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Von Dollfuß zu Hitler

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Der aus Danzig stammende Autor wählte den „Anschluß“ Oesterreichs als Gegenstand seiner Dissertation an der philosophischen Fakultät der Universität Mainz. Nach dem Vorbild Rankes legte er Gewicht auf eine „vorwiegend pragmatische“ Behandlung seines Themas — er betont dies auch in seinem Vorwort —, und dieses Verfahren ist ihm gelungen, immerhin empfiehlt es sich für den in großen Zügen unterrichteten Leser, der zu seinen eigenen Schlußfolgerungen gelangen will, das hier vorgelegte, notwendigerweise sehr unterschiedliche Quellenmaterial sorgfältig zu prüfen und nach seinem relativen Beweiswert einzuschätzen. Ein Historiker mag noch so sehr darauf bedacht sein, eine subjektive Stellungnahme zu vermeiden, seine Perspektive wird doch bestimme werden durch den Beobachtungspunkt, den er bezogen hat; und der in diesem Fall gewählte Beobachtungspunkt war eben die Wilhelmstraße. Dementsprechend geriet das Bild der deutsch-österreichischen Beziehungen bis 1934, welches in den beiden ersten Kapiteln zur Darstellung gebracht wird. Es gibt sozusagen berufliche Ansichten und

Auslegungen wieder und wohl jeder ehrliche Beobachter im Stabe der deutschen Gesandtschaft in Wien oder sogar irgendein durchschnittlicher Staatswissenschaftler der Weimarer Republik, gleichgültig ob er zur Linken, zur Rechten, zur Mitte oder zum Nationalsozialismus neigte, hätte es entwerfen können. Die Hauptkapitel dann, die sich mit der Entwicklung von Juli 1934 bis März 1938 beschäftigen, können als ein bemerkenswert vollständiger und hervorragend fundierter Kommentar zu den entsprechenden Abschnitten in den Erinnerungen v. Papens bezeichnet werden. Sie finden ihre Ergänzung in ausführlichen Hinweisen auf Akten der Interalliierten Nürnberger Prozesse und des Guido-Schmidt-Hochverratsprozesses in Wien 1947. Das Schlußkapitel klingt ein wenig nach dem übrigens nicht ganz unverständlichen Ton, der gelegentlich in Bonn angeschlagen wird; „Den Oesterreichern geschah ganz recht, denn zwei Drittel von ihnen“, so erklärte Dr. Renner, „wollten ja den Anschluß.“ Gewiß, während der ersten zwei Monate nach dem 13. März 1938 konnte ein solcher Eindruck gewonnen werden, aber nicht aus dem, was früher (und später) geschah; und die wahre Haltung des österreichischen Volkes vor jenem Datum, sein Wollen und Handeln werden hier weder verzerrt noch mit Stillschweigen übergangen; des Autors Analyse der zugrunde liegenden Probleme ist zutreffend.

Tatsächlich boten vertragliche Abmachungen zwischen den widerstreitenden Partnern keine Chance einer Lösung auf lange Sicht. Hüben und drüben gebrauchte man die gleichen Worte, legte ihnen aber, und ganz bewußt, einen grundverschiedenen Sinn bei. Die fundamentale Differenz in den beiderseitigen Auffassungen von Völkerrecht und Politik wie in der historischen Betrachtungsweise lag auf der Hand. Die in Deutschland herrschende Ideologie konstruierte einen Vorrang der ethnischen vor der politischen Nation und beutete den sich daraus ergebenden Loyalitätskonflikt jenseits der deutschen Staatsgrenzen für ihre Zwecke aus. Der von ihr ständig benutzte Ausdruck „Entwicklung“ oder „Evolution“, ließe sich in unserer heutigen Sprache etwa mit dem Wort „Koexistenz“ übersetzen; er schloß keineswegs abenteuerliche Unternehmungen aus, sofern sie risikolos erschienen, und auch nicht die Anwendung offener Gewalt, falls die Umstände dies gestatten würden, das heißt bei der ersten günstigen Gelegenheit Daß einige Anhänger jener Ideologie, so v. Fapen, Seyß-Inquart, Glaise-Horstenau, eine rasche „Evolution“ ohne Gewaltanwendung vorgezogen haben würden, ist irrelevant, da sie Oesterreich bereits in der von ihnen erwarteten (aber nicht eingetretenen) Uebergangsperiode in einer Stellung sehen wollten, die gleichbedeutend gewesen wäre mit der eines deutschen Kolonialgebietes und ausgestattet bestenfalls mit der fadenscheinigen „Souveränität“ e'nes Protektorats.

Die Oesterreicher anderseits — jene ausgenommen, die offen oder insgeheim Hitlers Geschäfte besorgten — gründeten ihre Gedanken und ihre Ziele auf die anerkannten Doktrinen der Rechte und Pflichten der Staaten, unter besonderer Betonung des Prinzips der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Völker. Sie hofften, daß die Entwicklung sich zugunsten Oesterreichs gestalten und den bedrohlich imperialistischen Bestrebungen des deutschen Nachbarn einen Riegel vorschieben würde; daher auch die wiederholten Versicherungen der österreichischen Regierung, daß sie „friedliche Absichten der deutschen Außenpolitik“ unterstützen wolle (siehe pp. 106, 112, 219). Das mag unrealistisch gewesen sein, aber kaum mehr als das, was zu gleicher Zeit in London, Paris, Rom und Genf und später in Moskau unternommen wurde.

