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Ein bedeutendes Werk über Karl Kraus

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Karl Kraus. Beiträge zum Verstandnii einesWerke's. Von Werner Kraft. Otto-Müller-Verlag, Salzburg. 367 Seiten. Preis 98 S

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Karl Kraus. Beiträge zum Verstandnii einesWerke's. Von Werner Kraft. Otto-Müller-Verlag, Salzburg. 367 Seiten. Preis 98 S

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Vielleicht kommt es doch einmal dazu, daß Karl Kraus' Werk vom Weltbewußtsein aufgenommen wird. Das vorliegende Buch ist jedenfalls ein Schritt zu diesem Ziele. Dann wird ein durstiges Lesen der „Fackel“ anheben, ähnlich wie die ganze Welt einmal begann, Dostojewski oder später auch Kafka in sich aufzunehmen. Kraus' Unübersetzbarkeit wird dann keine Schranke mehr sein; man wird Deutsch lernen um seinetwillen. Allerdings kam der Leidenschaft für Dostojewski oder Kafka jeweils eine besondere Weltstimmung entgegen: bei Dostojewski das einsetzende Interesse für Psychologie und bei Kafka der pessimistische Surrealismus der dreißiger J;.hre. Welche Weltstimmung aber könnte sich in Karl Kraus bestätigt finden? Vielleicht ein neues Geistesklima der europäischen Reconquista, eine neue (nicht militärisch verstandene) Kampfzeit des kulturellen Sichwiederfindens. Jedenfalls bezeugt die Tatsache, daß dieses wichtige Buch geschrieben werden konnte, daß die Welt sich dem Erfassen von Karl Kraus mehr und mehr nähert. Denn eine Zeit schafft sich ststs die geistigen Hilfsmittel, die sie braucht.

Das vorliegende Werk, das sich bescheiden „Beiträge zum Verständnis“ nennt, imponiert zunächst einmal schon als Arbeitsleistung: welch ein Bienenfleiß hat dazu gehört, dieses zum Staunen reichhaltige Material zusammenzutiagen! Weil aber das so mobilisierte Material sich stets auf Beispiele stützt, sc wirkt das Buch zugleich unwillentlich wie eine Karl-Kraus-Chrestomathie, die den Neuling gleich mit der Sache selbst bekanntmacht. Da man an Karl Kraus nett lesen lernen muß, unterliegt kein Autor so wie er der Gefahr, vorbeigelesen zu werden; und eben das wird auf Schritt und Tritt von diesem Buche verhindert. Sieht man Werner Kraft bei dem Bemühen zu, sich einein Krausschen Gedichte geistig zu nähern, so gewahrt man, daß die I iteraturwissenschaft ein den letzten Jahrzehnten doch enorm viel zugelernt hat von der Geisteswissenschaft, der Psychologie und der Sprachmorpho-logie. Ein bloßer Sprachgclehrter indessen hätte diese verdienstvollen G e d i c h t - E r f a s s u n g e n (denn es sind nicht bloß Analysen) nie schaffen können, sondern es kam dazu, daß Werner Kraft eben auch ein Dichter ist und darum seine Gelehrsamkeit künstlerisch anwendet.

Das Buch gliedert sich in die umfangreichen Kapitel „Umrisse der Gestalt“, „Kindheit und Jugend“, „Lehrjahre“, „Der Satiriker“, „Sprache und Sprachkritik“, „Das Gedicht“, „Eros und der Dichter“, „Nachwort“. Höhepunkte des Werkes sind jeweils die Gedicht-Erfassungen, z. B. jene des Briefes der Perichole oder die Abteilung „Der Sonntag. Ein Motiv“. Diese Erfassungen sind so eindringlich, daß sie selbst heutigen Lesern die Wunderwelt der Krausschen Lyrik erschließen könnten.

Das stattliche Werk nennt sich „Beiträge zum ...“ und bekennt damit ein, daß nicht die ganze Fülle der Krausschen Persönlichkeit Umschriften wurde. Vielleicht überläßt es absichtlich die Schilderung der kulturellen und literarischen Situation des alten pesterreich seinem Vorgänger, nämlich Leopold Lieglers Buch „Karl Kraus und sein Werk“ (1920). Aber auch sonst blieb der tour d'horizon unvollständig: Krau als Dramatiker, die Entwicklung der Krausschen Prosa, Kraus im persönlichen Verkehr, Kraus als Regisseur, als Vorleser, als Sprachforscher usw. — das sind Gebiete, die vorläufig kaum berührt wurden und die Werner Kraft dem Leser hoffentlich in einem zweiten Band „Beiträge“ mit derselben Eindringlichkeit nahebringen wird. Jedenfalls ist bereits das vorliegende Buch das wichtigste, das über Kraus geschrieben wurde, und jeder, dem diese Sphäre etwas bedeutet, wird es lesen müssen. — Und doch wäre noch unendlich viel in bezug auf Kraus zu tun! Wir wissen z. B. von seiner Kindheit so gut wie nichts. Die Kräfte des Nichts und der Vernichtung, die sich bald nach seinem Tode über Oesterreich senkten, scheinen sich mit besonderem Ingrimm gerade auf seine Hinterlassenschaft gestürzt zu haben. Ich will hier nur ein Verzeichnis der wichtigsten Fragen geben, die Karl Kraus betreffen:

Sind die „über tausend Briefe“ an Baronin Nad-herny, die eine ganz neue Seite an Kraus offenbaren, erhalten geblieben?

