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Erinnerung an Karl Kraus

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Karl Kraus war ein so geistiger Mensch, daß ihn öde Gesprächspartner sogleich auch körperlich an den Rand der Erschöpfung brachten. Eine schwache Theatervorstellung ließ ihn prompt einschlafen. Einmal hatte er bei einer solchen Vorstellung den Balkonsitz an der Brüstung. Beim Hellwerden bot sich folgendes Bild: Kraus lag in tiefem Schlaf mit seinem Kopf auf dem Plüsch der Brüstung, während seine Arme schlaff darüber herabhingen — unten im Parkett aber gab es Aufregung, weil sein Operngucker einer Dame in den Schoß gefallen war. Ein anderes Mal hatte ihn ein Dichter gebeten, der Vorstellung seines Stückes beizuwohnen. Es muß nicht sehr gut gewesen sein, denn Kraus war alsbald in seiner Loge fest eingeschlafen. Als er erwachte, befand er sich in einer totenstillen Finsternis — denn das Stück war längst zu Ende. Kraus hatte Mühe, den Ausgang zu finden, und es mußte extra für ihn aufgeschlossen werden. Einmal wurde in der Berliner Kroll-Oper Karl Kraus' Offenbach-Bearbeitung „Perichole“ aufgeführt, aber, trotz seines Protestes, mit falschen Streichungen. Während das Publikum vor Begeisterung tobte, war Kraus der einzige, der energisch pfiff. Feindselige Blicke streiften ihn, fast wollte man sich an dem einsamen Pfeifer vergreifen — ohne zu ahnen, daß gerade er das Stück auf die Bühne gebracht hatte.

Kraus hatte eine Vorliebe für das Wasser. Er war ein guter Schwimmer, und wir sind einmal im Mondsee um die Wette geschwommen. Wenn er auf seinen Autoreisen einen Wasserfall erblickte, hielt er sofort an, denn er mußte unter ihm baden. Dieses herabstürzende, sonnenglitzernde Naß war für ihn der Inbegriff der Schöpfungsgnade. Er badete in einem Symbol. •

In Wiener Zeitungen wurden zu vermietende Zimmer oft angezeigt mit der Lokalisierung „5 Minuten von der Oper“. Deren Möblierung hatte zumeist etwas typisch Geschmackloses.

In einem alten böhmischen Schloß hatte sich eine Gutsangestellte ihr Zimmer nach eigenem Gusto eingerichtet. Als Kraus das Zimmer sah, murmelte er: „5 Minuten von der Oper.“ •

Er aß nur einmal am Tage, aber dann mit Gusto. „Ich esse gurig aus Gier nach dem Nichtessenmüssen“, hat er geschrieben. Er hat sogar eine neue Speise erfunden. Das war der übliche Stumpfkegel von Vanilleeis, in welchem man oben mit dem Löffel eine Höhlung grub. In diese Höhlung gießt man ein glühendheißes Täßchen stärksten Mokka. „Der Mensch ist was er ißt“ — der ganze Karl Kraus war in dieser köstlichen, antithetischen Speise enthalten. — Seine Lust an der Antithese kam auch darin zum Ausdruck, daß er aus der wohligen Bettwärme direkt unter die eiskalte Dusche ging, und sich dann wieder ins Bett legte: „So hat man sich die Wärme erst verdient“, sagte er.

Einmal, etwa 1927, habe ich Karl Kraus und Adolf Loos, den genialen Architekten, zusammen gesehen. Sie liebten einander herzlich, waren in den Zielen ihres Lebenswirkens einig und blieben dennoch verschiedene Welten. Loos vertrat im ersten Weltkrieg den patriotischen Standpunkt, während Karl Kraus von Anfang an die Kulturkatastrophe erkannt hatte. — „Nun — habe ich nicht recht gehabt?“ fragte Kraus, während Loos das mit seinem Hörrohr entgegennahm und nichts erwiderte. Nachher aber, als wir mit Loos allein heimgingen, sagte dieser plötzlich: „Was will eigentlich der Kraus — er hat doch in allem Unrecht gehabt!“

In allem Schweren, was die Zeit brachte, war doch das Bewußtsein, daß Karl Kraus lebe, eine geistige Unterstützung. Man wußte: trotz allem erscheint doch wieder ein Heft der „Fackel“, die das Unsägliche zur Sprache bringt. Und wie wurde ein solches Heft dann gelesen! — zumindest vier- bis fünfmal. Ein gemeinsamer

Freund sagte mir zehn Jahre nach Kraus' Tod: „Seitdem Karl Kraus tot ist, ist die Welt langweilig geworden.“

