6561741-1948_52_03.jpg
Digital In Arbeit

Der Zwielichtkrieg

19451960198020002020

(Die Zeit vom 3. September 1939 bis 10. Mai 1940)

19451960198020002020

(Die Zeit vom 3. September 1939 bis 10. Mai 1940)

Werbung
Werbung
Werbung

„Winston ist wieder da!” wurde am frühen Nachmittag des 3. September 1939 von der britischen Admiralität der seit einigen Wochen in Scapa Flow zusammengezogenen Heimatflotte signalisiert. Das war an jenem Sonntag, an dem Großbritannien und Frankreich der nationalsozialistischen Regierung wegen des Überfalls auf Polen den Krieg erklärten und Churchill auf Ersuchen Chamberlains als Kabinettsmitglied und Marineminister in die Regierung eintrat, an der er seit elf Jahren nicht mehr teilgenommen hatte, er, der unermüdliche Warner vor den Eroberungsgelüsten Hitlers. Elf Monate vorher war Neville Chamberlain mit der Pose eines Triumphators aus München zurückgekehrt, beim Verlassen des Flugzeugs der ihn erwartenden Menge das Papier entgegenschwenkend, das die Friedensversicherungen des deutschen Diktators enthielt. Nicht erst jetzt, schon fünfeinhalb Monate später, als sich Mitte März Hitler auf das heißbegehrte Prag stürzte, war diese Apaise- mentpolitik zusammengebrochen, doch nun war nach den verzweifelten Bemühungen Chamberlains, nach all den Erfahrungen selbst in der polnischen Schwierigkeit noch ein für Hitler annehmbares Kompromiß zu finden, die Herausforderung unerträglich geworden. Die öffentliche Meinung in England verlangte in diesem Augenblicke die Kriegserklärung an Deutschland. Das stand hier außer Frage. Anders lagen die Dinge in Frankreich. Dort hatte man zur Zeit der deutschen Rheinlandbesetzung die sofortige Mobilmachung verlangt, war aber daran durch die englische Regierung gehindert worden. Heute weiß man, daß Frankreich recht hatte, denn es hätte den Krieg vermieden und den weiteren Aufstieg Hitlers gehemmt. Allein der Wille Großbritanniens war stärker gewesen. Dies war er auch jetzt wieder. Nur widerwillig ließ sich die französische Regierung Daladier von Chamberlain nun in den Krieg ziehen, von diesem unglückseligen Linkshänder, der mit seinem unerwarteten Flug zu Hitler Ende September 1939 den zur Beseitigung des verblendeten Diktators verschworenen deutschen Generalen in den Arm gefallen war. Hatte Frankreich nicht vielleicht auch jetzt wieder recht? Wie hätten sich die Dinge entwickeln können, hätten die Westmächte nun, Gewehr bei Fuß, das Zerwürfnis zwischen Hitler und Stalin wegen der Aufteilung der östlichen Beute und der Einflußsphären abgewartet? Vieles spricht dafür, daß der Augenblick, den Neville Chamberlain für den Kriegseintritt Großbritanniens gewählt hat, von allen Gelegenheiten seit 1936 der allerunglücklichste war.

Jetzt sjh sich der eigensinnige Mann, dessen Regenschirm mehr Aussicht hat, in die Geschichte einzugehen als seine politische Perspikazität, nach parlamentarischer Unterstützung seines Kabinetts um, dem nicht nur Labour und Liberale, sondern sogar ein Flügel der eigenen Partei oppositionell gegenüberstanden. Aber auch in dieser Stunde der äußeren Gefahr wiesen ihm die beiden anderen Parteien die kalte Schulter, nur die konservativen Dissidenten unter Führung Churchills und Edens waren bereit, die Streitaxt zu vergraben und ihre besten Männer in das Kabinett zu entsenden. So bezog Winston Churchill am Abend des 3. September das nämliche Arbeitszimmer, in dem er als Erster Lord der Admiralität des Kabinetts Asquith schon den Ausbruch des ersten Weltkrieges mitgemacht hatte. Nur hieß der Mann an der Spitze Deutschlands jetzt nicht Wilhelm II., sondern Adolf Hitler, und die Sowjetunion war nicht wie das Zarenreich an der Seite der Westmächte in den Krieg eingetreten, sondern hatte es vorgezogen, zunächst Deutschland als Rückendeckung zu dienen.

