den Optimismus des Bücherkäufers, nämlich daß die neuen Bücher doch meist wunderbar und unvergänglich sind, teilen — so wenig wie ein Leichenbeschauer den unbedingten Glauben an die Unsterblichkeit teilen wird. Denn hier, auf dem Bücher- und Totenkarren, gibt’s keine Sensationsbauchbinden, welche sanft für Unsterblichkeit plädieren, sondern bloß die summarische Eröffnung „Jedes Buch fünfzig Rappen“, hier fehlen empfehlende Kommis’ und auch Glanzumschläge — hier schaust du der nackten Wirklichkeit ins zerfressene Angesicht. Welch ein Bienenfleiß zur Erzeugung der Abgeschmacktheit, welch ein Pantheon verfaulender, vertrockneter Geistesheroen, welch ein schauriges Echo aus den Hohlräumen morscher Schädel: in der Tat, hier auf dem Henkerskarren hüpft nicht die Sekunde taxameterartig wie im lockenden Buchladen, sondern die Zeit, die Zeit drückt mit der Allgewalt von Jahrhunderten! Hier stammt die Rezension nicht von den Herren X, Y, Z (die selbst bereits im Rachen der Zeit zappeln), sondern es hat jener Herr mit Sandglas und Hippe sein Verdikt gefällt — nicht in süßen Worten, wie „ einer der bedeutendsten .,.“ oder „ steht mit an erster Stelle “ oder „ füllt eine wichtige Lücke aus..sondern mit seinem fürchterlichen Zauberspruch: „Werde, was du bist!“ — und siehe, es ward Makulatur. Was ist das für eine höllische Alchimie, die aus dem Interessanten im Handumdrehen das Langweilige macht? Die ein Buch plötzlich „datieren“ läßt, ’ sö daß jedermanns Achselzucken kompetenter wird als jene damaligen Literaturpäpste, die nämlich ebenfalls datieren? Und welch eine Ironie der Materie, die das Papier immer noch dauern läßt, wenn die Gedanken doch längst zerfallen sind! So wird jede Scharteke zur Anklageschrift gegen ihren Verfasser, denn wir haben’s ja schwarz auf weiß: jeder Schreibende schreibt sich selbst sein Urteil

Doch wer der Wirklichkeit ins Auge schaut (und das ist gefährlicher, als man gemeinhin annimrnt), den belohnt sie zuweilen mit einem Lichtblick, der allen Ölglanz überstrahlt. Denn in deinen schmutzig gewordenen Händen kahn sich das Wunder begeben, daß unter den ausgefressenen Büchermumien eine plötzlich die Augen aufschlägt, noch etwas vom Staube niest, und mit klarer Menschenstimme zu dir redet. Das ist der Augenblick, der elektrische, für den der Bücherjäger lebt. Die Wimpern heben, die Lippen bewegen sich:

litus ut longe resonante Eoa

tunditur unda,

und er sieht bloß auf Drucklettern, doch aus ihnen brechen lange Brandungswellen, die über den nassen Sand weißfunkelnd entgegenstürzen. Und sein Blick springt zurück auf die Preistafel: Zwanzig Rappen zum Aussuchen.“ Fast befehlend erlegt er die Münze. Oder er zwängt sich in einen modrigen, nach Fichtenwald riechenden Bücherkeller, wo die Scharteken in babylonischen Türmen hochgestapelt liegen, bereit, bei der geringsten Berührung umzufallen wie ein an- geschcssener Fabrikschornstein. Ich aber suchte einen bestimmten, seltenen Verfasser mit der Trauer der Liebe. Doch in diesen Oubliettes fand ich nichts als Worte, Worte in scheußlichen Mengen, und wollte schon enttäuscht umkehren. Aber gerade hierbei verletzte ich mit meinem Paletot das labile Gleichgewicht eines furchtbaren Bücherturmes hinter mir. Er benutzte die Gelegenheit (auf die er vielleicht schon Jahrzehnte gewartet hatte) und stürzte mit einer Staubdusche krachend über meinem Kopf zusammen. Ein brauner Band blieb mir zwischen Kinn und Nase stecken — ich blickte wütend hin: und er war es. Der ersehnte Verfasser! Sogleich steckte ich meine Nase hinein und las: „Der Künstler soll mehr erleben? Er erlebt mehr!“ — Das ist doch ein Erlebnis, möchte man sprechen.

Oder jener Augenblick damals, Ecke Tauentzien — und Marburger Straße, wo ich ganz absichtslos einen gelbbroschierten Band aufschlug — er war in einer fremden Sprache geschrieben — und die Lettern plötzlich stärker auf mich blickten, als ich auf sie: denn plötzlich konnte ich die Sprache, die bislang nur durch Schleier wahrgenommene ich konnte, ich kannte sie, Ecke Marburger und Tauentzien! „O du, die ich geliebt, o du, die es gewußt!“ Sie hatte mich angesprochen und ihre Worte, von Herz zu Herz, hatten den Schleier zerrissen, Preis fünfzig Pfennig. Wir Bücherjäger haben ein Ortsgedächtnis wie jener Hengst, durch den Darius König wurde.