Was ist aus dem von Professor laray mit Rolf Nürnberg und anderen ausgearbeiteten großen „Fackel“- Nachschlag regist.er geworden? Professor Jaray floh mit seiner Gattin nach Montevideo und ist dort gestorben. Hat er es damals mitgenommen? Existiert es noch?

Kapellmeister Bertil Wetzelsberger, der als Emeritus in Stuttgart lebt, erwähnte im Jahre 1941, daß er eine Dame kennengelernt habe, die Hunderte von Briefen K. K.s aus den Jahren 1906/07 aufbewahrt.

Wo blieb die Kraussche Bibliothek, vor allem sein Schlegel/Tieck-Shakespeare, der in Form von Blei-stiftkorrekturen die zwei fehlenden Bände der vierbändig geplanten Shakespeare-Ausgabe druckfertig enthielt? Diese Bibliothek wurde 193S von SS-Leuten geraubt, auf ein Lastauto geworfen und fortgefahren. Sie ist doch irgendwo abgeladen worden. Wo? Weiß jemand etwas davon?

Wo <ist der Karl-Kraus-Tonfilm „Reklamefahrten zur Hölle“ geblieben?

Karl Kraus plante die Herausgabe eines Auswahlbandes aus den im Laufe von dreißig Jahren an ihn gerichteten Schmäh- und Verehrungsbriefen. Die Sichtung der Kisten hatte ein Herr Dr. Berger übernommen. Lebt Dr. Berger noch? Was ist aus dieser Arbeit und deren Material geworden?

Ebenso plante Kraus einen Band der von ihm geschriebenen Briefe des „Verlages der Fackel“, von denen ja nur der geringste Teil in der „Fackel“ veröffentlicht wurde. Wo sind diese Briefe geblieben? Weiß jemand etwas?

Schon dieses unvollständige Register zeigt zum Erschrecken, wie zerstörend die Zeitkatastrophen gerade auf Kraus' Hinterlassenschaft gewirkt haben. Doch dabei sind das alles Kostbarkeiten, die eventuell noch aufgefunden werden könnten. Als endgültig verloren sind nur die vierzig Kraus-Tonauf-nahmen des Berliner Rundfunkarchivs zu betrachten. Sie sind verbrannt. —

Nun müßte ich zum Schluß eigentlich noch die Punkte erwähnen, in denen ich anderer Ansicht bin als der Verfasser Werner Kraft. Es ist ja klar, daß bei einem so umfangreichen Werk voll ästhetischer Werturteile auch manche mit unterlaufen, die dem jeweiligen Leser nicht akzeptabel sind. Und solcher gibt es auch für mich eine ganze Reihe. Doth wozu das? Wichtiger ist, daß das Buch als Ganzes ein gelungener Wurf ist, daß es wirklich so viel „zum Verständnis seines Werkes“ beiträgt wie kein anderes, und das nur eine tiefe Liebe Karl Kraus so tief erfassen konnte.

und so oberflächlich, daß wir uns nichts zu sagen haben. Und Stilgefühl ist in unserer gefühlvollen Zeit unterentwickelt. — Wenn dann jemand auftaucht und wirkliche Briefe schreiben kann, wundern wir uns. Ein solches Wunder sind Saint-Exuperys „Briefe an seine Mutter“. Ihr Hauptmerkmal ist, daß sie mit viel Zeit geschrieben sind. Mit Liebe und Verehrung, mit Bedacht und Humor, mit Freude am Wort schreibt der Sohn an seine Mutter: eine Selbstbiographie wurde daraus, in der Dank an die Mutter und an das Leben aufleuchtet.

Hier lacht der Aszet. Von Michael HoratczukSJ. Verlag Herold, Wien. 147 Seiten. Preis 46 S.