Nun ereignete sich etwas, das in der neueren Geschichte kaum seinesgleichen hat: der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs folgte keine Kriegführung. Die deutschen Generale des Nürnberger Prozesses haben die Untätigkeit der Westmächte während des deutschen Feldzuges in Polen als ein Wunder bezeichnet, das sie vor den größten Schwierigkeiten bewahrt hatte. Der sogenannte Westwall sei damals nur von fünf Divisionen besetzt gewesen und im ganzen habe Deutschland zu Ende September den 110 Divisionen der Alliierten bloß 23 entgegenzustellen gehabt. Hitler in seiner krankhaften Unterschätzung des Gegners, deutete das passive Verhalten der West-machte dahin, daß diese ernstlich einen Krieg gar nicht führen wollten, und gab sich sogleich dem Wohn hin, sie würden nach der Niederwerfung Polens sein Angebot, sich mit ihnen wieder — das heißt, bis zu seinem nächsten Raubzug — zu vertragen, dankerfüllt annehmen. Churchill gibt im zweiten Buch des I. Bandes seiner neuen Memoiren , das soeben in deutscher Sprache erschienen ist, und im Englischen den Titel „Twilight War” führt, für die Lethargie, in der Großbritannien und Frankreich die ersten Monate des Krieges „zur Verwunderung der ganzen Welt” verharrten, zwei andere Gründe an, und zwar für Frankreich die Wirkung der Verständigung Stalins mit Hitler auf die französischen Kommunisten, die auf ein Stichwort Moskaus hin den ganzen Krieg als ein imperialistisches Verbrechen gegen die Demokratie erklärten (welche Argumente sie hatten, den Nazikrieg gegen Polen nicht unter diese Klassifikation fallen zu lassen, blieb ein Geheimnis); und für England — abgesehen von der Rückständigkeit der britischen Luftrüstung — die innenpolitische Schwäche des Kabinetts Chamberlain, dem die Gewerkschaften ihre Unterstützung versagten.

Immerhin fielen in die acht Monate des Zwielichtkrieges der erfolgreiche Kampf Englands gegen die deutsche magnetische Mine, das Seegefecht an der La-Plata-Mün- dung„ das mit der Selbstversenkung des „Grafen Spee” endete, verschiedene, allerdings vergebliche Versuche, dem von Rußland angegriffenen Finnland zu Hilfe zu kommen, sowie der „A!tmark”-Zwiscbenfall in den norwegischen Gewässern. Dieser Zwischenfall bildete das Vorspiel zu der deutschen Aktion gegen Norwegen, mit der der Krieg zwischen den Westmächten und Deutschland im April 1940 erst lebendig wurde. Churchill hatte in seiner Stellung als Erster Lord der Admiralität schon früher mehrere Maßnahmen zur Einleitung einer Offensive vorgeschlagen, von denen die meisten gar nicht zur Durchführung kamen, so unter anderen sein Plan einer Forcierung des Skagerraks und Kattegatts, um die Ostsee unter britische Herrschaft zu bringen. Nur die Verminung der norwegischen Gewässer, Plan „Wilfred”, und die Lahmlegung der Schifffahrt auf dem Rhein durch Anbringung von Flußminen, Plan „Royal Marine”, beides Aktionen, die auf Churchills Initiative zurückgehen, wurden verwirklicht. „Royal Marine” übrigens nur nach Überwindung von Widerständen des französischen Kriegskomitees, das, wie Churchill schreibt, jeden Vorschlag verwarf, dessen Ausführung Repressalien gegen Frankreich hätte nach sich ziehen können. Die Verminung der norwegischen Gewässer geriet mitten in den deutschen Angriff gegen Polen hinein.

Die Darstellung Churchills zeigt auf vielen Seiten die mannigfachen Schwierigkeiten, die aus der militärischen Bürokratie Englands und, solange in Frankreich Daladier am Ruder war, auch aus Reibungen mit den leitenden Stellen in Paris für eine initiative Kriegführung entstanden. Diese Dinge besserten sich erst, als in Frankreich Rey- naud an die Stelle Daladiers trat und als nach dem Ausscheiden Lord Chatfields aus dem Kabinett Chamberlain Churchill den Vorsitz in der „Kommission für militärische Koordination” übernahm. Gänzlich sollten sie mit dem Aufstieg Churchills zur Premierschaft behoben werden. Aber eine so starke und impulsive Persönlichkeit wie Churchill, ließ sich auch früher, solange die Widerstände noch andauerten, nicht davon abhalten, überall nach dem Rechten zu sehen und mit der erforderlichen Energie auf den höchsten Stand der Bereitschaft zu dringen. Sehr aufschlußreich sind in dieser Hinsicht Churchills Mitteilungen über die geheimen Verhandlungen General Gamelins mit den Belgiern. Nach diesen Mitteilungen war in dem französisch-englisch-belgischen Plane D auch der Einmarsch in Holland über Antwerpen und die Besetzung der holländischen Inseln Walch eren und Beveland vorgesehen, um die Deutschen schon am Albertkanal zum Stehen zu bringen.

