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Wettlauf um Krieg und Frieden

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Der zweite Band dieser Weltgeschichte der neuesten Zeit umfaßt die Epoche von Hitlers Einzug in Prag bis Ende Juli 1939, als der verzweifelte Botschafter Italiens in Berlin angesichts des herannahenden Kriegsausbruches eine Unterredung zwischen Mussolini und Hitler al wünschenswert erachtet. Damit hat sich durch die Fülle der Akten und sonstigen Zeugnisse der ursprüngliche Plan des Herausgebers, im zweiten Band bereits bis zum Jahre 1942 vorzustoßen, nicht einhalten lassen. In seinem Vorwort, welches auch die gesamte Problematik der für die Zeitgeschichte so notwendigen Aktenveröffentlichungen einschließt, kommt Prof. Freund zu der notwendigen Erkenntnis, daß die vorliegende „Weltgeschichte der Gegenwart in Dokumenten“ noch keineswegs eine Darstellung der Geschehnisse bietet. Nach dem Muster der britischen Dokumentenwerke des Chatham House wird jeweils für die einzelnen Abschnitte eine Einführung in Form einer gedrängten Darstellung geboten, die natürlich noch für die zukünftige umfassende Forschung weiten Raum für Interpretationen bietet. Der rasche Ablauf der Veröffentlichungen in der westlichen Hemisphäre unserer geteilten Welt ermöglicht es dem Herausgeber, sich stärker auf Aktenpublikationen als auf Erinnerungswerke zu stützen. Die britischen und italienischen Akten waren von großem Nutzen. Ebenso die der USA, obgleich sie für die Jahre 193 bis 1940 viel spärlicher vorliegen, als für spätere Perioden. Ein besonderes Kapitel bilden die „Beuteakten“, welche die deutschen Stellen aus polnischen und tschechischen Archiven während des Krieges publizierten. Neu sind in dem vorliegenden Band die in deutscher Ausgabe noch nicht bekannten Akten des Bandes VI der „Akten zur deutschen auswärtigen Politik“. (Trotzdem es sich bei dieser Publikation um eine gemeinsame französisch-britischamerikanische Publikation handelt, erscheint es unverständlich, warum der Band VI nach einer Mitteilung des Instituts für Zeitgeschichte in München an den Rezensenten in deutscher Sprache nicht herausgegeben werden soll. Hier wäre unter Mitarbeit einer europäischen Historikerkommission durch entsprechende Mittel Vorsorge zu treffen, daß nicht ein wichtiges Dokumentarwerk ein Torso bleibt!) Mit Recht beklagt auch Prof. Freund den Mangel an Aktenveröffentlichungen des russischen Machtbereiches — und hier kann man vielleicht durch die jüngst angekündigten Aenderungen der Benützungsbestimmungen der sowjetischen Staatsarchiv noch auf neue Fundgruben rechnen. Was die deutschen Akten betrifft, tritt klar zutage, daß es sich nur um Reflexe der „eigentlichen Beschlüsse und Entscheidungen“ handelt, weil „der innere Kreis“ der Macht im Dritten Reich für den Forscher noch völlig dunkel ist. Ob jemals Protokolle oder Aufzeichnungen des eigentlichen Befehlszentrums um Hitler gefunden werden können, erscheint fraglich. Trotzdem kann die Geschichtsschreibung auf solche noch mögliche Aktenfunde nicht warten und das vorliegende Werk beweist auch, daß trotz der Lücken das Skelett der diplomatischen und militärischen Entschlüsse am Vorabend des zweiten Weltkrieges schon jetzt nachgezeichnet werden kann.

Der deutsche Einmarsch in Prag löst die Entwicklung aus, weil dadurch die britische Einstellung gegenüber den deutschen Revisionsbestrebungen seit 1937, die sich auf die Gebiete des deutschen Volkstums erstreckten, eklatant verletzt wurde. Als Vorkämpferin gegen weitere Aggressionsdrohungen nach der Zerreißung des Münchner Abkommens tritt die britische Regierung auf und faßt den Entschluß, durch ein System umfassender Garantien die bedrohten europäischen Staaten in Schutz zu nehmen. Diese Verpflichtungserklärungen, verkündet durch Halifax am 20. März 1939 in seiner Rede im Oberhaus über die neue internationale Politik Englands, treffen sich mit der ultimativen Forderung „Freund oder Feind“ Deutschlands an Polen über die weitere Entwicklung in der Danzig-Frage. Die polnisch-deutschen Verhandlungen um den Korridor in den Märztagen hatten zu keinem Ergebnis geführt, wobei allerdings die völlige Verkennung der militärischen Kräfteverhältnisse Beck und seine Berater zu einer falschen Einschätzung der möglichen militärischen Auseinandersetzungen mit dem Reich führten. Das Garantieversprechen Chamberlains vom 31. März an Polen verstärkte die Haltung der Warschauer Regierung, obgleich dieselbe über den Inhalt der deutschpolnischen Verhandlungen bezüglich „des Korridors durch den Korridor“ und einer eventuellen Beteiligung Polens an einem Feldzug gegen Rußland die britischen Gesprächspartner im unklaren ließ. Dies verursachte manche Unsicherheit in der Ostabteilung des britischen Auswärtigen Amtes (S. 201). Hitlers Aufkündigung der Nichtangriffsverträge vom 28. April 1939 klärte die Lage nach beiden Fronten. Die Erwiderung Becks vom 5. Mai mit der sehr wirkungsvollen, aber unrealistischen Endformel der Berufung auf die Ehre im Leben der Menschen und Völker konnte nicht eine Lösung der Krise bringen. Die Schwerpunkte der zukünftigen Maßnahmen Hitlers, aber auch der britischen und französischen Regierung, mußten in der Gewinnung der italienischen und russischen Hilfe liegen. Mussolini hatte in seiner Denkschrift vom 4. Mai (S. 305) zwar nicht die Möglichkeit eines zukünftigen Krieges geleugnet, jedoch erst für 1943 die größten Aussichten eines Sieges für die

