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Herr, Vater, Hirte

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Am 4. November 1958 fand in Rom die Krönung von Papst Johannes XXIII. statt. Entgegen dem Brauch, der einen Sonntag für die Papstkrönung als angemessen erscheinen ließ, befahl der neue Papst die Krönung für den Tag des heiligen Karl Borromäus.

Als der Kardinal Roncalli nach seiner Wahl zum Papst gefragt wurde, warum er den Namen „Johannes“ als Papstname wähle, gab er eine ganze Reihe von schönen Gründen an, die ihn niitveranlaßten, diesen Namen zu wählen. Als ersten Grund aber nannte er: Johannes habe sein Vater geheißen.

Neben seinen leiblichen Vater stellt er, in einem Atem, seinen Vater dem Geiste nach: eben Karl Borromäus, dem er selbst ein umfangreiches Werk forschender Liebe und geistlicher Nachfolge zunächst als junger Priester im Raum von Bergamo gewidmet hatte. Karl Borromäus ist dem Wiener, dem Oesterreicher, ein alt-vertrauter Heiliger, nicht zuletzt weil mit ihm die eindrucksvollste Verkörperung des Römischen in der Hauptstadt unseres Landes verbunden ist: die Karlskirche. Die Karlskirche, Vision des Römischen, des pontifikalen Brückenbaues zwischen den Zeiten und Welten: vereint sie doch die Säule des antiken, heidnischen römischen Weltkaisers mit der Kuppel der Peterskirche.

Karl Borromäus ist ein Mensch zwischen den Zeiten: er wird, als Mitglied eines altadeligen Geschlechts und als Papstneffe mit dreiundzwanzig Jahren Kardinal, gehört also in diesem Sinne noch der alten Welt des Blutes und adeliger Kirchenherrschaft an. Dieser junge Adelige engagiert sich aber mit Leib und Seele für die Wiedergeburt der Kirche in den Herzen, in der Seele des oberitalienischen Volkes, das seit Jahrhunderten in vielen Landstrichen unbetreut geblieben war. Der Herr, dieser junge, adelige Herr, wird zum Hirten, zum guten Hirten des Volkes. Zum Hirten, der sich ganz ausgibt in der Seelsorge in seiner mailändischen Diözese. Erschöpft, ausgegossen stirbt er mit 47 Jahren.

Herr, Hirte, Vater: Eben diese drei Attribute dürfen dem neuen Papst als „Hausnamen“, die er von Haus aus besitzt, zuerkannt werden. Roncalli stammt aus einem alten Bauerngeschlecht, in dem die Urkraft des oberitalienischen Landes eingewurzelt ist. Sein Vater wurde 98 Jahre alt, seine Mutter starb mit 96 Jahren. Vor über hundert Jahren vermerkte Joseph Freiherr von Eichendorff in einer Untersuchung über den deutschen Adel seiner Zeit, daß jetzt nur noch Bauern wahre Adelige seien. Der Freiherr von Eichendorff meinte damit: das echte Konservative, die freie, frohe, starkmütige Kraft des Archaischen„ des wahrhaft- „guten Alten“ sei da bei alten Bauerngeschlechtern in letzter, guter Hut.

Roncalli hafr von diesem seinem bäuerlichen Erbe das durch und durch Konservative. Sein bereits früh beachtetes selbstsicheres Herrentum ist von hier her zu verstehen: so ein „freier Herr“ kann sich allerhand leisten. Der Konservative ist kein Knecht der Angst, kein Sklave der Reaktion. Eben da er kein Mann der Angst ist, kann er frohgemut an das wichtigste Geschäft gehen, das es heute in der katholischen Kirche zunächst gibt. Dieses betrifft die Wiedergeburt der Autorität, einer lebendigen, atmenden Autorität im steten Umgang, in Tuchfühlung mit der ganzen großen Familie der Kirche..

Der neue Papst hat als erstes die alten Audienzen der „Römischen Familie“, der Kardinäle und kurialen Dienste wieder eingeführt und gleich darauf erklärt, er möchte in offenen Gärten im Vatikan spazieren gehen; am liebsten in Rom, am liebsten in der ganzen Welt. Sein Wunsch, noch heuer Lourdes und Venedig zu besuchen, ist in diesem Sinne zu verstehen.

Wiedergeburt der Autorität: durch den warmen, starken, herzhaften persönlichen Atem eines Pontifex, der Herr, Hirte, Vater in einem ist.