Wie aus dem von dem französischen Journalisten Cartier auf Grund der Aussagen im Nürnberger Prozeß verfaßten Büchlein „Secrets de la guerre” (Librairie Artheme Fayard, Paris) hervorgeht, hatte Hitler seine Generaloffensive im Westen mit der Überrennung Hollands, Belgiens und Luxemburgs, gegen die Warnungen der Generale Brauchitsch und Guderian, schon für den 12. November 1939 vorgesehen. Anhaltend schlechtes Wetter veranlaßte ihn, den Angriff von Woche zu Woche zu verschieben, bis er für den 19. Jänner 1940 den unwiderruflichen Befehl zur Aktion unter allen Umständen gab. Einen Zwischenfall konnte er allerdings nicht voraussehen: daß der ganze Angriffsplan einige Tage früher in die Hände des Feindes fallen würde. Ein Generalstabsoffizier einer deutschen Luftdivision hatte aus seinem Standort geheime Dokumente und Karten in das Hauptquartier nach Köln zu bringen. Um Zeit zu gewinnen, überflog er das dazwischenliegende belgische Gebiet und wurde durch einen Maschinendefekt auf diesem Territorium zu einer Notlandung gezwungen, wobei es ihm nicht mehr gelang, seine Papiere zu vernichten. Nach Aussage Keitels habe Hitler auf diese Meldung hin die Mauern seines Arbeitszimmers mit Faustschlägen bearbeitet. Die ganze Operation wurde dann auf das Frühjahr verschoben. Der Kriegsplan Hitlers, der im Gegensatz zu dem ihm von seinem Genenalstab vorgeschlagenen erweiterten Schlieffen-Plan, einen Massenangriff mit dem Gros der Armee im Süden gegen Sedan und mit Richtung auf Abbeville bestimmte, wurde, trotz dem Zwischenfall des 12. Jänners, fast unverändert mit den am 10. Mai eröffneten Operationen durchgeführt. Die Leiter des französischen und belgischen Generalstabs hielten den Kriegsplan für so abenteuerlich, daß sie den ganzen Zwischenfall für eine Irreführung ansahen.

In der Absicht, den Feldzug in Frankreich mit einer Landung in England zu krönen, unternahm Hitler einen Monat vorher den tollkühnen Handstreich gegen Norwegen. Nach der nationalsozialistischen Version wäre er damit einer englischen Landung zuvorgekommen. Die britische Regierung hat während des Krieges eine solche Absicht begreiflicherweise in Abrede gestellt und als Ziel ihrer damaligen Flottenaktion lediglich die Verminung der norwegischen Gewässer zugegeben. Es ist Churchills Freimut hoch anzurechnen, daß er in seinen Memoiren, unbekümmert um diese frühere Darstellung, die wahren Beschlüsse des britischen Kriegskabinetts mitteilt. Er schreibt darüber: „Am 3. April ratifizierte das britische Kabinett den Beschluß des Obersten Kriegsrats, und die Admiralität wurde ermächtigt, am 8. April mit der Verminung der norwegischen Gewässer zu beginnen. Da unser Vorgehen eine deutsche Reaktion nach sich ziehen konnte, wurde überdies beschlossen, eine britische Brigade, und ein französisches Truppenkontingent nach Narvik zu senden, um den Hafen zu besetzen und bis zur schwedischen Grenze vorzurücken. Andere Streitkräfte sollten in Stavanger, Bergen und Trondheim an Land gehen, um dem Feind die Benützung dieser Stützpunkte zu ver- wehren.”

Die Niederlage, die darauf Großbritannien in Norwegen einstecken mußte, erregte einen Sturm der Empörung im britischen Unterhaus, der sich ausschließlich gegen Chamberlain richtete, dessen sich das Haus in einer Weise überdrüssig zeigte, wie es selten in der Geschichte des englischen Parlamentarismus vorgekommen ist. Obwohl als Lord der Admiralität für die Katastrophe in Norwegen zunächst verantwortlich und wiewohl er diese Verantwortung vor dem Unterhaus auch loyal auf sich nahm, wurde Winston Churchill doch in dieser ernsten Stunde von der öffentlichen Meinung als Führer • der Regierung offenkundigerweise verlangt. Hier gab die überwältigende Persönlichkeit den Ausschlag. Schließlich war er ja auch der Mann, dessen jahrelange Warnungen von den schwachen Regierungen Baldwin und Chamberlain hartnäckig in den Wind geschlagen wurden und sich jetzt- auf so tragische Art für Großbritannien bewahrheiteten. An dem Tage, an dem Hitlers Heermassen in Holland einbrachen, übernahm der Unerschrockene die Regierung, ‘ die er fünf Jahre und drei Monate unter den größten Gefahren ausübte.

1 Vergleiche „Furche” Nr. 42 vom 16. Oktober 1948.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung