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Zwanzig Advokaten für einen Karl Kraus

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Karl Kraus war ein unermüdlicher Prozessierer. 1959 erhielt die Wiener Stadt- und Landesbibliothek die seine Fälle betreffenden Akten und Korrespondenzen aus der Kanzlei des Anwalts Oskar Samek. Sie betreffen die Jahie von 1922 bis 1936.

Da diese Akten für'. jeben und Persönlichkeit von Karl Kraus äußerst wichtig sind, hat die Wiener Stadt-und Landesbibliothek beschlossen, dieses fast lückenlos gesammelte Material mit finanzieller Unterstützung der Camilla- und Wolfgang-Waniek-Stiftung in vier Bänden zu veröffentlichen. Herausgegeben wird die Edition von Herwig Würtz in einer Bearbeitung von Hermann Böhm, Leiter des Karl-Kraus-Archives der Wiener Stadt- und Landesbibliothek.

Für Hermauin Böhm als Literaturwissenschaftler stellte sich natürlich das Problem, wie man juristische Abläufe dem Publikum halbwegs nahe bringt. Im Hinblick auf die Riesenzahl der Schriftstücke mußte man eine Form finden, die das Wesentliche klar vor Augen führt: anklage, Klageerhebung, Lauf des Ermittlungsverfahrens, Urteilsfindung und Vollzug des Urteils. Ladungen und Bescheide sind in Originalform wiederzugeben. So entstand eine Mischform, wie sie etwa auch bei den Hof-mannsthal-Briefen angewendet wurde.”

Das Material wurde in drei Gruppen geteilt: Materialien in Form des Begests, das heißt kurze, präzise Zusammenfassung der Inhalte der Urkunden, im Original übereinstimmend, und Schriftstücke, die vollständig und in ihren wichtigsten Textpassagen wortgetreu wiedergegeben sind, die Karl Kraus selbst verfaßt hat, aber auch Briefe und Schriftstücke seiner Kollegen, schließlich Schriftstücke, die in einer kurzen, erläuternden Form wiedergegeben werden.

Der Anwalt Oskar Samek wurde am 31. Jänner 1889 in Wien geboren und ist am 28. Jänner 1959 in New York gestorben. Er erwarb das volle Vertrauen seines Klienten Karl Kraus. In enger freundschaftlicher Verbundenheit bildeten sie ein. festes Team, um gemeinsam den Kampf gegen journalistische Gewissenlosigkeit und staatliche Korruption zu führen.

Im Lauf der Jahre haben nicht weniger als 20 Juristen die Interessen von Karl Kraus vertreten, aber Oskar Samek war mit seinen 33 Jahren zuletzt, bis zum Tod Kraus' am 12. Juni 1936, dessen alleiniger Vertreter in allen privaten und publizistischen Rechtsangelegenheiten.

Der zuletzt erschienene Band I umfaßt die Jahre 1922 bis Anfang 1927, enthält aber Briefe bis Oktober 1929. Dazu Hermann Böhm: „Kraus führte in jenen Jahren hauptsächlich den publizistischen und juristischen Kampf gegen den ungarischen Zeitungsherausgeber Emmerich Bekessy. Kraus hat die verbrecherischen Machenschaften, etwa die Anzeigenerpressungen im Boulevardblatt ,Die Stunde', angeprangert. In diesem Kampf, der von beiden Seiten mit Erbitterung geführt wurde, ist es Karl Kraus tatsächlich gelungen, einen Erfolg zu erzielen, indem Bekessy Mitte 1926 Wien verlassen mußte und sein Eigentumsrecht an der ,Stunde' weitergab. Ob seine Flucht einzig und allein der Initiative Karl Kraus' zuzurechnen war, bleibt allerdings offen.

In diesem Zusammenhang ist auch die problematische Auseinandersetzung mit Anton Kuh zu erwähnen, der zeitweise Mitarbeiter ' der ,Stunde' war.”

Der dritte Schwerpunkt des ersten Bandes ist die Auseinandersetzung von Karl Kraus und dem deutschen Literatur- und Theaterkritiker Alfred Kerr.Sameks Kanzlei, die sich ursprünglich am Schottenring befand, übersiedelte 1933 in das elterliche Wohnhaus im 15. Bezirk, Reindorfgasse 18. Hier entwickelte sich die Kanzlei zum Katalysator und Resonanzboden für das Wirken von Karl Kraus. Wie schaffte er es, solche Prozesse finanziell durchzustehen?

