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Wien im Winter 1918

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Im Spätsommer des Jahres 1918 kam ich nach Wien an unsere Gesandtschaft. In wenigen Wochen erlebte ich das Auseinanderbrechen der Donaumonarchie, die Flucht des letzten Kaisers nach der Schweiz und die todesmatte Revolution.

Ein Bekannter, der einen Teil des Krieges in Bern als Diplomat gelebt hatte, gab mir damals eine Empfehlung an seine betagte Mutter, die in einem großen Hause aus den sechziger Jahren an dem alten, schönen Platz, dem Hohen Markt, ihre Wohnung hatte. Die ganze Wohnung war abgeschlossen, nur ein Zimmer wurde benützt; dort brannten ein Azetylenofen und eine Azetylenlampe. Heizmaterial gab es nicht. Eine kluge, höchst eigentümliche Siebzigerin hauste in dem einen Raum, ein Bösendorfer-Flügel stand da, auf dem sie altmodische Walzer und Polkas komponierte, und neben dem Himmelbett mit seinen Musselingardinen war ein großes Marionettentheater aufgebaut; die Puppen — alle von ihr selbst aus Lindenholz geschnitzt und mit Flicken bekleidet —, sä stellten das ganze alte Österreich dar in seinem unendlichen Reichtum an Typen. Dieses Theater war der beste Unterricht, den ich in österreichischer Geschichte und Soziologie genossen habe. Draußen schlechtes Winterwetter, der Schnee nie aus den Straßen weggeräumt, Krankheit und Dunkel, denn Straßenbeleuchtung gab es kaum; schon setzte die Inflation ein, die Korsaren, die Aasgeier kamen aus aller Herren Ländern und raubten die Stadt aus, entkleideten sie ihres Schmuckes, ihrer Freude, verwüsteten und demoralisierten: droben aber im sechsten Stock des alten noblen Miethauses am Hohen Markt, bei erfinderisch abgeblendeter Beleuchtung, spielte sich das ganze altösterreichische Leben in der herrlichen, von Kleist einmal so unvergleichlich erkannten, tief-Inneren und unzerstörbaren Grazie der Marionetten ab. Einmal in der Woche, abends, nach Tisch, pflegte ich hinzugehen, ich war stets der einzige Gast. Etwas gespensterhaft war es immerhin.

An einem Abend Mitte Dezember 1918 aber wurde alles mit einem Schlag geistig bewegt und spannend. Ich erschien etwas später als zur gewohnten Stunde, im eiskalten Flur der Wohnung brannte eine Kerze, ihr Licht beleuchtete einen Herrenmantel und einen, wie mir schien, besonders großen, harten Hut. Der Besitzer dieses Hutes saß schon vor den Marionetten, und das Stück hatte begonnen. Es spielte in Graz, und ein Hofrat aus Wien unterhielt sich mit einem Feld-marschalleutnant, der pensioniert in Graz lebte, und der ihm von Radetzkys Feldzügen berichtete. Ich hatte alle Muße, das starke, gespannte Profil des Gastes zu betrachten, der mit größter Aufmerksamkeit zuhörte und dessen Gesicht im Umriß fast grell beleuchtet war. Plötzlich brach die Aufmerksamkeit ab, der Unbekannte erhob sich und sagte sehr rasch: Verzeihen Sie, man kann es kaum ertragen heute, es ist alles noch zu nah.“ Sofort sanken die Puppen in sich zusammer, die alte Dame zog den Vorhang des Theaters und trat vor, um uns bekannt zu machen. Hofmannsthal gab mir seinen charakteristischen festen Händedruck mit den fünf Fingern, indem er die ihm gereichte Hand hastig wegstieß, und dann begann sein Gespräch. Er war damals fünfundvierzig Jahre alt. „All das ist jetzt vorüber und wird nicht wiederkommen; dieser Krieg ist das Sichtbarwerden einer Revolution, die im Laufe des Jahrhunderts alles in Frage stellen wird, w?s wir sind und was wir eigst besaßen.“ Er sprach anders als irgend jemand, den ich vorher oder nachher sprechen gehört habe. Die Fülle des Gesprächsinhalts, die Deutlichkeit, die er der Tiefe und der Vielfältigkeit des Gedankens zu verleihen vermochte, die Leichtigkeit, mit der er vom einen zum anderen gelangte, die Lebendigkeit des immer sicheren, immer gegenwärtigen, in der Wahl stets bedeutenden Bildungsinhalts, die gedankliche Eigenart, die stets schöpferisch dem Erlebnis, der eigensten Erfahrung folgte; die Abwesenheit jeden Effekts, jeder Fälschung, die eigentümliche Trauer und bittere Voraussicht, die das Gespräch gewissermaßen ethisch spannten; die Herzlichkeit, der Humor, die e6 beständig versöhnten — es war eine Gegenrede zwischen mehreren, glanzvoll sichere Prägung lateinischer Art über einer klaren, lauteren Gemütstiefe, in der es dann hin und wieder aufblitzte wie vom Widerschein eines fernen Wetterleuchtens bitteren, scharfen Klugseins aus dem ältesten Erbteil, das diese Natur mit so vielem anderen vereinigte.