Es wäre unziemlich, in diesem Zusammenhang das persönliche Drama Papst Pius XII. anzutasten: dieser auf seine Weise Einzige und Einmalige war ein tief einsamer Mensch. Hoch oben brannte bei ihm noch Licht, bis in die späte Nachtstunde, wenn er da seine Entschlüsse abwog, in großer Sorge und Einsamkeit, in seinem Wissen und Gewissen. Pius XII sprach tausendfach zur ganzen Welt, und wurde oft von ihr gehört.

Jetzt -.aber ist es Zeit, ins einzelne zu gehen und den einzelnen anzugehen. Die riesigen Fronten, an denen die Weltkirche heute engagiert ist, können nicht von Generalstäblern, die notwendigerweise tausend Meilen hinter der Front sitzen, also von den Verwaltungsapparaten allein, gehalten, gesehen, ja offensiv vorgetragen werden. Dies ist die Stunde der Kirche heute: sie wird sehr verkannt von allen jenen, die da nur ein „Rechts“ oder ein „Links“ sehen, und den Heiligen Vater auf ihre Wünsche und ihre Perspektiven fixieren wollen. Nicht auf „rechts“ oder „links“ kommt es an, sondern auf eines: daß der Mensch, der konkrete Mensch, mit seinen leiblichen und seelischen Nöten blutwarm ernst genommen wird in der Kirche. Die Kirche steht und fällt mit dem Menschen: mit der glaubwürdigen, glaubhaften und wirklichen Sorge für den Menschen. Nicht nach Parolen und Programmen, nicht nach strategischen und taktischen Erwägungen bildet sich das wahre Gewicht der Kirche in der Welt, und dies betrifft auch ihr wahres politisches Gewicht — sondern nach diesem Einen, Unersetzlichen: ob es ihr, der Kirche gelingt, Vollblutchristen, Vollblutmenschen zu gebären, mitten in der Krise der Zeit. Ob aus fünfhundert Millionen Taufscheinkatholiken, die heute von dieser, morgen von jener Angst, Parole, Gleichschaltung vereinnahmt werden, von dieser oder jener „Aktion“, diesem oder jenem Diktator — ob aus 500,000.000 (so viele „Nullen“!) Katholiken eine reiche, bunte Fülle lebendiger Menschen werden, die -Jem „Vollalter Christi“ zuleben; und dabei ihre nichtchristlichen Brüder mittragen.

Wenn aus so vielen „Nullen“ Menschen, personreife Menschen, Vollchristen, Vollmenschen werden sollen, dann kann dies, menschlich gesprochen, nur geschehen durch eine Wiedergeburt des Vaters in der Kirche. Gerade der ungeheure Machtzuwachs, den das römische Papsttum — gerade seit den Tagen des Heiligen Karl Borromäus, der da bahnbrechend voranging, indem er die Autorität in den Herzen einwurzelte -erfuhr, nicht zuletzt im 19. und 20. Jahrhundert, verlangt heute gebieterisch. ,sollen nicht Byzantinismus und Lüge, Lippendienst und Kadavergehorsam die Blüte der Freiheit brechen, daß dieser Macht ein innerer Gegenpol entspricht, der sie menschlich tragbar und menschlich fruchtbar macht.

Ein geborener Herr, Vater, Hirte kann sich dies leisten: er ist einfach da. Er ist schlechthin da. Er ist gegenwärtig den Menschen, die er in allen ihren Nöten kennt, aus eigener hautnaher Erfahrung: Elend der Soldaten, die er als Sanitätsoldat und Kriegskaplan an der Front des ersten Weltkrieges kennengelernt hat. Wie unersetzlich ist bereits dies, für die katholische Christenheit heute, für den Frieden der Welt morgen: der Heilige Vater hat das armselige, elende Röcheln und Sterben des „gemeinen Mannes“, des Soldaten, in eigener Miterfahrung kennengelernt.