Und so sammeln wir die Jagdtrophäen — nicht Gehörne, Gehirne grüßen uns von der Wand! Und sie erinnern uns an die Reviere, an die Bücherwinkel der großen Städte. — alle selbst mit ’nem kleinen Stich wie auch die Büchernarren: an die Ecke hinter der Staatsbibliothek, an den heißen Lause- markt in Rom, an die Seinequais, an die kleine Querstraße hinter der Shaftesbury Avenue, an den Apraxin-Markt, an die Wollzeile — durch die wir gepirscht sind mit dem schußbereiten Doppellauf unserer Augen Wir sind keine Son-

, wir sind Vollzieher einer historischen Mission, einer geistigen Rettungsaktion! Haben Sie jemals einen „Aufbereitungstisch“ gesehen? — Das ist ein schräger Holztisch mit feinen Horizontalrillen, der sich in ständiger Schüttelbewegung befindet. Und über ihn gleitet, durch Wasserrieseln geschwemmt, das pulvert ein zermahlene Fördergut aus dem Erzbergwerk: langsam zerlegt sich dieser Schlamm durch das Schütteln in drei Streifen — links das wertlose Gestein, dann ein stumpfer Streifen Blei, und ganz rechts ein feiner Streifen Silber. Das ist unsere Arbeit. Wir schütteln die Literatur. Wir sind die Aufbereiter geologischer Papierschichten.

Der Beruf hat seine Gefahren. Wie bei jedem Menschentum, kann es auch hier geschehen, daß das Mittel den Zweck übermannt. Dem gewöhnlichen Jäger wird der Schuß ja wohl mehr bedeuten als der Rehbraten, doch wehe dem Bücherjäger, mit dem es dahin kommt, daß ihm das Lesen Nebensache wird. Der Flintenjäger hat ja recht, denn seelische Emotion bedeutet mehr als Essen; allein der Bücherjäger, der nur so ein wenig blättert und den Einband streichelt, hat furchtbar unrecht: er verrückt die Hierarchie des Geistes. Ihm genügt, etwas zu haben, das Geist besitzt — er behängt sich mit Reliquien und vergißt das Beten. Selbstverständlich ist alles Wertvollste — Bibel, Homer, Dante, Shakespeare — überall und für lächerlich wenig Geld zu haben. (In Berlin konstatierte ich einmal, daß ein Neues Testament genau so viel kostete, wie eine Straßenbahnfahrt, nämlich fünfundzwanzig Pfennig.) Wenn’s allein darnach ginge, so dürfte es überhaupt keine Bücherjäger geben. Aber

Athene mit der 'Eule sei Dank — darum, um die Geister allein geht es nicht, sondern um den Geist! Die zweite Gefahr ist, daß der Bücherjäger zwar liest, aber nicht weil es gut, sondern weil es selten ist — auch hier will er Besitzer statt Werkführer sein. Der erste Jagdfrevler wird ein Har- pagon, der über ungenützten Schätzen kauert, der zweite stürzt sich ins Seltene, somit ins Exotische — und flieht also aus der Zeit, die doch ergriffen und gebunden sein will: an die Ewigkeit. Denn der Bücherjäger entreißt der Vergangenheit die wahre Gegenwart.

Und was ist das Ende dieses Kampfes gegen Bücher- und Wortstaub, dieser Entsetzensblicke in den Rachen der Zeit, dieser heimlichen und entzückten Rendezvous mit dem Geiste? — Wiederum ein Bücherhaufen. Er sieht genau so aus, allein er ist ein anderer. Eine hängende Weintraube, die sich alternd verjüngt, unerschöpflich nachwachsend jedem neuen Durste! Ein Phonogrammarchiv lebendiger Stimmen — ah, welch eine Menge Menschen stehen auf meinem Regal. Ich kenne sie, meine Erlesenen, ich spreche mit ihnen, ich liebe sie. Wie sollte ich ihnen nicht dankbar sein! Sie geben mir eine Welt, und damit auch diese hier — bis zu jedem Wellenschäumen, jedem Graseszittern, die ebenso augenblicklich und ewig sind wie jene starrgedruckten Worte. Dort stehen sie an der Wand und werden mich überdauern; vielleicht wieder auseinanderfliegen und auf den Karren gekauft werden von neuen Bücherjägern, die jetzt noch in den Windeln liegen „Lebt wohl, meine Freunde!“ rief der sterbende Puschkin mit einem Blick auf seine Bücher.

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