Das Grauen wird niemals aufhören

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Tschernobyl versetzte vor zwölf Jahren die Welt in Angst und Schrecken. Immer noch gibt es für die Opfer weder ausreichend medizinische Versorgung noch finanzielle Unterstützung.

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Tschernobyl versetzte vor zwölf Jahren die Welt in Angst und Schrecken. Immer noch gibt es für die Opfer weder ausreichend medizinische Versorgung noch finanzielle Unterstützung.

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Tschernobylnik" heißt auf russisch Wermut. Dieses Beifußkraut wächst in der Gegend rund um Tschernobyl. Die alten Bewohner haben früher gerne eine Bibelstelle zitiert, die ein apokalyptisches Szenario beschreibt, heute in Tschernobyl aber traurige Realität ist: "Der dritte Engel blies seine Posaune. Ein großer Stern fiel vom Himmel, der wie eine Fackel brannte, und fiel auf den dritten Teil der Flüsse und auf die Wasserquellen. Und der Name des Sternes heißt Wermut. Und der dritte Teil der Wasser ward Wermut. Und viele Menschen starben von den Wassern, weil sie bitter geworden ..." (Offenbarung des Johannes, 8, 10- 11). Am 26. April 1986 kam es im 4. Reaktorblock des Kraftwerks um 1 Uhr 24 zu einer Explosion. Einige Tonnen nuklearen Brennstoffs sowie Teile des Graphitblocks wurden aus dem Reaktor geschleudert. Fünf Millionen Menschen in Weißrußland, Rußland und der Ukraine waren und sind von der Strahlung betroffen, 600.000 "Liquidatoren" halfen mit, die Folgen der Katastrophe einzudämmen.

1,5 Millionen Erwachsene und 200.000 Kinder, die sich während des Unglücks in der Gefahrenzone aufhielten, wurden mit Jod-131 verstrahlt: 87 Prozent aller Erwachsenen und 48 Prozent aller Kinder erhielten eine Schilddrüsendosis von 30 rem, elf Prozent der Erwachsenen und 35 Prozent der Kinder zwischen 30 bis 100 rem, zwei Prozent der Erwachsenen und 17 Prozent der Kinder erhielten über 100 rem. Die genaue Dosis ist heute schwer zu eruieren, da damals ein gezieltes Erfassungssystem gefehlt hat. Laut Auskunft des österreichischen Bundesministeriums für Gesundheit ist eine Dosis von 350 rem für die Hälfte der Verstrahlten jedoch tödlich.

Nach dem Reaktorunfall: das Leben nimmt seinen ganz gewohnten Gang: Die Vertuschung des Reaktorunfalls verschlimmerte damals das Ausmaß der Katastrophe: In Gomel (100 Kilometer nördlich von Tschernobyl) wurde am Vormittag des 26. April - einige Stunden nach dem Unfall - das Blasmusikfest eröffnet, Musikkapellen und Trachtengruppen marschierten auf, alles war auf den Beinen, nicht ahnend, welcher Gefahr man ausgesetzt war. Ohne viel Aufsehen wurden die Bewohner der nächstgelegenen Stadt Pripjat am Nachmittag des 27. April evakuiert, der Rest der Bevölkerung wurde weiterhin im unklaren gelassen. Erst als man in Schweden am 28. April wegen überhöhter Strahlenbelastung Alarm schlug, wurde Europa mit der Tatsache konfrontiert, daß es einen Zwischenfall in einem Atomkraftwerk gegeben haben muß.

Jod gegen den Gau Die sowjetischen Behörden dementierten zunächst. Doch noch am selben Tag sendete das Moskauer Fernsehen eine Erklärung des Ministerrats mit folgendem Wortlaut: "Im Atomkraftwerk Tschernobyl hat sich ein Unfall ereignet. Ein Reaktor wurde beschädigt. Maßnahmen zur Beseitigung der Unfallfolgen werden ergriffen ..." Über das tatsächliche Ausmaß des Unglücks bewahrte man von offizieller Seite her weiterhin Stillschweigen. Dennoch sickerten aus dem Ausland Informationen durch. Teile der Bevölkerung begannen daraufhin auf eigene Faust prophylaktisch Jod-Tabletten zu organisieren, viele versuchten Gomel zu verlassen.

Am 4. Mai hieß es für die Bewohner der umliegenden Dörfer Abschied nehmen von ihrer Heimat. 1986 wurden 130.000 Menschen aus der 30 Kilometer-Zone evakuiert. Bis jetzt mußten insgesamt 400.000 Menschen ihre Häuser und Wohnungen verlassen.

In den letzten zwölf Jahren sind die Krebserkrankungen in Weißrußland enorm gestiegen: während offiziell die Zahlen heruntergespielt werden, sprechen manche Beobachter von einem zweihundertfachen Anstieg der Krebserkrankungen. An die 400.000 Kinder leiden offiziell an Schilddrüsenfunktionsstörungen. Von 100 Neugeborenen kommen nur 30 Kinder ohne Mißbildungen zur Welt. Neu ist eine immer öfter auftretende Immunschwäche mit besonderer Anfälligkeit für Infekte. Man spricht dabei von "Tschernobyl-Aids", gefährdet sind besonders Kinder, die bis zu hundertmal strahlenempfindlicher sind als Erwachsene.

Sterben zu Hause Die medizinische Versorgung für Krebspatienten ist unzureichend: es gibt in den Spitälern nicht genügend Betten, Medikamente und Schmerzmittel. Hinzu kommt, daß die Kosten für medizinische Leistungen - trotz anderslautenden staatlichen Versprechungen - selbst bezahlt werden müssen. Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 500 Schilling ist eine Chemotherapie um 10.000 Schilling unerschwinglich. Die Kinder werden zum Sterben nach Hause geschickt, berichten betroffene Eltern.

Während die Folgen der Katastrophe von Generation zu Generation weitervererbt werden, droht erneut Gefahr: der Betonmantel rund um den beschädigten Reaktorblock muß erneuert werden, jedoch es fehlt - wie überall - am Geld.

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