Er ist da: der Bischof und Nuntius Roncalli hat in vieljähriger Erfahrung das seelische Klima der Menschen in der Ostkirche und in Osteuropa kennengelernt: das ist ungeheuer wichtig Manche Generalstäbler rn kirchlichen Aemtern glauben ja immer noch, daß durch juridische, strategische und taktische Operationen die Menschen des Ostens, die seit den Kreuzzügen des

Westens, seit dem 12. Jahrhundert mit Angst und Abscheu auf die räuberischen, herrischen, immer kriegführenden „Franken“, die abendländischen Christen sehen, gewonnen werden können. Wer ganz nahe und persönlich die Menschen des Ostens, gerade auch der Ostkirche erlebt hat, weiß: der Preis der Wiedervereinigung der Kirchen, der Ostkirche und der römisch-katholischen Kirche, ist unendlich höher, als wir uns bisweilen träumen lassen. Er schließt unter anderem eine Hingabe, in Vertrauen, Anerkennung, Brüderlichkeit, Offenheit, Unbefangenheit west-licherseits ein, die man sich oft nicht einmal auszudenken wagt. Mit Papst Johannes XXIII. hat ein Mensch, ein Mann den Stuhl des heiligen Petrus bestiegen, der eine tiefpersönliche Erfahrung des Ostens besitzt. Mehr hier heute sagen zu wollen, ist unziemlich..

Herr, Hirte, Vater: der Nuntius Roncalli kam 1943 in ein Paris, das von einem tiefem Miß-s trauen gegen die Politik der Römischen Kurie erfüllt war. Hatte doch der Nuntius in Frankreich seinen Sitz bei Petain, bei der Vichy-Regierung, der Kollaboration mit Hitler. Roncalli gelingt es, den Bann des Mißtrauens, der Ablehnung zu brechen: hier, im Schoß „der ältesten Tochter der Christenheit“, in Frankreich, erfährt er wieder, was er bereits weiß: Herr und Hirte müssen sich, wenn sie geschichtsmächtig werden, und wenn sie große Vertrauenskrisen überwinden wollen, zuerst und zuletzt als Vater bezeugen. Als gütiger, verständnisvoller Vater des Volkes. Als Vater des Volkes: die französische Kirche hat in dem letzten Jahrzehnt stellvertretend für eine Avantgarde der Christenheit, große Opfer auf sich genommen: die Disziplinjerungen der führenden Theologen der Dominikaner und Jesuiten sind nur Glieder einer großen, tragischen Kette.

Kurz nacn seiner Wahl zum Papst hat Johannes XXIII. in einer Botschaft an den Nuntius in Paris, Marella, dem französischen Volke und der französischen Kirche seine innige Verbundenheit bestätigt.

Dies geschieht in einem Augenblick; in dem ein letzter heroischer Stoßtrupp der Arbeiterpriester, um Bischof Ancel, schwersten Attacken ausgesetzt ist, da man ihnen aus ihrer brüderlichen Verbundenheit mit Nordafrikanern politisch einen Strick drehen möchte.

Dürfen wir, in diesem Zusammenhang, noch darauf verweisen, wie außerordentlich groß die Begeisterung, ist, mit der das polnische Volk, engagiert im gewagtesten Experiment in Europa, die Wahl Roncallis aufgenommen hat? Als zum erstenmal die Stimme des neuen Papstes an das Ohr und Herz der Welt dröhnte, laut, mit dem vollen Glockenklang innerer Macht, wußte mit der blitzhaften Ueberzeugung, die der Schlag des Herzens mittelt, zunächst die katholische Christenheit: wir haben einen Herrn, einen Hirten, einen Vater erhalten; einen Mann, der wohl zu herrschen und zu führen versteht, da er die Selbstmacht des Vertrauens besitzt: diese große Kraft, Vertrauen zu schaffen, Vertrauen zu wecken, Vertrauen zu finden. Diese Kraft kann die Welt entgiften, die da krank ist, todkrank, weil sie kein Vertrauen besitzt und kein Vertrauen findet; und deshalb sich selbst todfeind ist.

Eben dieses Vertrauen ist die erste Voraussetzung für das, was nottut; in der Kirche zunächst: die Verwandlung von 500,000.000 „Katholiken“ als „Zahlen“, in Vollmenschen, Vollchristen. Integrieren sich, in der Regierungszeit des Papstes Johannes XXIII., bedeutende Zellen in der Kirche in diesem Sinne aus, dann wird dadurch die Menschheit eben jene Impulse der Freiheit, der Freude, der Schöpfung erhalten, die sie dringend benötigt, um dem Kreislauf des Hasses und der Selbstvernichtung zu entrinnen. Dann kann der Katholizismus als Familie der römisch-katholischen Kirche ein glaubwürdiges Urbild, eine Urzelle der Family of man, der Familie der Menschheit, werden, in innigster Verbindung mit dem Vater dieser Familie: mit dem Heiligen Vater Johannes XXIII.

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