"Kinderreime sind ein Stück Heimat“

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Die Schweizer Pädagogin und Autorin Silvia Hüsler sammelt Märchen und Kinderverse, um die sprachliche Heimatlosigkeit von Migranten einzudämmen - und macht mit ihren Büchern Kindern wie Erwachsenen Lust auf Mehrsprachigkeit.

Es ist Sonntag. Ein kleiner Wolf schleicht sich in den leeren Kindergarten, alles will er beschnuppern und den Turm aus Bauklötzen erklimmen. Da kommt es, wie es kommen muss: Er stürzt ab, wird müde und legt sich in einem Pantoffel schlafen. "Wie sagt ihr denn zu Pantoffel? Kennt ihr den Ausdruck überhaupt?“ fragt Silvia Hüsler die Erstklässer, die um sie herum im Kreis sitzen. "Wir sagen Patschen!“ tönt die vielstimmige Antwort in der Halleiner Stadtbücherei. Immer wieder hält die zierliche 69-Jährige beim Vorlesen ihres Bilderbuches "Besuch vom kleinen Wolf. Eine Geschichte in acht Sprachen“ kurz inne und stellt Fragen in die Runde. "Ich spreche ein etwas anderes Deutsch als ihr, ich rede Schwiizerdütsch. Also versuch ich es einmal: Der kleine Wolf kuschelt sich in einen Paaatschen!“ Da müssen die Siebenjährigen, viele mit Migrationshintergrund, lauthals lachen - und widersprechen: "Das A ist kurz, Patschen, das geht doch ganz einfach!“

Sprache als Teil der Identität

Den Schatz der Muttersprachen in die Welt der Kindergärten und Schulen zu zaubern - das ist Silvia Hüslers Mission. Zum Beispiel, indem sie auf die acht unterschiedlichen Schriftbilder in ihrem Buch aufmerksam macht oder die Bezeichnungen für "Wolf“ in den Muttersprachen der anwesenden Kinder sammelt. Als Expertin für interkulturelle Pädagogik weiß sie, dass die Erstsprache ein wesentlicher Teil der Identität ist - nicht nur bei Kindern, sondern auch bei jenen Pädagoginnen und Müttern, mit denen sie im Salzburger Literaturhaus oder in den Stadtbüchereien von Salzburg und Hallein arbeitet, reimt, lacht und so das Sprachbewusstsein fördert.

Ihr Engagement begann, als Hüsler Methodiklehrerin an der Pädagogischen Hochschule im Kanton Aargau in der Nähe von Zürich war: "Damals waren plötzlich sehr viele italienische Kinder an den Schulen“, erinnert sich die Expertin, die mit ihrer Familie bis heute in Zürich sowie im italienischen Rialto lebt. "Heute sind die Italiener ja die Lieblingsimmigranten der Schweizer, aber damals war die Reaktion ähnlich dem heutigen Umgang mit türkischen Zuwanderern.“ Hüslers Idee, die Muttersprache einzubeziehen, stieß anfangs auf wenig Gegenliebe: "Die Kinder sollen Deutsch lernen“, lautete der Tenor. Doch viele Kindergärtnerinnen gaben der Pädagogin Recht. Die Kinder selbst blühten auf, sobald sie auf Italienisch angesprochen wurden. Sie lernten umso leichter Deutsch, je besser ihre muttersprachlichen Kenntnisse waren. Auch der Kontakt zu den Eltern verbesserte sich.

In den frühen 1980er Jahren schrieb die zweifache Mutter, die ihren Töchtern zum Einschlafen oft und gern die Internationale vorsummte, schließlich ihr erstes, eigenes Kinderbuch - und zwar aus Alternativlosigkeit: "Die anderen Bücher haben im Grunde alle die gleiche Geschichte erzählt: Ein armer ausländischer Bub oder ein Mädchen kommt neu in die Klasse und wird von niemandem gemocht. Auf Grund einer besonderen Leistung wird er oder sie aber schluss-endlich akzeptiert. Doch dieser Zugang hat als Zielgruppe weniger die Kinder mit Migrationshintergrund vor Augen gehabt als die einheimischen Leserinnen und Leser“, ärgert sich die Autorin bis heute: "Die sollten Erbarmen mit den Ausländerkindern haben und nett sein. Nur, so funktioniert es nicht!“ In ihrem eigenen, ersten Buch schrieb sie hingegen eine Geschichte von Bären, die sich auf einem internationalen Kongress trafen, sich anfreundeten und ihre unterschiedlichen Erfahrungen austauschten: Der eine trug ein Lied vor, der andere einen Vers. Jeder war wichtig.

Elterlicher Sprachschatz

Ein Motto, das heute insbesondere auch für die Eltern von Migrantenkindern gilt, weiß Hüsler, die bis zum Jahr 2000 auch Vizepräsidentin der eidgenössischen Kommission für Ausländerfragen war: "Will die Integrationspolitik auf den Boden kommen, dann braucht es die Erfahrungen der Eltern, selbst bei der Bildung ihrer Kinder wesentlich beitragen zu können“, ist sie überzeugt. "Diese Eltern haben einen enormen Schatz an Worten, Spielen und Versen aus ihrer eigenen Kindheit, doch in der Fremde wollen oder besser müssen sie sich anpassen und vergessen auf diesen Schatz. Dabei sind Kinderreime ein Stück Kultur und Heimat.“

Die Förderung der Erstsprache beginnt freilich mit ihrer Anerkennung im öffentlichen Raum, ist die engagierte Schweizerin überzeugt - wie eben hier in der Halleiner Stadtbücherei. "Meine Sprache ist immer bei der grünen Wolfstatze“, ruft ein kleines Mädchen aufgeregt und zeigt stolz auf die entsprechende Passage in Silvia Hüslers Buch. "Ich lese euch jetzt den Text auf Türkisch vor!“

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