Da Oesterreich dabei blieb, den „Anschluß“, den es niemals akzeptiert hat, abzulehnen und direkten

wie indirekten „Anschluß“-Bestrebungen entgegenzutreten, wurde es von Deutschland des Vertragsbruches (p. 119) bezichtigt; wogegen Oesterreich den Deutschen eine offenkundige Rechtsverletzung vorwarf, begangen durch ihre Forderung nach „Anschluß“, auf den sie in aller Form — wenn auch nicht pro foro interno — verzichtet hatten.

In Anlehnung an v. Papens diplomatische Berichte an das Berliner Außenamt beschäftigt sich Eichstaedt eingehend mit der Frage einer Restauration der Habsburger (pp. 65, 109, 163 ff, 255). Es ist jedoch klar, daß die aktuelle Bedeutung dieser Frage in Berlin absichtlich übertrieben wurde, um einerseits den „friedliebenden“ Regierungen, namentlich der Regierung Jugoslawiens. Schrecken einzujagen, und anderseits der deutschen Politik in Mitteleuropa den Anschein der Achtbarkeit und der Solidität zu geben. Aus zahlreichen Anzeichen, und nicht zuletzt aus den persönlichen Beobachtungen des deutschen Gesandten in Wien, geht deutlich genug hervor, daß das Berliner Alarmsignal sachlich ganz unbegründet war; außer man wollte den harmlosen Umstand in Rechnung stellen, daß den Oesterreichern der Radetzky-Marsch unzweifelhaft lieber war als der „Friedericus Rex“ und andere von Hitler bevorzugte Weisen. Im übrigen ist ebensowenig zu bezweifeln, daß eine Unterdrückung der monarchistischen Bewegung in Oesterreich' den Nationalsozialisten zugute gekommen wäre, ohne die Ziele oder die Methoden der deutschen Politik im geringsten zu beeinflussen.

Der hohe Wert dieses Buches, dessen Bemühung um Objektivität hervorgehoben zu werden verdient.

wird durch einige Ungenauigkeiten nicht beeinträchtigt. Zu ihnen gehört der unzutreffende und teilweise irreführende Bericht über die Ereignisse des 25. Juli 1934 und die Ermordung des Kanzlers Dollfuß; hier hat sich der Autor unvollständigen und nicht sehr zuverlässigen Quellenmaterials bedient. Aehnlich dürften die offenkundigen Widersprüche zu erklären sein, die Eichstaedt bei der Charakterisierung Emil Feys unterlaufen sind. Der vom Autor erwähnte Zwischenfall, bei dem ein Fenster des deutschen

Reise- und Informationsbüros in der Wiener Kärntner Straße eingeschlagen und ein Hitler-Bild beschädigt wurde, hatte nicht den Fürsten Ernst Hohenberg zum Urheber, wie hier unter Berufung auf einen Bericht v. Papens behauptet wird, und dieser demonstrative Akt ereignete sich auch nicht im Juni, sondern im November 1937, als die allgemeine Erregung sich bereits ihrem Höhepunkt näherte. Die Version, derzufolge Seyß-Inquart zu irgendeiner Zeit schon vor dem Berchtesgadener Ultimatum ein Ministerposten angeboten worden wäre, stützt sich auf einen diplomatischen Bericht und einen Brief Kepplers (p. 273), sie widerspricht aber sowohl Seyß-Inquarts eigener Aussage wie dem Wortlaut der zwischen dem Genannten und Zernatto getroffenen Abmachungen (p. 282). — Als Mangel kann auch das Fehlen eines Index bezeichnet werden.

Eichstaedts Schlußfolgerung bestätigt aufs neue, daß der „Anschluß“ und der Zeitpunkt, zu dem er erfolgte, bestimmt waren durch die internationale Lage und das Spiel der allgemeinen Machtpolitik. Oesterreich war es um Zeitgewinn zu tun, den Deutschen darum, ihre erstbeste Chance nicht zu versäumen. Diese These, die sich der Autor zu eigen gemacht hat, erscheint fest fundiert u. a. durch die dem damaligen britischen Gesandten in Wien, Sir Michael Palairet, am 11. März 1938 übermittelte Direktive des Lord Halifax:

„Seiner Majestät Regierung kann nicht die Verantwortung übernehmen, dem Kanzler einen Kurs anzuraten, der sein Land in Gefahren bringen kannte, gegen die S. M. Regierung nicht in der Lage wäre, Schutz zu garantieren.“ (Documents on British Foreign Policy.)

In seinem Schlußsatz trifft Eichstaedt den Kern der damaligen Situation: Die Großmächte waren nicht imstande oder nicht willens, zu erkennen, daß Hitlers Marsch auf Wien der erste Schritt auf dem Weg war, den er sich über Prag und Warschau vorgezeichnet

hatte: auf dem Weg, der zum zweiten Weltkrieg führen mußte (p. 445).

In der Tat, als schließlich nichts mehr übrigblieb, am Abend des 11. März 1938, als Protest zu erheben, damit er verewigt werde in der Geschichte (p. 404), da war nicht nur Oesterreichs Schicksal besiegelt — da war auch die letzte Chance für die Frhaltung des Friedens vertan.

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