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Müssen Jugendbücher so sein?

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Seit die Kampagne gegen Schmutz und Schund die Oeffentlichkeit aufgeschreckt hat, seit es immer wieder bekannt wird, daß jugendliche Missetäter sich vor Gericht auf den Einfluß irgendeines „einschlägigen“ Films oder Buches berufen, machen sich Eltern und Erzieher Sorgen um die Lektüre ihrer Kinder. Ungeduldig fordern sie „gute Bücher für die Jugend“. Auch die offiziellen Stellen lassen sich diese Aufgabe angelegen sein: es gibt Preise für die besten Jugendbücher, es gibt Jugendbibliotheken und Jugendberatungsstellen, und kürzlich wurde in der Bundesrepublik Deutschland eine „Woche des Jugendbuches“ abgehalten.

Trotzdem bleiben die guten Jugendbücher rar. Die Umtauschaktion, die im Zuge des Kampfes gegen Schmutz und Schund in vielen Städten veranstaltet wurde und bei der die Jugendlichen ihre alten Schundhefte gegen gute Jugendliteratur einhandeln konnten, hatte zwar einen guten Erfolg, aber auch die eingetauschten Bücher sind inzwischen gelesen. Wenn der Nachschub ausbleibt, fängt die leidige Geschichte von vorne an. •

Was lesen also die Halbwüchsigen? Feststeht zunächst: sie lesen viel. Zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr bricht bei den meisten aufgeweckten Kindern die Lesegier aus, unvermeidlich wie die Masern und ununterdrück-bar wie das pausenlose Fragenstellen der Vier-und Fünfjährigen. Viele Kinder lesen in diesem Alter tausend bis zweitausend Seiten in der Woche. Es ist die Zeit, in der Buben und Mädchen erstmalig aus dem ausschließlichen Bereich der Familie und der Schule heraustreten, den eigenen unternehmungslustigen Geist und seine Möglichkeiten zu entdecken beginnen und nicht müde werden, sich über die Welt, in der sie nun leben, zu informieren. Wenn im Volksschulalter die Wahl der Lektüre noch fast ausschließlich den Eltern und Erziehern überlassen war, so beginnt der Halbwüchsige nun seinen eigenen Interessen nachzuspüren. Er wählt, was ihm wichtig vorkommt, und lehnt ab, was ihn langweilt. Die Märchen und phantastischen Kindergeschichten schiebt er beiseite; ungeduldig verlangt er nach „wirklichen Büchern“.

Eine Wiener Mittelschule hat unter Zehn- bis Fünfzehnjährigen eine Umfrage über die Bücher veranstaltet, die die Kinder in den legten Wochen gelesen hatten. Das Ergebnis ist aufschlußreich: Unter den angegebenen Titeln waren die' ausgesprochenen Jugendbücher, vor allem bei den über Zwölfjährigen, in verschwindender Minderzahl. Bei den Vierzehn- und Fünfzehnjährigen .dominierten jene Bücher, die auch auf dem normalen Büchermarkt Bestsellerruflagen erreichen und die vermutlich auch die älteren Geschwister und Eltern der Befragten gelesen hatten. Die Listen waren beinahe ein repräsentativer Querschnitt durch den Standardbestand der Leihbibliotheken und durchschnittlichen Buchhandlungen: Annemarie Selinko, Pearl Euck, Margaret Mitchell bei den Mädchen; 08/15, Chessmans Bericht aus der Todeszelle und die „Meuterei auf. der Caine“ bei den Buben, dazu Science Fiction und Reisebücher. Reichlich vertreten waren aber auch Autoren wie Graham Greene, Thornton Wilder und Hemingway, und zwar fast ausschließlich jene Titel, die in deutschen Taschenbuchausgaben erhältlich, sind. Ein fünfzehnjähriger Rechts-intellektueller präsentierte die folgende eindrucksvolle Aufstellung: die „Kritik der reinen. Vernunft“, „Die Welt als Wille und Vorstellung“, „Also sprach Zarathustra“, „Der Wille zur Macht“, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ von Chamberlain, Hitlers „Mein Kampf“, eine Studie über „Religion und Zivilisation vom Standpunkt des Psychiaters“ und einige Gedichtbände von Rilke und Weinheber. Tiergeschichten, Buben- und Mädchengeschichten von der Art, wie sie etwa der Buchklub der Jugend empfiehlt, wurden zwar gelesen, aber meist von wesentlich jüngeren Kindern. „Dieses Buch war mir zu fad; es ist viel zu naiv für mich“, schrieb lakonisch ein zehnjähriges Mädchen über eine für ihr Alter bestimmte Kindergeschichte.