Im „Heiligen Jahr“ 1950 erhielten u. a. auch zwei bekannte amerikanische Humoristen eine Privataudienz bei Papst Pius XII. Der Heilige Vater forderte die Humoristen geradezu auf, dafür zu sorgen, daß in der Welt der Humor nicht aussterbe; denn die Welt habe zu wenig Humor! Wenn das nun schon für den weltlichen Bereich gilt, so müßte auch im religiösen Leben so vieles von der heiteren Seite betrachtet werden. Diesem spürt nun mit feiner Beobachtung und heiterer Gelassenheit der Verfasser nach. Es wird um vieles gebetet. Daß es aber auch ein Gebet um Humor gibt — der Verfasser stellt gerade ein.solches originelles Gebet vom hl. Thomas Morus seinen Betrachtungen voraus — dürften die wenigsten wissen. Der Humor ist zweifelsohne mitunter das einzige Heilmittel für so manche Situationen im menschlichen Leben, und nicht zuletzt für manche Erscheinungen bzw. Auswüchse im religiösen Leben. Hier ist das. Lachen in jedem Falle nicht nur gesünder, sondern auch christlicher. Eine Kostprobe dieses humorvollen Aszeten brachte die „Furche“ bereits in ihrer Ausgabe vom 3. November 1956: „Aus dem Tagebuch eines frommen Rauchers“, in welchem Kapitel erheiternd der fragwürdige Kampf eines Rauchers gegen die Zigarette geschildert wird. Oder eine halbe Heidin zum Beispiel erlebt einen Einkehrtag, indem sie die „frommen“ Seelen scharf unter die Lupe nimmt, um schließlich doch zum nächsten Einkehrtag wieder zu erscheinen. In jedem Falle versteht es der Aszet, auch dort, wo er anhebt zu klagen, lösend und erlösend zu wirken. Damit sind diese erheiternden Betrachtungen, in denen schonungslos, aber durchaus nicht verletzend der Ichsucht nachgespürt wird, zu einem willkommenen „Anstandsbuch“ für alle Christen geworden, die Humor und ein weites Herz haben. Und welcher echte Christ sollte letztlich keinen Humor haben? Für diejenigen aber, die noch das Lachen lernen müssen, sind diese Betrachtungen, die bereits fortlaufend im „Großen Entschluß“ erschienen sind, in Buchform veröffentlicht, um sie schnell bei der Hand zu haben, wenn eine wirksame Injektion notwendig ist. Möge dieses Buch dazu beitragen, daß es weniger „Trauerweiden“ unter den Christen gibt.

Gedichte. Von Ina Seidel. Festausgabe. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart. 310 Seiten. Preis 13.60 DM.

Wenn auch Ina Seidel ihre bedeutendsten Leistungen auf dem Gebiet der erzählenden Pros vollbracht hat, so darf man doch ihre lyrischen Werke darüber nicht vergessen. Bereits 1914 erschien ein erster Versband, dem noch eine Reihe anderer folgten. Die Festausgabe, die der Verlag zum 70. Geburtstag der Dichterin veranstaltete, enthält das Wichtigste aus ihrem lyrischen Schaffen.

Der Band hat drei große thematisch bestimmte Abschnitte: „Leben auf Erden“, „Gesicht und Gestalt“ und „Ewiger Weg“, die jeweils von „Kleinen Präludien“ eingeleitet werden. An diese Hauptteile schließen sich noch an: ein „Planetenspiel zur Sommersonnenwende“ (1925 aufgeführt) und zwei Nachdichtungen zeitgenössischer amerikanischer Lyrik.

Neben den bereits in früheren Ausgaben veröffentlichten Gedichten finden wir auch manches Neue. „Weltinnigkeit“ — dieser Titel eines einzelnen

Gedichtes und auch eines früheren Versbandes (1918) — könnte als sehr bezeichnend über der ganzen Sammlung stehen, denn die liebende Aufgeschlossenheit gegenüber Welt und Menschheit, dieses andächtige Hinhorchen auf die Sprache der Natur, dieses Gefühl eines besonderen Einklanges mit allem Geschaffenen — das aber nie vages Schwelgen in Emotionen bedeutet — ist der Dichterin in hohem Maße eigen. „O Einklang aller Welt mit meinem Blut“ (S. 62). Die Spannweite dieser dichterischen Ausdrucksfähigkeit ist groß; sie vermag der herben Darstellung der Wirklichkeit ebenso gerecht zu werden wie dem leicht Liedhaften, dem Traum und der Vision. Zu dem Reichtum an Gedanken, Bildern, Stimmungen und Farben gesellt sich noch die Vielfalt der Formen. Die Ballade ist vertreten, ebenso der Typus des „Dinggedichts“ („Melone“, „Die kleine Sonnenuhr“) und auch Verse von leisem, hintergründigem Humor finden sieh.

Das Lebensgefühl der Dichterin wird getragen von einer tiefen und reifen Erkenntnis des Unvergänglichen über dem Strom der flüchtigen Erscheinungen und Schicksale. Sie bleibt sich der ruhenden Mitte des kreisenden Lebensrades — dies ist ein Bild aus dem Schlußgedicht — stets bewußt und mahnt uns: „Die Richtung zu gewinnen / Auf die Ruhe mitten innen / Im Herzen der Ewigkeit.“ — Wer Ina Seidels dichterische Eigenart erfassen will, kann an diesem schönen, charakteristischen Gedichtband nicht vorübergehen.

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