Die totale entblößung

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Eigentlich hatte Hannah Smith auf der Frageplattform ask.fm nur einen Rat zur Behandlung ihres Ekzems gesucht. Doch bald schon entwickelte sich eine mörderische Dynamik: Monatelang wurde die 14-jährige Britin Opfer von wüsten Beschimpfungen durch anonyme Nutzer. Einer forderte sie auf: "Tu uns einen Gefallen und bring dich einfach um“, ein anderer schrieb: "Stirb, jeder wäre glücklich darüber.“ Am 2. August wurde Hannah von ihrer Schwester erhängt in ihrem Zimmer gefunden.

Der Tod des Mädchens erschütterte die britische Öffentlichkeit - umso mehr, als es in den Monaten zuvor bereits zu ähnlichen Suizid-Fällen von ask.fm-Nutzern gekommen war. Erst nach massivem Druck stellten die Betreiber der Seite, auf der sich täglich geschätzte 13 Millionen User tummeln, verschärfte Sicherheitsvorkehrungen in Aussicht - darunter einen "Panik-Knopf“, um Übergriffe zu melden. Rechtliche Konsequenzen aus Großbritannien muss man bei ask.fm jedoch nicht befürchten: Schließlich ist der Server in Lettland stationiert.

Zehn Prozent Involvierte

Vergangene Woche kam die Plattform auch in Österreich in die Schlagzeilen - und mit ihr das Thema Cyber-Mobbing, also das bewusste Beleidigen, Belästigen oder Bloßstellen mit elektronischen Kommunikationsmitteln über einen längeren Zeitraum. An einem Salzburger Gymnasium sollen mehrere Schüler Opfer von heftigen Online-Attacken geworden seien; ein Mädchen, bei dem sogar Suizidgefahr bestanden habe, sei via ask.fm beschimpft worden.

Wie viele Kinder und Jugendliche hierzulande mit Cyber-Mobbing in Berührung kommen, kann man nur vermuten. Im Rahmen der europaweiten Vergleichsstudie EU Kids Online II gaben sieben Prozent der Kinder zwischen neun und 16 Jahren an, bereits online gemobbt worden zu sein. Barbara Buchegger von der Plattform Saferinternet.at schätzt den Anteil der jugendlichen Mobbing-Opfer sowie -Täter insgesamt auf rund zehn Prozent; von den vielen Zuschauern nicht zu reden. "Vorfälle wie jene in Salzburg sind heute an sehr vielen Schulen Alltag“, weiß sie aus ihrer Beratungstätigkeit.

Ein besorgniserregender Trend: Sind herkömmliche Beschimpfungen nämlich räumlich und zeitlich begrenzt, so kann Cyber-Mobbing rund um die Uhr stattfinden und ein riesiges Publikum erreichen. Die (scheinbare) Anonymität senkt zudem die Hemmschwelle. "Typische“ Täter oder Opfer gibt es freilich in der virtuellen Welt ebenso wenig wie in der realen. "Es kann jeden treffen!“, weiß Buchegger - und erinnert sich an eine sozial besonders kompetente Peer-Mediatorin, die einen "Hassblog“ gegen eine Mitschülerin betrieb.

Nicht nur die Fallzahlen, auch die Spielarten der digitalen Bosheiten nehmen zu: Während etwa viele Eltern ihr kritisches Augenmerk noch auf das soziale Netzwerk "Facebook“ richten - in dem sie selbst gern Babyfotos posten -, installieren sie auf dem Handy ihrer Volksschulkinder arglos den Online-Nachrichtendienst "WhatsApp“, der nicht nur das kostenlose Verschicken von SMS, sondern auch das Einrichten von Gruppen erlaubt. "Ein klassischer Fall wäre, dass eine Gruppe namens, Wir hassen Melanie‘ gegründet wird, in der alle drinnen sind - außer Melanie“, so Buchegger.

