Die Sieger waren ratlos

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Der steinige Weg zum Nürnberger Prozess

Deutschland am 1. Mai 1945. Städte in Schutt und Asche, keine Bahnen, unpassierbare Straßen. Kinder ohne Milch, Männer, die an Straßenlaternen baumeln, auf der Brust das Pappschild "Ich bin ein Deserteur". Städte ohne Wasser, Gas, Strom, Brot. Hitler ist tot. Sein letzter Adjutant General Burgdorf war einer von denen, die ihn mehrere Tage vor dem Selbstmord, als er schon aufgeben wollte, überredeten, weiterzukämpfen. Tausende Menschen starben in diesen wenigen Tagen, Hunderte Häuser wurden noch zerschossen. Fassungslos starrt Burgdorf den Rundfunkkommentator Hans Fritzsche an: "Sie wollen kapitulieren?"

"Ja."

"Dann muss ich Sie niederschießen. Der Führer hat in seinem Testament jede Kapitulation verboten. Es muss bis zum letzten Mann gekämpft werden."

Fritzsche kann sich die Bemerkung nicht verkneifen: "Auch bis zur letzten Frau?"

Burgdorf reißt die Pistole heraus, zwei, drei Männer stürzen auf ihn zu und schlagen seine Hand in die Höhe. Der Schuss geht in die Decke. Martin Bormann, Burgdorf und einige andere verlassen den Bunker der Reichskanzlei. Ein Vierteljahrhundert später wird man bei Bauarbeiten ihre Skelette finden.

Fritzsche geht als Parlamentär zu den Russen. Ein Unteroffizier liest mühsam die Worte "Sie sind verhaftet" von einem Blatt. Damit ist der zweite spätere Nürnberger Angeklagte in der Hand der Alliierten. Den ersten, Rudolf Heß, haben sie schon seit seinem bis heute von Geheimnissen umwitterten Alleinflug nach England am 10. Mai 1941.

Was tun mit ihnen?

"Reichsmarschall" Hermann Göring fährt im gepanzerten Mercedes, 17 Lastwagen mit Gepäck hinter sich sowie Frau, Zofe, Leibkoch und Kammerdiener im Gefolge, den Amerikanern entgegen. US-Brigadegeneral Stack gibt ihm die Hand, was er noch bitter bereuen wird, und gestattet eine improvisierte Pressekonferenz. Zum letzten Mal sitzt Göring in einem gepolsterten Sessel.

In einem überfüllten Gefangenenlager in Berchtesgaden schneidet sich ein Deutscher die Pulsader auf, wird gerettet und murmelt etwas von Gewissen, er heiße Hans Frank: Hitlers Generalgouverneur in Polen. Kanadische Kriegsschiffe stoppen ein Schnellboot, das von Flensburg nach Holland zu entkommen sucht. An Bord der "Reichsstatthalter" der Niederlande, der Österreicher Arthur Seyß-Inquart. Briten umstellen auf der Suche nach Heinrich Himmler das Lazarett der Marineschule Mürwik und finden Hitlers "Chefideologen" Alfred Rosenberg. Er hat sich im Suff den Knöchel verstaucht. Der Führer der "Deutschen Arbeitsfront" Robert Ley wird als zitterndes Nervenbündel mit falschen Papieren in einer Almhütte gefasst. Ein US-Major namens Henry Blitt sagt zu einem alten Maler, der hinter seiner Staffelei vor einem Bauernhaus hockt, er sehe Hitlers Oberantisemiten Julius Streicher ähnlich. Dem "Maler" fällt die Kinnlade herunter: "Woher kennen Sie mich?" Ein Deutscher, der als Dolmetscher bei einer US-Militärdienststelle in Österreich untergekommen ist, gibt sich freiwillig als Baldur von Schirach, ehemaliger Reichsjugendführer und Gauleiter von Wien, zu erkennen. Außenminister Joachim von Ribbentrop wird aus einem Bett gezogen, in dem er sich schlafend stellt.

Von den führenden Militärs hat keiner zu fliehen versucht. Feldmarschall Keitel wird nach der Unterzeichnung der Kapitulation zunächst als Kriegsgefangener abgeführt. Der von Hitler zu seinem Nachfolger bestimmte Großadmiral Dönitz darf mit seiner "Reichsregierung" noch einige Tage in Flensburg amtieren, dann wird auch er mit seinen Ministern Albert Speer und Alfred Jodl verhaftet.

