6603121-1953_52_16.jpg
Digital In Arbeit

Gesichtspunkte zum Verständnis Rußlands

Werbung
Werbung
Werbung

Rußlands Entwicklung wurde durch zwei Tatsachen bestimmt: erstens durch das religiöse Schisma zwischen Rom und Byzanz, zweitens durch seine Lage als Grenzland Europas.

Das Schisma wurde endgültig um 1050, etwa um die Zeit, da Heinrich IV. vor Canossa stand. Also zu einer Zeit, wo die Cluniazenser-Bewegung als Auftakt das Kommen des Hochmittelalters meldete. Dieses Schisma hatte, ungleich der Reformation, die etwas anderes, nämlich eine theologische Spaltung war, rein politisch-geographische Gründe: solange die griechische Kirche frei war, das heißt einen Rückhalt im Papste hatte, waren die byzantinischen Kaiser oft genug Unterstützer der Häresien gewesen — zum Beispiel des Arianis-mus, des Monophysitismus und des Ikono-klasmus. Doch sowie die Ostkirche sich durch Trennung vom Papste den Griechen-Kaisern unterworfen hatte, waren diese bis zum Ende die eifrigsten Beschützer der Orthodoxie. Denn es lag in ihrem politischen Interesse, die freie Kirche durch Häresien zu schwächen, die unterworfene aber in einer Einheit zu bewahren, welche auch der Einheit ihres Reiches zugute kam. Die Tatsache, daß nach dem Schisma zweimal theologisch untadelige Kirchenunionen zustande kamen, beweist, daß die Trennung außerreligiöse, also politische Ursachen hatte.

Dem Schisma lag also eine Unaufrichtigkeit zugrunde —■ an der auch Byzanz zugrunde gehen sollte. Denn seine Todeswunde erhielt Byzanz 160 Jahre nach dem Schisma durch die Erstürmung im vierten Kreuzzug; nach dieser Katastrophe vegetierte es nur noch seinem Ende zu. Ohne das Schisma wäre es nie zum IV. Kreuzzug gekommen, denn der direkte Anlaß zur Erstürmung war ein entsetzliches Massaker aller römischen Katholiken in Konstantinopel gewesen — eine Bartholomäusnacht von weit größerem Ausmaß als jene spätere. Diesen Gegensatz zu Westeuropa erbten die Russen, welche kurz nach dem IV. Kreuzzug ihre Nationalkatastrophe, nämlich den fürchterlichen Mongolensturm, erlebten, der sie für über zwei Jahrhunderte nun auch äußerlich vom Westen abkapselte! Seitdem hat Rußland Westeuropa gegenüber stets im Schmollwinkel gestanden. Denn die Initiative zu der Wiedervereinigung ist stets von Rom ausgegangen; die Ablehnung aber kam immer wieder vom Osten. Die religiöse, und damit auch kulturelle, Folge der Kirchentrennung aber war, daß die Ostkirche keine allgemeinen Konzile mehr abhalten konnte, damit die dogmenbildende Kraft verloren hatte, und somit der geistigen Erstarrung verfiel. Das heutige Lehrgebäude der Ostkirche ist ein konserviertes Fossil aus dem zehnten Jahrhundert.

Der Mongolensturm bringt uns auf die andere, die materielle Tatsache zur Beurteilung Rußlands: diese ist geographischer Natur. Europa, die Halbinsel Asiens, ist ein maritimer Erdteil, und zugleich der Erdteil des Christentums. Ein Volk fühlt sich als europäisch, wenn es 1. christlich ist, und 2. sich zwischen zwei Meeren, das heißt auf einer Halbinsel fühlt.

Die wichtigsten geopolitischen Linien Rußlands sind seine Flüsse, denn sie streichen Nordsüd, bilden also eine Kommunikation zwischen der Ostsee beziehungsweise dem Weißen Meer und dem Schwarzen Meer — die Flüsse sind die wichtigen europäisierenden Faktoren Rußlands. Diese Nordsüdkommunikation brachte den Russen 1. ihre Flerrscher, die skandinavischen Warjäger, welche als Handelspiraten den Weg nach Byzanz be-fuhren, und 2. das Christentum, das vom süd-litl.cn Byte oiüago£i olc Ttürkfrachl- flußaufwärts zu den Russen kam und ihre Staatlichkeit konsolidierte. Diesem berühmten Weg „Is Warjag w Greki“, das heißt „Von Skandinavien nach Griechenland“, verdanken dia Russen also ihre religiöse und politische Weisheit.