\chsenmächte vorausgesagt. Er wollte durch die Weltausstellung 1942 Devisen gewinnen, seine Schlachtschiffe zu Ende bauen, in Lybien, Albanien jnd Abessinien Armeen ausheben und nebenbei in ler Südtirolfrage eine Umsiedlung der Deutschen von seinem Achsenpartner fordern. Die deutschen Entgegnungen — in Wahrheit die Gesprächsgrundlagen für den späteren Stahlpakt — schlössen im Entwurf vom- 6. Mai interessante und bisher unbekannte Artikel mit ein, wie etwa das Einverständnis, „daß Oesterreich für alle Zukunft ein untrennbarer feil des Deutschen Reiches“ sein würde (S. 311), amen jedoch nicht den Terminwünschen Mussolinis Entgegen. Das absolute Militärbündnis vom 22. Mai tnthielt nicht mehr die Festlegung über die territorialen und politischen Zielsetzungen beider Partner und vor allem keine Termine über die Vermeidung eines Krieges in den nächsten Jahren. Auch las sogenannte „Memoriale Cavallero“ vom 30. Mai [S. 33 3), vom italienischen Chef des Generalstabes rafafit, vermochte trotz mahnender Worte über die Unmöglichkeit einer aktiven Kriegsführung im Westen jegen die „Plutokratien“ keine Wirkung zu erzielen. Zwischen den Achsendiplomaten blieben alle offenen Fragen der eventuellen, nie stattgefundenen Zusammenkunft Hitlers und Mussolinis im Sommer 1939 am Brenner vorbehalten. Inzwischen konzentrierten lieh die Anstrengungen der britisch-französischen Diplomatie auf ein umfassendes Bündnissystem nicht nur mit den unmittelbar bedrohten Staaten (Polen, Rumänien, Türkei), sondern vor allem auf die Sowjetunion, ohne deren tätige Mithilfe die Eindämmung der Angriffsabsichten Deutschlands nicht möglich erschien. Schon die französisch-polnischen Bestrebungen ergaben ' Schwierigkeiten. Im Protokoll vom 17. Mai 1939 zwischen den französischen und polnischen Oberkommandierenden für den Fall eines gemeinsamen Krieges wurde unter Punkt I, Absatz 3, eine Offensivaktion gegen Deutschland mit dem Gros de gros) der französischen Streitkräfte am 15. Tag der Mobilmachung festgelegt. Marschall Gamelin erklärte, daß er das Wort „le gros“ ersetzt habe durch „les gros“. Le gros bedeutet die Gesamtheit der französischen Streitkräfte; les gros aber nur ein Drittel der französischen Armee. Den Polen scheinen diese Unterschiede nicht klar geworden zu sein (S. 342). Inzwischen hatte aber die Frist zwischen Krieg und Frieden eine weitere Verlängerung durch die hinhaltende Taktik der sowjetischen Regierung gegenüber dem Westen erfahren. Während die Unterhändler Frankreichs und Großbritanniens vergeblich über die Definierung des Angreifers und die Durchmarschrechte in den Baltenstaaten, Polen und Rumänien mit Molotow rangen, konnte schon am 17. April Staatssekretär von Weizsäcker in einer Unterredung mit dem sowjetischen Botschafter Me-rckalow den ersten Fühler einer direkten sowjetischdeutschen Kontaktnahme bezüglich einer möglichen Einigung vermerken. Noch zögerten die beiden Partner des zukünftigen „Erwerbsgeschäftes auf Gegenseitigkeit“ (Zitat des Schweizer Historikers Walter Hofer) in Berlin und Moskau, ihre wahren Absichten zu enthüllen und der rasende Ablauf der deutschsowjetischen Verhandlungen wird erst im dritten Band der vorliegenden Publikation klar zutage treten. Aber Hitlers „großes Spiel“, das bis zum 11. August 1939 noch unsicher war, ging auf, da die historischen Bindungen noch aus der Seeckt-Zeit der deutschen Reichswehr an den einstmaligen Aufrüstungspartner im Osten trotz aller ideologischen Gegensätze sich tragfähiger erwiesen als die westlichen Diplomaten glaubten. Trotz der italienischen Versuche am 2. Juli 1939 (S. 437), Klarheit über die Lage zu erhalten, schwieg Hitler, ebenso wie er die Möglichkeit eines deutsch-englischen Friedenspaktes (Aktion Dr. Wohl-that und Staatssekretär Rs. Hutson) negierte. Das Verhängnis nahm seinen Lauf, als nach dem 11. August 1939 die Haltung Moskaus immer eindeutiger wurde und die Rede Molotows vor dem Obersten Sowjet vom 31. Mai 1939 (S. 367) sich als reale Aufforderung an Hitler zu einer neuerlichen Teilung Polens herausstellte.

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