Die "Hauptkriegsverbrecher" hätte man. Aber was tun mit ihnen? Im Falle Serbiens konnte das heutige Europa auf das Modell Nürnberg zurückgreifen. 1945 gab es keinerlei Erfahrung mit einer solchen Situation. Nie zuvor hatten hochrangige Politiker und Militärs für so grauenhafte Verbrechen geradestehen müssen.

Die Weichen, über die der Zug im Fall MiloÇsevi´c nach Den Haag fuhr, wurden zum Teil schon im Vorfeld des Nürnberger Prozesses gestellt. Und wenn auch die "Sterne eines neuen Völkerrechts", die der amerikanische Hauptankläger Robert H. Jackson in seiner Eröffnungsansprache vom Himmel holen wollte, bis auf weiteres am Firmament blieben, kann diese Weichenstellungen heute niemand mehr ignorieren. Man muss sich das damalige Fehlen jeder einschlägigen Erfahrung vergegenwärtigen, um die Ratlosigkeit der Sieger wirklich verstehen zu können.

Churchill gegen Stalin

Noch im Juni 1945 gingen die Hauptkriegsverbrecher, wenn sie nicht verhört wurden, im Garten eines Hotels im luxemburgischen Bad Mondorf spazieren. Noch immer war sich niemand über ihr weiteres Schicksal im Klaren. Sie einfach an die Wand zu stellen, wie es die Russen am liebsten getan hätten, schied aus. Sollte man sie auf Lebenszeit auf eine einsame Insel verbannen, was die Briten plötzlich für das Gescheiteste hielten? Ihnen einen Prozess machen? Wenn ja: vor einem deutschen, einem neutralen, einem alliierten Gericht? Sollte er öffentlich abgehalten werden oder geheim?

Die Sieger waren sich nur in einem einzigen Punkte einig: Darin, dass die Anstifter des Zweiten Weltkrieges und die Schuldigen an den Untaten in den besetzten Ländern bestraft werden mussten.

Im November 1944 hatte Stalin in Teheran zu später Stunde den berüchtigten Trinkspruch auf die "möglichst rasche Justiz einer Erschießungsabteilung" ausgebracht, "und es müssen ihrer mindestens 50.000 sein", worauf Churchill aufgesprungen war und erwidert hatte, lieber lasse er sich an Ort und Stelle in den Garten hinausführen und selbst erschießen, "als meine Ehre und die meines Volkes durch eine solche Niedertracht zu beschmutzen". Am 9. Februar 1945, während der Konferenz von Jalta, hatte Churchill Stalin noch einmal daran erinnert, dass die Nazihäuptlinge nur gemäß einem gemeinsamen Beschluss bestraft werden konnten: "Dieses Ei habe ich persönlich gelegt!" Er blies den Rauch seiner Zigarre durch die Nase, lächelte Stalin sonnig an und fuhr fort: "Sie müssen wissen, dass ich den Entwurf für diese Bestimmung in unserer Moskauer Erklärung selbst ausgearbeitet habe!"

Churchill hatte die Weichen zum Prozess gestellt. US-Präsident Roosevelt war in dieser Frage indifferent geblieben. Doch plötzlich brachten die Briten Bedenken vor. Vielleicht legten sie wenig Wert auf die Erörterung des Heß-Fluges oder ihrer Vorkriegsbeziehungen mit Deutschland. Der "Napoleon-Plan" (Verbannung auf eine Insel) geisterte wochenlang durch die ehrwürdigen Gänge des Außenministeriums, wurde aber außerhalb von niemandem ernst genommen. Auch die Briten waren ja an den von Churchill ausgeheckten gemeinsamen Beschluss gebunden. Die Franzosen zeigten ebenfalls wenig Freude an einem öffentlichen Verfahren. Die Russen waren nach wie vor für die Erschießungsabteilung und der Karren schien festgefahren, als jener Mann auf dem Plan erschien, der wusste, was er wollte.

