Krankheitslast nach Jahrzehnten

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30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl: Die Abschätzung der gesundheitlichen Folgen bewegt sich weiter auf vermintem Gelände.

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30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl: Die Abschätzung der gesundheitlichen Folgen bewegt sich weiter auf vermintem Gelände.

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Gras überwuchert einst prächtige Promenaden, Baumäste ragen in zerbrochene Fenster, während die Häuser verfallen und zerbröckeln: So präsentiert sich Prypjat, eine ukrainische Geisterstadt, drei Kilometer vom Reaktor in Tschernobyl entfernt. In diesem Atomkraftwerk war am 26. April das bislang Unvorstellbare geschehen. "Wir hatten noch kein System der Imagination, der Analogien, der Worte oder Erfahrungen für die Katastrophe von Tschernobyl", erinnert sich die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, die den letztjährigen Literatur-Nobelpreis erhielt. Nach der groß angelegten Evakuierung hat die Natur die Strahlen-verseuchte Sperrzone in Besitz genommen. An eine Neubesiedelung ist hier, im Epizentrum der Katastrophe, über Jahrhunderte nicht zu denken. Doch es gibt Menschen, die trotz allem zurückgekehrt sind: vor allem Alte mit großer Heimatverbundenheit - und keiner Angst vor den Folgen der radioaktiven Strahlung.

Die größte Verseuchung fand sich in Weißrussland, der Ukraine und Russland, wo heute über sechs Millionen Menschen in radioaktiv schwer belasteten Regionen leben. 37 Prozent des Tschernobyl-Fallout landete weiter westlich; Österreich war neben den slawischen und skandinavischen Staaten am meisten betroffen. Die Ostregion Österreichs wurde in den Tagen nach dem Super-GAU von einer Wolke mit radioaktivem Jod stark getroffen. Und bei der Ablagerung von radioaktivem Cäsium-137 wurden hierzulande die höchsten Durchschnittswerte (1986/87) außerhalb der ehemaligen Sowjetunion festgestellt. In ganz Europa wurden vier Millionen Quadratkilometer kontaminiert.

"Schlachtfeld der Ansichten"

Welche Gesundheitsschäden damit einhergehen, ist Thema einer höchst kontroversen Debatte. Bereits 20 Jahre nach Tschernobyl hat Ian Fairlie eine kritische Analyse zu den Daten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgelegt. Denn die beiden UN-Behörden IAEA und WHO würden die Konsequenzen der Atomkatastrophe stark herunterspielen, so der britische Radiologe, der die wissenschaftliche Diskussion zu Tschernobyl als "Schlachtfeld der Werte und Ansichten" bezeichnet. Sein Bericht "The other report on Chernobyl" (TORCH) wurde nun im Auftrag der Wiener Umweltanwaltschaft erweitert und auf den letzten Stand gebracht.

Tatsächlich sind Strahlenschäden oft nur über ein breites Spektrum von Wahrscheinlichkeiten fassbar. Im Gegensatz zu den akuten Zellschäden durch hohe Strahlung, die binnen Stunden oder Tagen zu drastischen Symptomen führen, treten andere Schäden wie genetische Mutationen und Krebskrankheiten erst nach Jahren oder Jahrzehnten auf. Unter den Überlebenden der Atombombenabwürfe von 1945 etwa wurde noch nach mehr als 60 Jahren eine steigende Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs dokumentiert. Derzeit ist es aber nicht möglich, Strahlen-bedingte Krebserkrankungen von anderweitigen Krebsfällen klinisch zu unterscheiden.

Eine erhöhte Strahlendosis bedeutet ein größeres Gesundheitsrisiko: "Der Strahlung ausgesetzt zu sein ist wie Zigarettenrauchen: Nicht jeder, der raucht, wird Krebs bekommen", erläutert Fairlie. "Aber je mehr man raucht, desto größer ist die Krebswahrscheinlichkeit. Simpel gesagt ist Strahlenbelastung wie ein Negativlos in der Lotterie." Die Strahlenfolgen durch Tschernobyl würden auch in den kommenden Jahrzehnten noch zutage treten. Schätzungen gehen davon aus, dass in Europa bis 2065 noch 16.000 Menschen an Strahlen-bedingtem Krebs versterben werden. Bis dahin werden ebenso viele zusätzliche Fälle von Schilddrüsenkrebs erwartet, zwei Drittel davon in Russland, Weißrussland und der Ukraine.