Karl Kraus konnte nächtelang von dem verstorbenen Dichter Peter Altenberg erzählen. (Peter Altenberg, Adolf Loos und er bildeten einst das geistige Triumvirat Wiens.) Bei diesem Erzählen vollzog sich mit Kraus' Physiognomie, Gestik und Sprache eine seltsame Umwandlung: er wurde völlig zu Peter Altenberg! Diese geistige Auferweckung eines Toten war faszinierend und fast unheimlich. Eine der schönsten solcher Geschichten: P. A., der sich stets vis-ä-vis de rien sah, obwohl er ein Hunderttausend-Konto auf der Bank besaß, hatte seinen Freund Kraus an diesem Abend immer wieder angejammert: „Karl, gib mir zehn Kronen...“ Schließlich sagte Kraus: „Schau, Peter, ich würde dir das Geld gerne geben, aber ich hab's wirklich nicht.“ Darauf Peter, in großherziger Aufwallung: „Ich borg's dir.“

In irgendeinem Stück Hofmannsthals, das in aristokratischem Milieu spielt, wird die Mutter von den Kindern „Mamu“ genannt, wobei zu verstehen gegeben ist, daß diese Bezeichnung in dem Milieu allgemein üblich sei. Der Tatbestand ist folgender: Hofmannsthal war in ein Schloß auf dem Lande eingeladen. Dort nannten die Kinder die Mutter wirklich „Mamu“, doch es war bloß eine Eigenheit, wie ja jede Familie ihre besondere Sprache hat. Da hatte sich Hofmannsthal offenbar gedacht: „Aha, bei Aristokraten wird immer ,Mamu' gesagt!“ Diese Geschichte hatte die „Mamu“ selber Karl Kraus erzählt.

In der Nähe des Kraus-Tisches hatte ich einmal im Cafe eine Diskussion mit einem Kunsthistoriker. Es handelte sich um eine Kunstfrage, doch steckte hinter der Sachlichkeit ein persönlicher Antagonismus, so daß das Gespräch immer heftiger wurde. Da rief Kraus mit einem Lächeln herüber: „Meine Herren — werden Sie nicht sachlich, bleiben Sie persönlich!“

Seltsamerweise befanden sich Kraus' Werke nicht unter den auf dem Scheiterhaufen verbrannten Büchern. Vielleicht kam das daher, daß Goebbels in seiner Privatbibliothek die ganze „Fackel“ stehen hatte. Irgend etwas an dieser Figur des mutigen Einzelkämpfers muß den Nazis imponiert haben, wiewohl sie natürlich kein Wort von ihm verstanden. Anderseits haßten sie ihn selbstverständlich. In einer Kraus-Vorlesung wurde folgende Szene beobachtet: Herein stapften mehrere Nazis mit der offenbaren Absicht, einen Skandal zu inszenieren; darunter einer mit seinem Mädchen. Doch Kraus' Vortrag läßt ihre Absicht ersterben: vor dieser geistigen Stimme wagen sie nicht zu mucken und sitzen schweigend, ärgerlich da. Das Mädchen steht sichtlich unter dem Eindruck von Kraus und sagt leise, zu ihrem Gebieter aufblickend: „Aber er ist doch eigentlich gar nicht so—“ Darauf er: „Halt die Goschen!“ Als ich Kraus im Herbst 193 5 besuchte (sein Antinazi-Werk „Warum die Fackel nicht erscheint“, mit dem erschütternden Nachruf auf Dollfuß, war bereits vor einem Jahr erschienen), erzählte er mir, die österreichischen Nazi hätten dem Wiener Rundfunk eine Mitteilung zukommen lassen, sie würden bei der Machtübernahme reinen Tisch machen: Funktionäre, Sprecher, Autoren — alle würden sogleich in einem Bogen hinausbefördert werden. Mit einer Ausnahme: Karl Kraus dürfe bleiben. — Als aber, zwei Jahre nach Kraus' Tod, 1938 die Besetzung kam, erschien eine SS-Horde im Schreibzimmer von Kraus. Dort befand sich unter einem Glassturz die Nachbildung des Grabmals, das Kraus einer teuren Verstorbenen hatte setzen lassen. Das erste war, daß ein SS-Mann den Glassturz mit einem Kolbenhieb zertrümmerte. Dann warfen sie Kraus' Bibliothek auf ein mitgebrachtes Lastauto und fuhren mit unbekanntem Ziel davon. Unter diesen Büchern befand sich Kraus' Shakespeare-Ausgabe mit seinen eigenhändigen Strichen, Korrekturen und Abänderungen, denn aus ihr las er Shakespeare vor. Seine eigene Shakespeare-Ausgabe wurde nach dieser Fassung gedruckt. Nach Kraus' Tod hätten zwei weitere Bände (vier waren vorgesehen) in der so geläuterten, endgültigen Gestalt herausgegeben werden können. Falls man die geraubte Bibliothek nicht wieder auffindet, wäre das ein großer Verlust für die deutsche Literatur.