Auch das Verschicken von Nacktbildern, das sogenannte "Sexting“ (eine Kreation aus "Sex“ und "Texting“, dem englischen Ausdruck für das Senden von Kurzmitteilungen), nimmt zu. Die Expertin denkt an den Fall eines 13-Jährigen Mädchens, das nach langem Drängen einem älteren Burschen ein Oben-ohne-Foto schickte - das dieser prompt online stellte. Dass er sich damit laut Paragraph 207a Strafgesetzbuch theoretisch der Verbreitung von Kinderpornografie strafbar machte, wusste der halbwüchsige, aber strafmündige Bursch vermutlich nicht.

Doch ist diese restriktive Gesetzeslage auch im Interesse der Jugendlichen? Barbara Buchegger ist sich nicht sicher: "Dieses Sexting ist heutzutage so häufig, dass wir eine ganze Generation kriminalisieren“, fürchtet sie. Andererseits könnten Bilder, die einmal leichtsinnig in Umlauf gebracht wurden, leicht von Fremden genutzt werden. Hier sei verstärktes Nachdenken erforderlich.

Im Fall eines 26-jährigen Kärntners hat die Justiz jedenfalls letzte Woche Härte gezeigt: Weil er eine 13-Jährige via Handy-Kurzmitteilung anonym zum Sex aufgefordert hatte, wurde der Mann am Landesgericht Klagenfurt (nicht rechtskräftig) zu sechs Monaten bedingter Haft verurteilt. Sein Delikt: "Grooming“, die "Anbahnung von Sexualkontakten zu Minderjährigen“.

Die Liste möglicher Straf-Delikte beim Cyber-Mobbing ist mittlerweile lang: Sie reicht von der Nötigung, beharrlichen Verfolgung ("Stalking“) und Üblen Nachrede über die Beleidigung und Datenbeschädigung bis zur Verleumdung und Verbreitung von Kinderpornografie. Auch gegen das Urheberrechtsgesetz mit seinem Brief- und Bildnisschutz ("Recht am eigenen Bild“) können "Cyberbullies“ verstoßen, desgleichen gegen das Medien- und Jugendschutzgesetz.

Nicht alles aushalten müssen

Mobbing-Opfer haben also allen Grund, sich zu wehren. Handelt es sich nicht um einen extremen Fall - wie etwa bei der jungen Hannah Smith -, dann sollte die Klage freilich nicht gleich am Anfang stehen. "Die Jugendlichen müssen aber wissen, dass sie nicht alles aushalten müssen, sondern mit jemandem reden können“, betont Leo Hemetsberger, der regelmäßig als Mediator in Schulen im Einsatz ist. Umso mehr seien Eltern und Lehrer gefordert, solche Vorfälle ernst zu nehmen und anzusprechen, Beweise zu sammeln und sich Hilfe zu holen. Die Hotline "147 - Rat auf Draht“, die Meldestelle www.stop-line.at und der Internet-Ombudsmann ( www.ombudsmann.at) bieten etwa Unterstützung.

Als Elternteil das Kind fortan zu kontrollieren oder ihm Handy und Internet zu verbieten, ist nach Ansicht des Experten kontraproduktiv. Noch absurder sei es, selbst die Eltern des Täters zu attackieren: "In einem Fall kam es in einem Facebook-Chat zu einem Schlagabtausch unter Schülern, woraufhin die Eltern mitgechattet haben und aufeinander losgegangen sind“, erzählt Hemetsberger. Ein Vater habe Screen-Shots gemacht, seinen Anwalt kontaktiert und tags darauf die Direktion gestürmt. "Wie soll hier das Klassengefüge weiter funktionieren?“

Er plädiert dafür, wenn möglich den Weg des Konsenses zu suchen - und den Jugendlichen im Sinne der Prävention von vornherein mehr Verantwortung zu übertragen: "Wenn sie sich ihre Online-Verhaltensregeln in der Gruppe selbst geben können“, weiß der Mediator, "dann sind sie oft päpstlicher als der Papst.“

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