Schilddrüsenkrebs in Österreich

Gerade diese Krebsart steht in klarem Zusammenhang mit der Strahlenbelastung, denn radioaktives Jod lagert sich vor allem bei Kindern und Jugendlichen in der Schilddrüse ab. In den am schwersten betroffenen Gebieten wurde ein steiler Anstieg des Schilddrüsenkrebs-Risikos um 700 Prozent verzeichnet.

Für Österreich wird der Anteil der Schilddrüsenkrebsfälle, die seit 1990 wahrscheinlich auf Tschernobyl zurückzuführen sind, auf acht bis 40 Prozent geschätzt. "Die Unsicherheit in dem Bereich ist groß", kommentiert Umwelthygieniker Hanns Moshammer von der MedUni Wien die breite Risikoschätzung im TORCH-Bericht. Fairlies Angaben seien manchmal "zu mutig" - im Wesentlichen aber plausibel. Moshammer glaubt allerdings nicht, dass die weiterhin steigenden Fallzahlen bei Schilddrüsenkrebs als Folge von Tschernobyl entstehen, sondern vielmehr durch chemisch-hormonelle Schadstoffe bedingt sind. Denn der Gipfel bei Tschernobyl-bedingtem Schilddrüsenkrebs sollte mittlerweile schon überschritten sein.

Weltweit jedoch nimmt Schilddrüsenkrebs zu -auch in den USA, wo die Menschen nicht dem radioaktiven Fallout aus der Ukraine ausgesetzt waren.

Das häufigere Auftreten dieser Krebsart ist nur die Spitze des Eisbergs. Bei Leukämien wurde in den schwer kontaminierten Gebieten der ehemaligen Sowjetunion ebenfalls ein steiler Risikoanstieg um 200 bis 500 Prozent verzeichnet. Zudem wurden erhöhte Raten bei anderen Krebsarten, Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Krankheiten, Geburtsfehlern und bei Down-Syndrom dokumentiert. Trauma, Suizid und andere psychosoziale Effekte bedingt durch die Evakuation gelten ebenso als relevant, sind aber bislang kaum erforscht.

Widerstandsfähige Tierwelt

Wie Studien zeigen, sind Kinder in den schwer verseuchten Gebieten häufiger krank, haben eine eingeschränkte Lungenfunktion und vermehrt Atemschwierigkeiten. Für sie hat sich ein Speiseplan mit drei radioaktiv-freien Mahlzeiten pro Tag als gesundheitlich wertvoll erwiesen. Das gilt auch für Aufenthalte in radioaktiv nicht belasteten Ländern. Der TORCH-Report appelliert daher an die westlichen Staaten, finanzielle Unterstützung für die Kinder von Tschernobyl bereitzustellen.

Welche Lektionen sind hier aus dem weltweit schwersten Reaktorunfall zu ziehen? Derzeit gebe es keinen Dialog zwischen Regierungen und UN-Behörden einerseits und den diversen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) andererseits, kritisiert der aktuelle Bericht. Zudem sollten UN-Behörden dazu verpflichtet werden, unabhängige Wissenschafter in ihre wichtigsten Komitees aufzunehmen. Dies sei ebenso wichtig wie die Entflechtung von WHO und IAEA: WHO-Berichte zu Strahlenschäden sollten nicht länger von der IAEA geprüft und durchleuchtet werden, wie dies seit 1959 in einer Vereinbarung festgeschrieben ist. Ein Anliegen, das auch von der Aktivistengruppe "Independent WHO" hochgehalten wird, die seit neun Jahren Mahnwachen für Strahlenopfer vor dem WHO-Hauptquartier in Genf abhält.

Immerhin gibt es Entwarnung für Feinschmecker: Aus österreichischen Nachbarländern stammende Burgunder-Trüffeln weisen laut einer aktuellen Untersuchung keine bedenklichen Konzentrationen an radioaktivem Cäsium-137 mehr auf. Und entgegen früheren Hinweisen scheint die Strahlenbelastung langfristig keinen negativen Einfluss auf die größeren Wildtiere rund um Tschernobyl zu haben. In der Sperrzone sind Hirsche, Rehe und Wildschweine heute ähnlich häufig wie in vergleichbaren Naturreservaten ohne Verseuchung, so eine rezente Studie in der Fachzeitschrift Current Biology Magazine. Wölfe sind nun sogar mehr als siebenmal häufiger anzutreffen. Diese Beobachtungen zeigen die einzigartige Widerstandskraft der wilden Tierwelt angesichts chronischer Strahlenbelastung, folgern die Autoren. Und sie verdeutlichen, dass es gerade "der Rückzug des Menschen" ist, der "den persistenten, zunehmenden Stress für natürliche Ökosysteme entschärft".

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