Robert H. Jackson war Richter am obersten US-Bundesgericht. Er war als Sonderbeauftragter des neuen Präsidenten Truman seit Wochen zwischen London und Paris und kreuz und quer durch Deutschland unterwegs gewesen, hatte Wagenladungen erbeuteter Akten gesichtet und Belastungsmaterial gefunden, das für einen Teil der Angeklagten vernichtend war. Wenn je eine Anklage auf solidem Grund gebaut war, dann diese, das war seine feste Überzeugung. In der Londoner Konferenz über die Behandlung der deutschen Kriegsverbrecher, die am 26. Juni begann, ergriff er sofort die Initiative. Es müsse auf jeden Fall ein Verfahren vor den Augen der Weltöffentlichkeit sein. Ein neutrales Gericht komme nicht in Frage, dafür habe dieser Krieg zu wenig Neutrale hinterlassen. Die Franzosen meinten, Angriffskriege seien kein Kriminaldelikt, die Sowjets sträubten sich gegen jede Festlegung, was ein Verbrechen sei und gegen jeden Versuch, den Prozess zum Ausgangspunkt eines verbindlichen Völkerrechts zu machen, doch Jackson setzte sich auf der ganzen Linie durch. Der Prozess war beschlossene Sache, das in London ausgearbeitete Statut trug dem Tribunal auf, sich mit keinen Fakten zu befassen, die mit den Anklagen nichts zu tun hatten.

Entschlossener Zugriff

Jackson schlug auch den Ort des Prozesses vor: Das zerstörte Nürnberg besaß wie durch ein Wunder eines der wenigen intakten deutschen Gerichtsgebäude. Die Londoner Konferenz war eine jener unklaren Situationen am Rande eines Patt, die es einer starken Persönlichkeit mit eindeutigen Absichten und entschlossenem Zugriff leicht machen, die anderen zu überfahren. Was im konkreten Fall der Sache zugute kam. Hätte Jackson auch den Prozess dominiert, wäre das der Sache der Gerechtigkeit weniger dienlich gewesen. Doch eine Woche vor der Eröffnung des Verfahrens kam es zur Kraftprobe zwischen dem starken Mann der Anklage und Lordrichter Lawrence, den der Gerichtshof zu seinem Vorsitzenden gewählt hatte.

Jackson wollte auch einen Exponenten der deutschen Kriegswirtschaft auf der Anklagebank sehen. Doch der dafür ausersehene 76 Jahre alte Gustav Krupp von Bohlen und Halbach verstand nicht mehr, was um ihn vorging. Jackson beantragte, in Abwesenheit gegen Krupp zu verhandeln. Worauf Lawrence fragte: "Finden Sie, dass der Gerechtigkeit gedient ist, wenn ein Mann verurteilt wird, der sich wegen Krankheit nicht ordnungsgemäß verteidigen kann?" Jackson, der die Situation erfasste, antwortete wütend: "Nein!"

Mit der weiteren Frage des Vorsitzenden an den britischen Hauptankläger, ob ein Mann in der geistigen und physischen Verfassung Gustav Krupps nach britischem wie nach amerikanischem Recht für verhandlungsfähig erklärt würde, war der Fall erledigt.

Der französische Ankläger Dubost hatte nun die undankbare Aufgabe, eine Ersatzlösung vorzutragen: Man möge einfach Krupps Sohn auf die Anklagebank setzen. Lawrence überließ es dem französischen Richter Donnedieu de Fabres, seinen Landsmann anzuherrschen, ob er es dem Gericht wirklich zumuten könne, einen Namen in der Anklageschrift durch einen anderen auszutauschen. Der junge Krupp wurde trotzdem verurteilt, aber nicht von diesem Gericht.

Nach dieser Szene war klar: Die Richter waren kein Vollzugsorgan der Anklage. Es würde ein Prozess der Richter sein. Der starke Ankläger musste mit einem starken Vorsitzenden rechnen. Dank diesem starken Vorsitzenden kann der Nürnberger Prozess heute seine Rolle als Vorbild spielen. Es ist also gerade Lawrence zu verdanken, wenn Jacksons Konzept von den Sternen eines neuen Völkerrechts spät, aber doch vielleicht noch aufgeht: An Nürnberg sollten in Zukunft auch die Sieger gemessen werden, doch Nürnberg steht für ein Verfahren auf dem sicheren Boden des Straf- und Menschenrechtes.

Fortsetzung und Schluss im Feuilleton der nächsten furche: Keine politischen Straftäter, sondern Mörder.

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