Die kulturbringende Nordsüdlinie Rußlands wird aber rechtwinklig von einer anderen, ebenso wichtigen Linie durchschnitten: dieses ist die Ostlinie, die unheimliche Steppenlinie Rußlands, welche, von den Karpaten bis zur Behringstraße laufend, die asiatisierende Linie genannt werden kann. Das ganze historische Schicksal Rußlands wird durch dieses geo-politische Kraftkreuz bestimmt. Längs der Ostwestlinie kam alles, was Rußland von Europa trennte und mit Europa entzweite: zuerst die Nomaden- und Mongolenstürme, sodann aber die Anstürme der Polen, Karls des XII., Napoleons, Hitlers. Nun ist es bemerkenswert, daß diese Unglückslinie [die für Westeuropa ein Glück war, weil Rußland den Prellbock gegen die Mongolen bildete] den Russen am Ende etwas gab, das sie für alle Zeiten unbesiegbar machte: das ungeheure asiatische Hinterland. Die Gefahr der verheerenden Nomadenwellen wurde um 1550 durch die Eroberung des Wolgabassins und die beginnende Kolonisation Sibiriens gebannt — bereits hundert Jahre später saßen die Kosaken am Amur. Das geopolitische Kraftkreuz Rußlands bedeutet also zwei Expansionen: eine sozusagen natürliche nach den Nord- und Südmeeren, deren Grenzen durch die Natur gegeben waren, und eine Westostexpansion, deren Ostgrenze irgendwo am Pazifik lag, deren Westgrenze jedoch nicht durch die Natur, sondern durch die Kultur, nämlich durch die katholische, und später durch die katholisch-protestantische, gebildet wurde: diese Grenze war ihrem Wesen nach eine schwankende, also Krieg und Unheil bringende — den Nomadenstürmen der russischen Frühgeschichte entsprechen die Weststürme der späteren Geschichte Rußlands: die Einfälle der polnischen Gegenreformation, des schwedischen Protestantismus, der französischen Revolution [Napoleon] und des europäischen Faschismus [Hitler im Verein mit italienischen, spanischen und französischen Legionen]. Zu dieser schwankenden West- und Ostgrenze ist folgendes zu sagen: jedes westliche, also katholische oder protestantische Volk hat sich den Russen stets überlegen gefühlt und deren Herrschaft nur mit Widerwillen ertragen. Das Ueberlegenheitsgefühl entsprang keineswegs dem Bewußtsein höheren Kulturbesitzes, denn die russische Sprache mit ihren Geistesschätzen kann es zum Beispiel mit der polnischen sehr wohl aufnehmen; sondern dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer anderen, höheren Zivilisation als der der Russen: nämlich der westlichen, deren Grundgefühl das der Freiheit ist. Diese westliche Zivilisation war durch die Kirche, also durch Rom geschaffen worden, und Rom gegenüber war Byzanz, und also auch dessen Erben, die Russen, seit dem Schisma rückständig. Europa ist der Westen, und noch nie hat sich ein westliches Volk von einem östlichen gutwillig beherrschen lassen.

So spielten die Russen auf dieser Westostlinie eine doppelte Rolle: dem Westen gegenüber Barbaren und Unterdrücker, waren sie dem Osten gegenüber die Kulturbringer. Der Osten läßt sich von den Russen nicht ungern beherrschen, und sie haben zum Beispiel in Zentralasien und Sibirien hervorragende Kulturarbeit geleistet.

In dem geopolitischen Kraftkreuz von Nordsüd und Ostwest bedeutet die Ostwestrichtung einen Kampf gegen Europa, die Nordsüdrichtung aber einen Kampf um Europa, denn erst mit dem Nordmeer und dem Südmeer war eine wirkliche, materielle und geistige Kommunikation mit Europa möglich. Sowie Moskau sich nach dem Falle von Byzanz als „drittes Rom“ erklärt, beginnen seine planmäßigen Vorstöße nach Norden und Süden. Iwan IV. kämpft um das Baltikum, welches erst Peter der Große erobert, der aber zugleich einen Rückschlag im Kampf um die Schwarzmeerküste erleidet. Erst Katharina II. erobert und kolonisiert das Schwarzmeergebiet [1783]. Im Türkenfeldzug 1878 begeht Rußland den nach Bismarck „unverzeihlichen Fehler“, Konstantinopel aus Furcht vor den Engländern nicht zu nehmen, was zur Ostwestexpansion gegen Japan, zum unglücklichen Krieg 1905, zur ersten Revolution und damit zur Vorbereitung der bolschewistischen Revolution führt. In Japan begegnete Rußland, wiederum Europa — nämlich dessen Waffentechnik.

Trotz 'dem Schisma gehörte das einstige, christliche Rußland noch zu Europa — durch die Heilandsgestalt. Durch ihr Christentum wurden die Russen, neben den Spaniern, zu den stärksten Kolonisatoren. Die Spanier kolonisierten Mittel- und Südamerika, die Russen das riesige Nordasien. Und immer waren es russische christliche Sektierer, die den Pioniervortrupp machten. Die beiden christlichen Fühlarme um den Erdball, der spanische und der russische, berührten einander in Kalifornien, wo [vor Hinkunft der Nordamerikaner wegen des Goldes], neben spanischen Missionen auch Kosakensiedlungen an der Küste bestanden. Hier hatten sich also die beiden Extremvölker Europas, die Spanier und die Russen, um den Erdball herum getroffen!

Die Japaner übernahmen die europäische Technik in 50 Jahren. Den Russen ist das, seit Peter dem Großen, auch heute noch nicht zur Gänze gelungen. Aber dafür schenkten sie Europa in einem einzigen Jahrhundert Puschkin, Gogol, Dostojewskij und Tolstoj — edite Beiträge zum europäischen Geist. Selbst die Nordamerikaner, die doch heute die Retter Europas sind, haben bisher das Abendland nicht in dem Maß geistig befruchten können wie jene Russen. Denn die Nordamerikaner bleiben, trotz ungeheuerster materieller Entfaltung, geistig doch immer noch ein Kolonialvolk — schon deshalb, weil sie keine eigene Sprache haben, und sich also in ihrem Innersten stets an der einstigen Sprachheimat orientieren müssen. Die Russen aber sind kein Kolonialvolk, weil sie eine eigene geniale Sprache haben, deren Pfingstfeuer die Isolation bereits durchschlagen hat. Die Russen sind ein europäisches Volk und haben Europa vor den Mongolen gerettet und Europa durch ihren Abfall vom Christentum verraten. Der Abfall entsprang einer Haßliebe zu Europa und einem bewundernden Nichtverstehen Europas. Die Wurzel dieses Nichtverstehens liegt im Schisma. Erst die Heilung des Schisma könnte auch den heutigen Weltgegensatz heilen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung