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Dreißig Jahre und ...

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Das neue Rußland, feiert in diesen Tagen aiuda in Wien mit festlichen Veranstaltungen seinen dreißigjährigem Bestand. Es ist dem Mitteleuropäer weltfern fremd, erscheint ihm afe eine andere Welt, in deren Gedanken und Gewohnheiten er nicht eindringen kann und mag und der leibhaftig zu begegnen ihn namenlos überrascht und erschreckt hat, so, als ob er plötzlich im eigenen Hause auf einen Riesen gestoßen wäre. Und doch ist es eine nachbarliche Welt, gewaltig in ihrer Massenanhäufung, in ihrer Bewegung und in ihrem Denken und Trachten. Gerade deshalb heißt es, sich mit ihr auseinandersetzen, ihr standhalten, ohne an vergebliche Fluchtversuche zu denken, vielmehr in dieser Nachbarschaft aus dem eigenen geistigen Besitze die Kräfte zur Selbstbehauptung sammeln.

Das Datum des Sowjetjubiläums erinnert an die zwei zeitlich nahe nebeneinanderliegenden Staatskatastrophen, deren umwälzende Wirkungen heute deutlicher als je sichtbar die ganze Welt überschatten. Die Gründung des Sowjetstaates vollzog sich mit dem Untergang des Zarenreiches, und anderthalb Jahre später erfolgte — nicht ohne ge-schiditliche innere Zusammenhänge — die Zertrümmerung der Donaumonarchie und der mitteleuropäischen Ordnung, der das Habsburgerreich Bestand verliehen hatte. Mit seltsamer Tragik hatte sich die warnende Voraussage Metternichs bewahrheitet, der nach dem berühmten Bericht des Generals Krasinski an Zar Nikolaus im Juni 1829 dem russischen Herrscher sagen ließ: „Ich weiß, um den europäischen Vulkan zum Erlöschen zu bringen, muß eine enge Verbindung zwischen Österreich und Kaiser Nikolaus, dem einzigen Herrscher, der scark und groß ist, bestehen; sollte es aber das Unglück wollen, daß Europa dem Gesetze der Ideologien und der träumerischen Köpfe unterliegen sollte, die den Souveränen zu dienen scheinen, dann kann ich versichern, daß Österreich als letztes zusammenbrechen wird.“ Beide Nachbarn, Rußland und das alte Österreich, waren zur Zusammenarbeit bestimmt; sie hatten im Südosten Europas an denselben Problemen ihre Staatskunst im Interesse des europäischen Friedens zu bewähren. In wichtigen Perioden fanden sie sich, um dann aber immer wieder sich durch „Ideologien und träumerische Köpfe“ trennen zu lassen. Das entscheidende tragische Ereignis wurde es, daß es dem eindringlichen Bemühen des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand und dann dem Eingreifen Kaiser Franz Josephs ein halbes Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Weltkrieges nicht mehr gelang, die auf ein Friedensbündnis gerichtete persönliche Aussprache mit dem russischen Herrscher herzustellen. Der Panslawismus hatte damals dafür gesorgt, daß es zwischen den beiden Höfen keine Brücke mehr gab.

Seltsam, wie dieses Trauimgebilde der russischen Seele eine geschichtliche Entwicklung von ungeheurer Tragweite bestimmte und idealisierte. Samlung der slawischen Völker des russischen Vorlandes und des Balkans unter dem Schutz des Mütterchens Rußland gegen die nahe islamitisch-asiatische Macht! Die Befreiergloriole umglänzt die Zarenkrone. Aber hier stoßen nicht nur West und Ost, sondern sehr reale Interessen zusammen, hier brauen die Wetter zu vielen Kriegen. Doch aus dem Dunste der russischen Ströme und der weiten Ebenen steigt immer wieder dieser Stern, ein messianischer Gedanke. Er durchweht jahrhundertelang die russische Psyche, gewinnt Ausdruck in der russischen Literatur, gestaltet das russische Weltbild. Tschaadajew, Khomjakow, Kire-jewski, Dostojewski sagen voraus, daß Europa untergehen muß, weil es seine Seele verloren und den Geist des Christentums aufgegeben hat, aber sie verheißen den Aufgang Rußlands, seinen Vortritt zum ersten Platz im göttlichen Heilswerk der Geschichte. Die Auferstehung ganz Westeuropas erwartet Dostojewski von dem „russischen

Christus“, die Erweckung der Erde aus revolutionärer Gottesfeindschaft und bourgeoiser materialistischer Wissenschaft und ratio-nalistisdiem Getue durch die russische Formung des Christentums. Gleich ihm sieht der leidenschaftliche Heide Konstantin Leontjew die bürgerliche Gesellschaft Europas „mit ihrer demokratischen Gleichheit, spießbürgerlichen Gerechtigkeit und weichlich-geschmacklosen Moral nur als eine Agonie und Zersetzung des wahren Lebens des Geistes, als ein Absterben im Sumpfe der nivellierenden Vermischung“. Rußland aber wird durch seinen kommenden Sozialismus berufen sein, Europa in der Geschichte abzulösen; Rußland wird ein „drittes Rom“ sein, russische Wesenheit, russischer Glaube werden die Menschheit retten. Als Mönch in der Klosterzelle endet der feurige Geschichtsphilosoph sein Leben, das ganz dem großen Traum gehört hatte. Ein Vierteljahrhundert später ist der Bolschewismus da, geboren aus den unterirdischen Revolutionsbränden langer Jahrzehnte, den Spannungen einer gewaltsam gebändigten, gegen jede Autorität kämpfenden Unterwelt und einer Literatur, die sich mit dem Staate zugleich von der russischen Staatskirche losgesagt hatte. Da gab es zunächst kein drittes Rom mehr. Im Bolschewismus verband sich das Bewußtsein der nationalen Sendung mit dem marxistischen Gedanken des Klassenkampfes und den Machtansprüchen einer neuen Regierungsform, die sich anschickte, mit Gewalt auch das geistige Herrschaftsgebiet der christlichen Kirchen zu zertreten. In Moskau waren 1936 von 430 orthodoxen Kapellen und Kirchen nur mehr 53 offen; die Häupter der Orthodoxie Rußlands flüchteten ins Ausland. Fast verlöschte die katholische Kirche unter den Verfolgungen. Und dann kam der große Umschwung, der in den Stürmen des deutschen Angriffs der othodoxen Kirche zwar nicht die Wiederherstellung der alten Rechte brachte, aber eine Epoche einleitete, in der der alte messi-anische Gedanke Rußlands, diesmal als Erlösung des Weltproletariats durch Moskau, seine neue Taufe empfängt. Ihr folgt die Erfüllung des nationalen panslawistischen Ideals, die Vereinigung aller West- und Südslawen unter dem Protektorat Moskaus. Die zwei großen tragenden Ideen des russischen Führungsanspruches: ein drittes Rom, säkularisiert und dienstbar dem großen Staatsplan, und die Vereinigung aller Slawen als gewaltigster, einheitlich gelenkter nationaler Völkerblock haben eine Art sichtbarer Realität gewonnen.

Man muß diese Zusammenhänge überschauen, um das Selbstbewußtsein zu verstehen, das diejenigen erfüllt, die hoffen, damit das Gesetz der europäischen Entwicklung zu bestimmen. Zweifellos hat Jaspers recht, wenn er in geistreicher, freilich von seiner Existentialphilosophie berührter Untersuchung* schreibt: „Rußland ist gewiß unendlich mehr, als die landläufigen Vorstellungen von Bolschewismus und Diktatur zeigen.“

Die Frage ist: Wie wird die zweite intime Begegnung zwischen Rußland und dem übrigen Europa enden, gibt es ein Ineinanderfließen der beiden Teile des Abendlandes, das ja doch nie hinter der galizisdien Grenze aufgehört hat? Man kann zu einer objektiven Antwort nur gelangen, wenn man nicht von den Bitternissen der augenblicklichen Lage ausgeht und gewillt ist, in größeren Raumkategorien zu denken. Es ist einmal für Rußland schicksalhaft geworden, als seine suchend herumirrenden Denker auf Marx — Lasalle — Engels und das Programm der kommunistischen Weltrevolution stießen. Rußland ist damals vom Westen ergriffen und erobert worden. Künftig ist es an einem aus Begnadung und aus seiner schöpferisch reformatorischen Kraft wirkenden Tatchristentum, voran der katholischen Welt, in dieses nachbarliche Gedankenreich in der eröffneten Begegnung ein Evangelium zu tragen, das überzeugender, mitreißender, sieghafter ist als die gewaltigen Zusammenballungen einer erdgebundenen Macht, die alle Legitimation aus irdischer Gewalt bezieht und deshalb folgerichtig in der Diktatur der obersten Machthaber gipfelt. Dazu bedarf es der starken Menschen des Geistes, der Fackelträger, der Bekenner, der Beter und — wenn es sein muß — der Märtyrer. Das andere werden dann nicht Menschen entscheiden.

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