Hermann Böhm: „Kraus war nicht so wohlhabend, wie es vielleicht von seiner Umwelt angenommen wurde, obwohl ,Die Fackel' in den Anfangsjahren bedeutende Gewinne abgeworfen hat, die sich allerdings in den zwanziger und dreißiger Jahren sehr reduzierten. Kraus hat von der Familienrente gelebt, die ihm durch den Verkauf der väterlichen Papierfabrik zufiel. Samek hat dieses kleine Vermögen für Kraus verwaltet und auch einiges davon in der Schweiz angelegt. Er hat für seine anwaltliche Tätigkeit nur zum Schein ganz geringes Honorar von Karl Kraus empfan-gen.”

Nach dessen Tod war Samek der Testamentsvollstrecker. Er selbst erhielt fast die Hälfte aller von Kraus gesammelten Bücher und den größten Teil des Inventars seiner Wohnung in der Lothringerstraße 6. Dazu Böhm: „Bedingt durch das unklare Testament, das Karl Kraus selbst verfaßte, das von Juristen als Kodizill bezeichnet wird und an dem Oskar Samek nicht mitgewirkt hat, ist eine sehr verworrene Situation entstanden, die nach dem Krieg zu Auseinandersetzungen zwischen den Erben führte. Es waren drei Personen als Erben im Testament genannt.

Um die Erinnerung an seinen besten Freund wachzuhalten, ließ Samek das Mobilar des Arbeitszimmers in eine aufgelassene Tischlerwerkstatt im Hinterhof seines Wohnhauses (Sameks Eltern waren Möbelhändler) bringen und richtete es originalgetreu wieder ein; selbst Vorhänge, Teppich, Spiegel, Beleuchtung, Schreibutensilien, Fotografien und Bilder fehlten nicht. Er ordnete die hinterlassenen Bücher und hoffte, es durch eine Art von Museum der Nachwelt erhalten zu können.

Leiderhaben Gestapomänner 1938 davon erfahren und alles beschlagnahmt, die Bücher vernichtet und Samek war gezwungen, Österreich noch im gleichen Jahr zu verlassen. Einzig die Prozeßakten und die damit verbundene Korrespondenz nahm er mit in die Emigration. Nach seinem Tod gelangten die gesammelten Mappen als Legat aus den USA zurück nach Österreich und konnten dem Wiener Karl-Kraus-Archiv übereignet werden.

Band II der Edition soll noch im Laufe dieses Jahres erscheinen, so Böhm: Die Arbeit ist „abgeschlossen und dokumentiert, vor allem den vergeblichen Kampf gegen den Wiener Polizeipräsidenten Schober, den Karl Kraus für Ereignisse des 15. Juli 1927, am Tag des Justizpalastbrandes, verantwortlich macht. Es ist aber Karl Kraus nicht gelungen, Schober zu einer Verantwortung zu bewegen.”

Das Erscheinen der Bände III und IV mit einem Gesamtregister ist für das Jahr 1996 geplant.

Karl Kraus hat aus Dankbarkeit gegenüber seinem langjährigen Anwalt Oskar Samek, diesem das Nachkriegsdrama „Die Unüberwindlichen” gewidmet. Er wollte ihm in diesem Stück durch die Erwähnung eines Advokaten namens „Dr. Maske” seine Ehre und auch seine Anerkennung erweisen.

Nach dem Krieg, meint Bearbeiter Böhm, „schien es eine Zeitlang, daß Karl Kraus und sein Werk der Vergessenheit anheim fallen würde”, denn seine Verehrer und Kenner waren zum Großteil in alle Welt verstreut. Daß es anders kam, ist in erster Linie das Verdienst des damaligen Wiener Kulturstadtrats Viktor Mate-jka und Kennern wie Edwin Haiti und anderen zu danken, die sich schon vor dem Krieg mit dem Werk von Karl Kraus intensiv auseinandergesetzt haben, und die zunächst durch die Gründung einer Karl-Kraus-Ge-sellschaft eine Kraus-Benaissance einleiteten.

Höchstwahrscheinlich ist es ihnen auch zu verdanken, daß das Kraus-Erbe von Helene Kann 1955 zurück nach Wien in die Stadt- und Landesbibliothek kam. Die Bestände werden laufend durch weitere Ankäufe, soweit dies finanziell möglich ist, ergänzt. Dadurch ist das Karl-Kraus-Archiv zur bedeutendsten Kraus-For-schungsstätte der Welt geworden.”

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