Im Kopf in Seenot im 19. Jahrhundert

19451960198020002020

Grafische Schätze aus dem Musée d'Orsay, die die Vielfalt des 19. Jahrhunderts präsentieren, sind noch in der Albertina ausgestellt. Neben großen Namen wie Degas gilt es auch unbekannte Künstler zu entdecken.

19451960198020002020

Grafische Schätze aus dem Musée d'Orsay, die die Vielfalt des 19. Jahrhunderts präsentieren, sind noch in der Albertina ausgestellt. Neben großen Namen wie Degas gilt es auch unbekannte Künstler zu entdecken.

Werbung
Werbung
Werbung

Er hatte die Qual der Wahl. Oder wie Werner Spies, ehemaliger Direktor des Musée National d'Art Moderne im Centre Pompidou, es selbst ausdrückt: "Es erinnerte mich an Maeterlincks 'Pelléas et Mélisande', in dem es heißt: 'Ich werde nie mehr aus diesem Wald herausfinden.'" Auch davon, dass er "im Kopf in Seenot war", berichtet Spies, hatte er doch vom Musée d'Orsay eine Carte Blanche bekommen, aus der grafischen Sammlung, die je nach Zählweise 70.000-90.000 Blätter umfasst, eine Ausstellung ganz nach seinen Vorstellungen zu kreieren. Ebendiese ist nach dem Stammhaus nun in der Albertina zu sehen -Guy Cogeval, der Direktor des Musée d'Orsay, hat das österreichische Museum als zweite Station gewählt, wofür sich Albertina-Direktor Klaus A. Schröder sehr dankbar zeigte. "Die Ausstellung präsentiert eine Auswahl, die so aus keiner anderen Sammlung hätte getroffen werden können, ganz sicher auch nicht aus jener der Albertina", sagt Schröder. "Die Schau zeigt alle Merkwürdigkeiten, die die so gespaltene Kunst des 19. Jahrhunderts hervorbrachte."

Mannigfache Stile

Spies war es ein Anliegen, die Zerrissenheit eines Jahrhunderts zu zeigen, das in der kollektiven Wahrnehmung oft auf wenige Stile beschränkt wird, obwohl es derer mannigfache gab. Die Ausstellung mit 130 Werken, die neben dem Musée d'Orsay auch aus dem Bestand der Albertina stammen, zeigt auf, "dass das 19. Jahrhundert kein missachtetes, übersehenes ist und sein sollte. Gerade in den Arbeiten auf Papier zeigt es sich in seiner ganzen Majestät und seinem ganzen Erfindungsreichtum", so Spies. "Die Künstler konnten damals experimentieren und Dinge erfinden, die völlig neu waren."

So sieht man Pastelle von Degas und Seurat sowie Aquarelle von Cézanne in der Schau, doch neben den Meisterwerken hat Spies auch unbekanntere Künstler ausgewählt, die ihn "magisch anzogen", um die ganze Bandbreite zu präsentieren. "Achten Sie nicht nur auf die Hauptnamen", ruft Schröder daher auf, "sondern sehen Sie sich an, wie reich die Bildende Kunst zu dieser Zeit war."

Die Schau startet mit Bildern der Barrikadenkämpfe von 1848 von Ernest Meissonier und mit einem angsterfüllten Selbstbildnis Baudelaires. Man kann auch darüber schmunzeln, wie Honoré Daumier die Doppelmoral aufs Korn nimmt, wenn er Karikaturhaftes aus Gerichtssälen zeigt, und man kann sich fast ein bisschen gruseln, wenn man Carlos Schwabes todbringende weibliche Wesen oder Gustave Moreaus Neuinterpretation von Mythen ansieht. Stilistisch sehr ähnlich und zeitlich doch so fern waren sich Giovanni Segantini und Jean-François Millet, die beide Bauern und Fischer zeigen, die in der Dämmerung nach dem Tagwerk heimwärts ziehen: Sie präsentieren dies stimmungsvoll, romantisieren nicht und klagen auch nicht an. Welch Gegensatz ist dazu wiederum Félicien Rops' pornografisch-drastisches Schaffen.

Starke Gegensätze

Natürlich sind Degas' Tänzerinnen, die er aus verborgenen Winkeln beobachtet, oder seine Frauen bei der Toilette, die er in lebensnahen Situationen in realistischen Verrenkungen beim Waschen und Kämmen zeigt, Höhepunkte der Schau, ebenso wie Cézannes atmosphärisch starke Aquarelle vom Berg Sainte-Victoire, die durch die Weite der Landschaft bestechen. Aber es gilt auch Odilon Redons verstörende, albtraumhafte Kohlezeichnungen zu entdecken, in denen dem Betrachter Spinnen todbringend entgegen lächeln und in denen eine dunkle Welt kreiert wird -ähnlich jener Georges Seurats, der starke Gegensätze zwischen Hell und Dunkel schafft.

Um der Vielfalt der Stile und Künstler Struktur zu geben, hat Spies Leitmotive gewählt, die sich locker durch die Ausstellung ziehen: Angst, Nacht, Tod, Stille, Erotik, Tristesse, Einsamkeit, Leere, Nichts. Und um andererseits die Wirkung der Arbeiten auf unsere Zeit zu erforschen, forderte Spies heutige Künstler, Filmemacher, Schriftsteller und Architekten auf, ihre Sicht auf die Kunstwerke im Katalog niederzuschreiben, unter diesen sind Georg Baselitz, Luc Bondy, Hans Magnus Enzensberger, Michael Haneke, Erwin Wurm, Wim Wenders, Gerhard Richter, Neo Rauch, Yasmina Reza und Peter Handke. Auch hier also bleibt die Vielfalt im Vordergrund, die diese magische, traumhafte, von Melancholie durchzogene Ausstellung bestimmt.

Degas, Cézanne, Seurat. Das Archiv der Träume aus dem Musée d'Orsay bis 3. Mai, Albertina, täglich 10-18 Uhr, Mi-21 Uhr www.albertina.at

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung