Vernünftigkeit und religion
Die Frage nach der Rechtfertigung Gottes (Theodizeefrage), warum es Unheil in der Welt gibt, wenn es doch einen liebenden, fürsorglichen Gott gibt, der nur das Gute will und allmächtig ist, stellt viele Menschen, die gerne an Gott glauben würden, aber auch viele, die schon an Gott glauben, vor eine große Herausforderung. Diese Frage will Gott Vernunftkriterien unterordnen. Kann es aber sein, dass Gott eine andere Vernunft in uns anspricht? Der Koran spricht vom Herzen als Ort des Verstehens (Sure 7:179) und meint damit eine andere Vernunft als die des Verstandes, die den Menschen berührt, ihn entzündet, ihm Vertrauen, Geborgenheit und Liebe schenkt. Es ist die Vernunft des Glaubens.
Diese Vernunft kann jedoch blockiert werden, wenn Glaube nur als kognitiver Akt verstanden wird, wenn der Koran als Gesetzesbuch gelesen wird und juristische Aussagen aus dem Koran abzuleiten alles ist, was den Rezitator beschäftigt. Dabei geht etwas verloren.
Der Koran berührt nur das Herz, das sich von ihm berühren lässt. Nicht nur Aussagen über Gott, über seine Barmherzigkeit und Fürsorge berühren das Herz, auch Aussagen über den Menschen.
Nach meiner Aussage in der TV-Sendung kreuz & quer, wir sollten Koranstellen, die sich auf die gesellschaftliche Ordnung beziehen, in ihrem historischen Kontext lesen, um den Sinn hinter den Buchstaben zu verstehen, schrieb ein Kollege, der meinte, diese meine Aussage bringe mich aus dem Glauben heraus, weil sie Gottes Wort verfälschen würde. Schade, dass es unter den muslimischen Theologen noch solche gibt, die den Koran unbedingt mit den Augen eines Juristen lesen wollen. Dann fällen sie entsprechende juristische Urteile über die Menschen. Was aber auf der Strecke bleibt und verdurstet, ist das Herz. In der Tat, entweder nehmen wir diese koranische Aussagen wörtlich oder ernst.
* Der Autor ist Prof. f. Islam. Religionspädagogik an der Uni Münster
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