Eine Anfrage bei einer Wiener Buchhandlung, die eine Kinder- und Jugendabteilung unterhält, ergibt dasselbe Bild: die Jugendlichen selbst kaufen vorwiegend — schon des niedrigen Preises wegen, der sie für ein Gymnasiastentaschengeld erschwinglich macht — Bücher aus den Taschenbuchreihen, während Mütter und Tanten immer noch die Trotzkopf- und Nesthäkchenbände verlangen, die sie selbst als Kinder gelesen haben, sofern es nicht — etwa bei einem Geburtstagsgeschenk — „etwas Wertvolles fürs Leben“ sein soll. (Man wird dabei den Gedanken nicht los, daß die Käuferinnen dabei mehr ein repräsentatives Stück für die Aussteuer als ein zum Lesen bestimmtes Erzeugnis der Literatur im Sinn haben.) Karl May, der bei den Vätern und Onkeln nach wie vor an erster Stelle steht, ist allerdings auch bei den Söhnen und Neffen noch beliebt.

Diese Entwicklung gibt Anlaß zum Nachdenken. Ist die Jugend plötzlich erwachsen geworden? Die Welt des Kindes, die unschuldige, abgeschlossene und behütete Welt der Jungmädchenbücher und Kindergeschichten, scheint sie nicht mehr zu interessieren, ja, sie glaubt sie nicht mehr; sie nimmt sie den Erwachsenen einfach nicht mehr ab. Jugendbücher, die deutlich als solche zu erkennen sind, werden von vielen Jugendlichen mit größtem Mißtrauen entgegengenommen. „Was für Kinder ist, ist meistens ein Pflanz“, meinte ein skeptischer Dreizehnjähriger zu einer wohlwollenden älteren Kusine und legte damit den Finger haargenau an die heikle Stelle: was eigens für Kinder zurechtgemacht wird, ist nämlich in der Tat oft ein Pflanz, d. i. ein recht fragwürdiges Gespinst aus Halbwahrheiten, eine erfundene, freundlichere Welt, in der überängstliche oder sentimentale Erwachsene ihre Kinder so lange wie möglich erhalten wollen. Aber sie täuschen sich damit meist nur selbst: die Kinder, kühl sachlich und scharfsichtig geworden, verlangen in der Literatur nur nach einer. Wirklichkeit, die sie ohnehin schon kennen. Einen großen Teil des Tages sich selbst überlassen, hören und sehen sie allerlei; Radio, Film und Zeitung bringen sie in täglichen Kontakt mit einer Umwelt, die mit Pensionatsstreichen und zahmen Feriengeschichten nur wenig gemein hat. Das verwunschene Kinderland, in dem die heranwachsenden Kinder angeblich leben, ist in den meisten Fällen nur noch eine Fiktion in den Köpfen mancher Erwachsener. .

Damit soll selbstverständlich nichts gegen die guten, heiteren und ansprechenden Jugendbücher gesagt werden, die zu allen Zeiten ihre Berechtigung behalten werden. Kein vernünftiger Mensch wird seinen Kindern auch gewaltsam ihre Illusionen zerstören oder ihnen Bücher in die Hand geben, die in einem jungen Geist ernsten Schaden anrichten können. D. H. Lawrence gehört ebensowenig in Kinderhände wie der Marquis de Sade. Wohl aber, so scheint tt, wird sich die Grenze zwischen „Büchern für Jugendliche“ und „Büchern für Erwachsene“ immer mehr verwischen.

Das ist im Grunde nichts Neues. Die meisten der klassischen Jugendbücher wurden ursprünglich für Erwachsene geschrieben, Melvilles „Moby Dick“ ebenso wie Coopers unsterblicher „Lederstrumpf“. Sie haben sich gehalten, nicht weil sie gute Jugendbücher, sondern weil sie gute Bücher sind. Aehnlich verhält es sich mit den jetzt so beliebten Reiseschilderungen von der Art des Kon-Tiki-Berichtes oder der Bücher Herbert Tichys, die zu Recht in billigen Jugendausgaben erscheinen; auch hier sind die Autoren keineswegs professionelle Verfasser von Jugendgeschichten, sondern sie haben ein gutes Abenteuer gut erzählt, und wenn die Kinder diese Geschichten gerne hören, so beweisen sie-damit einen Sinn für Qualität, dem man mehr Vertrauen schenken könnte.

Die moderne Welt der Erwachsenen, die wirkliche Welt, deren Fülle und Vielfalt sich in einer reichen Literatur spiegelt, ist über die Kinder nicht unversehens und verwirrend hereingebrochen; sie haben sie selbst betreten und fühlen sich in ihr zu Hause. Man sollte ihre Entdeckungsfahrten nicht allzu ängstlich auf einen ausgewählten und präparierten Sektor — eben den der Kinderwelt — beschränken, sondern ihnen ein wenig von der selektiven Freiheit gönnen, die sie so offensichtlich zu nutzen verstehen. Wenn wir in einem Jugendlichen einen vernünftigen und verantwortlichen Menschen sehen, dann können wir hoffen, daß er, richtig geleitet, auch ein vernünftiger und verantwortlicher Leser wird.

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