An jenem Abend gingen wir zusammen nach Hause; es war die erste helle Nacht jenes furchtbaren Winters; Schnee war gefallen und zierte Barockhäuser, Brunnen und phantastische Pestsäulen. „Gehen wir noch bis zum Heiligenkreuzerhof“, sagte Hofmannsthal, „das ist wie Mozart aus Gitterwerk und Stein.“ Als wir auf den stillen Hof kamen, schwebten zwar noch die beschwingten Putten musizierend auf den Säulen des Toreingangs, aber die beiden schmiedeeisernen Torflügel fehlten. Ein zerlumpter Heimkehrer, der da herumstrich, um irgendwelche Abfälle zu sammeln, näherte sich uns, und indem er uns anbettelte, berichtete er, die Tore seien von einem Amerikaner gekauft worden.

Hofmannsthal wohnte in Rodaun, In Wien hatte er eine schöne Dachwohnung, zwei Zimmer als Absteigequartier in der Stallburggasse; über die Dächer sah man auf den Stephansturm. Wenn man spät in der Nacht, besser in den frühen Morgenstunden, auf der kleinen Dachterrasse stand, hörte man regelmäßig das Klappern von Holzschuhen auf dem Pflaster — ein später Trinker, der aus der letzten Wirtschaft nach Hause ging. Jetzt werden gleich die Hähne krähen“, sagte mir Hofmannsthal, als wir einmal lange im Gespräch verweilt hatten, das ist der Peter Altenberg, der nach Hause geht.“

Es ist sehr schwer, wenn man auf das abgeschlossene Dasein eines Menschen zurückschaut, den ersten Eindruck wieder wachzurufen der einer solchen Beziehung vorausging. Der Volksmund sagt, der erste Eindruck sei der richtige, Ich habe dies nur im Sinne der Wichtigkeit, des Grades gewissermaßen, bestätigt gefunden, den eine neu herantretende Persönlichkeit hat oder für einen zu bedeuten imstande ist; über die Zuträglichkeit, den zukünftigen Glücksgehalt einer Begegnung hat mir dieses Gefühl nie etwas ausgesagt — wenn man auf diese ausginge, würde man ja auch ein armes Leben führen.

Die Begegnung mit Hofmannsthal hat mich als jungen Menschen vorerst beschwert. Nicht daß man die ihm eigene, in Augenblicken so erstaunliche Güte und verhaltene zarte Kraft des Herzens verkannt hätte; aber es war anderes vorhanden, das mächtig von ihm ausging — vor einigen Wochen sagte mir in Genf Claudel: .11 pesait une terrible fatalite sur lui“, und das ist wahr. Wahr in einem antiken Sinn. Er stand mitten in einem gewaltigen Schicksalsvorgang, in dessen Brennpunkt gewissermaßen, und etwas Fahles, ja Unheimliches konnte ihn in Augenblicken umlagern, weil er vielleicht einer der wenigen Menschen war, die innerhalb der Generation mit dem Wesentlichsten, das damals zu versinken begann, eins waren, und weil er das Herankommen neuer, zerstörender Wellen beständig spürte, als rollten sie seinen eigenen Weiten und seinen eigenen Abgründen zu. Er war einer und viele zugleich; in Momenten konnte sich sein Gesicht mit dem schönsten sinnenden Blick plötzlich wandeln, ein anderes werden, als gehe etwas durch ihn hindurch, nehme Besitz von ihm. Sein Erkennen umspannte beständig, als einen Teil seines eigenen lebendigen Wesens, eine Anzahl von Welten in ihrer höchsten Essenz, Welten, die, niemand außer ihm mehr zugänglich, einmal ihre Sinnbilder entfaltet hatten und nun schon zum anderen Reiche gehörten, das ihn beständig anrührte und in das er manchmal auf einen Atemzug unterzutauchen schien, um dann verstört und wie ein Geschlagener aufzutauchen, oder aber von einer Kraft und Würde umgeben, die man nie vergißt, wenn man einmal von ihr berührt wurde.