Se,ine glühende Menschenliebe oszillierte zwischen Glaube und Enttäuschung. Ich erzählte Kraus von einem finnischen Professor, den ich in Helsingfors kennengelernt hatte. Der hatte drei Jahre mit Steinzeitmenschen in Neuguinea gelebt, um sie genau zu studieren. „Worüber lachten denn die Steinzeitmenschen?“ fragte Kraus. — „Sie lachten, wenn jemand auf einer Bananenschale ausglitschte, und dann auch über erotische Dinge.“ — „Also derselbe Sauhaufen!“ sagte Kraus.

Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre hat Karl Kraus viele Radiosendungen im Berliner Rundfunk veranstaltet: Offenbach-Inszenierungen, Shakespeare-Inszenierungen, Nestroy-Vorlesungen und auch Vorlesungen eigener Gedichte. Die wichtigsten Stellen dieser Sendungen wurden auf Wachsplatten aufgenommen und fixiert. Die Aufnahmen waren im Rundfunkarchiv deponiert. Als die Nazis kamen, wurden diese Aufnahmen sekretiert. Ein Freund von mir knüpfte 1942 Bekanntschaft mit ejnem verständnisvollen Archivbeamten an und erhielt von dem ein vollständiges Register der dort vorhandenen Kraus-Auf nahmen: es waren über vierzig Nummern. Einmal hatten wir uns sogar eine Platte ausgeliehen, was für den mutigen Beamten ein Wagnis bedeutete. Diese Platte enthielt auf der einen Seite die wunderbare Metella-Arie aus Offenbachs „Pariser Leben“, von Kraus gesungen, und auf der anderen Kraus' Gedicht „Zum ewigen Frieden“. Wir hatten die Wohnung wegen der Verdunkelung dicht verhängt und legten nun in gespannter Erwartung die Platte aufs Grammophon. Aber man hörte nur grauenhafte Töne wie das Lallen eines

Taubstummen, denn diese Platte mußte von innen nach außen abgespielt werden, und dazu war der Arm unseres Apparates nicht eingerichtet. Wir versuchten es dann aber doch. Plötzlich war des Verstorbenen Stimme im Raum und sprach klar und deutlich: „Nie las ein Blick, von Tränen übermannt, / ein Wort wie dieses von Immanuel Kant...“ Dann brach die Stimme mit einem Klageton ab. In demselben Augenblick erdröhnten die Luftabwehrbatterien, denn es kam ein Angriff. Auch nach seinem Tod gab es bei Karl Kraus keine Zufälle.

Nach 1945 habe ich an das von den Russen besetzte Funkhaus geschrieben, um eine Sicherstellung dieser künstlerischen Schätze zu veranlassen. Ich habe auf meinen Brief keine Antwort erhalten.

Ich sah Karl Kraus das letzte Mal im November 1935, ein halbes Jahr vor seinem Tode. Es war mir gelungen, die damalige Tausendmarksperre für Reisen nach Oesterreich dadurch zu durchbrechen, daß ich einen Brief meines Wiener Verlegers vorwies, der mich dringend zu einer geschäftlichen Unterredung berief. Dieser Brief war von Kraus selber aufgesetzt worden und enthielt, unter der Maske strengster Geschäftsmäßigkeit, eine prachtvolle Satire auf den Nazismus. Als ich den Brief den Nazibehörden vorwies, war mir einen Augenblick doch bänglich zu Mut: „Was machst du“, dachte ich, „wenn der Mann wirklich zu lesen versteht?“ Glücklicherweise vermochte er es nicht, sondern drückte mit stolzer Miene den Passierstempel auf.

Als wir uns nach dem letzten Beisammensein um fünf Uhr morgens trennten und ich in mein Hotel gegangen war, wurde ich dort telephonisch angerufen. Es war Kraus. Er schien mit der Hellsichtigkeit des Genies zu ahnen, daß wir uns nie mehr sehen würden. Die Worte, die er damals zu mir sprach, bleiben die unvergeßlichste Erinnerung einer unvergeßlichen Freundschaft.

Wer Karl Kraus gekannt hat, erhielt einen neuen Begriff vom Menschentum. Man spürte plötzlich, was ein Mensch alles sein kann. So ähnlich muß Sokrates auf seine Zeitgenossen gewirkt haben.

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