Hofmannsthal war ein selten ausgeprägter Sinn für geistigen Besitz gegeben, und eine stete Angst, ja ein Schrecken vor dem Untergang dieses Besitzes war in ihm. Gerade aus dieser fast metaphysischen Sorge heraus wußte er, was bevorstand, und beständig erlebte er herzzerreißende Trennungen. Er lebte ebenso gegenwärtig im Gestern wie im Morgen. Ihm war keine der Illusionen gegeben, mit denen die meisten sich über das Heute hinwegtrösten, bis es als Schicksal hereinbricht; er sah es scharf, so unbestechlich, so illusionslos, daß er alles Absterben des in der Kultur verwirklichten Lebens als an seinem eigenen Fleische empfand. Ganz anders als jene, die meisten, die zu ihrem Heile das Nahen der Katastrophen nicht spüren und die, wenn sie eintreten, sich erstaunlich rasch und leicht an das irgendwie geartete Neue gewöhnen, da ja nach allen Zusammenbrüchen, wenn man sie überlebt, immer noch irgend etwas da ist. Das menschliche Gedächtnis — und hier handelt es sich um lebendiges und nicht um totes Wissen —, das menschliche Gedächtnis ist, zum Schutze vor Leiden, ungeheuer kurz. Sein Gedächtnis war ganz inkommensurabel; es reichte in solche Tiefe, daß er als Korrelat, ja als Funktion dieses Gedächtnisses dasjenige brauchte, was man mit Vorahnung bezeichnen mag. Im Sommer 1913 war er in Paris, um mit Diaghilew zu arbeiten. Er fühlte sich ungeheuer beschwert — plötzlich fuhr er weg, nach Wien, wie ein Ertrinkender hatte er gefühlt, was seinem Vaterland, was dem Kontinent bevorstand, und hatte es auch ausgesprochen.

Hofmannsthal besaß in den späteren Jahren seines kurzen Lebens die Fähigkeit, vergangene Epochen nicht von außen, sondern aus ihrer Empfindungswelt, ihrem Ethos, von innen zu erleben. Er las Shakespeare oder Racine mit der Empfänglichkeit eines Zeitgenossen, dem alle später Gekommenen ernst gebend und nehmend zugleich In die Augen schauen. Das hat nichts mit dem armseligen Worte „anempfinden“ zu tun! nein, hier vollzog sich ein mächtiger männlicher Vorgang, der mit Hofmannsthals eigentümlicher Beziehung zum Zeitbegriff zusammenhing. Er hatte in der Tat zum Zeitablauf, als einer menschlichen Vorstellungsgabe, eine völlig andere Beziehung als die übliche, und dies nicht im Sinne der Spekulation, sondern des Darüberstehens, des an tödliche Gefahr streifenden Freiwerdens von dieser großen Sicherung unseres Vorstellungsraumes, In den wir eingebettet sind. Sein Wissen und Erkennen war im platonischen Sinne ein Sicherinnern.

Dies, um das Unheimliche anzudeuten, das mich zuerst an jenem Abend berührte. Ich zögerte tatsächlich drei Wochen lang, seiner Einladung Folge zu leisten. Erst dann fuhr ich an einem Sonntag nach Rodaun hinaus.

Aus dem Buch Hugo von Hofmannsthal“. Die Gestalt des Dichters im Spiegel der Freunde. Von Helmut A. Fiechtner. Erschienen im Humboldt-Verlag, Wien.

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