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Die biologischen Gefahren der Atomkraft

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„Die fehlenden Seiten“ im englischen Handbuch „Manual for Basic Training“ haben die Diskussion über die biologischen Gefahren einer kriegerischen oder industriellen Verwendung der Atomkraft neu aufleben lassen Seit die ersten Pioniere der medizinischen Verwendung von Rötgenstrahlen, die ihre bahnbrechende Arbeit mit den in ihrer Wirkung noch zu wenig bekannten Strahlungen mit schweren gesundheitlichen Schäden oder mit dem Tode bezahlten, als Märtyrer der Wissenschaft gefeiert wurden, hat die Welt ihr Antlitz in furchtbarer Weise verändert Japanische und amerikanische Ärzte hatten Gelegenheit, nach den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki ein „Massenexperiment“ zu beobachten, in dem es um das Leben von Tausenden ging. Die überaus hohen radioaktiven Strahlungsdosen, die bei der plötzlichen Entfesselung von Atomenergie entstehen, klingen wohl 6ehr rasch ab, bewirken aber noch für einige Zeit eine schwache Radioaktivität der betroffenen Gegend, und es besteht wahrscheinlich außerdem die Möglichkeit, für kriegerische Zwecke eine lange dauernde „Verseuchung“ weiter Landstriche herbeizuführen. Unter den dabei entstehenden Strahlungen sind die kurzwelligen Gammastrahlen, ähnlich wie die harten Röntgenstrahlen, durch ihre hohe Penetranz besonders wirksam.

Wir müssen zwischen den physiologischen Schäden unterscheiden, denen der von der Strahlung betroffene Mensch unmittelbar unterworfen ist, und den genetischen Strahlungsschäden, die sich über die Erbmasse erst in einer späteren oder in viel späteren Generationen zeigen. Der weitaus größte Teil der Opfer von Hiroshima starb in wenigen Stunden oder Tagen an den unmittelbaren Folgen stärkster Strahlungsdosen, durch die es in vielen Teilen des Körpers zum Absterben von Zellen und Geweben kommt. War die absorbierte Strahlungsdosis nicht übermäßig stark, so wurde dieses Stadium unter den Symptomen von Benommenheit, Durchfall, Erbrechen und Fieber überwunden. Doch stellten sich bei diesen Menschen nach ungefähr 14 Tagen Erscheinungen ein, die hauptsächlich darauf beruhten, daß die Gewebe des menschlichen Körpers, in denen ständig Zellteilungen stattfinden, gegen die Strahlung besonders empfindlich sind. Unter neuerlichem Fieberanstieg, Durchfall und Haarausfall starben viele in diesem Stadium. Nach ungefähr vier Wochen ze%te sich die Schädigung des roten Knochenmarks an Veränderungen des Blutbildes und deren Folgen. Die Zahl der weißen Blutkörperchen verminderte sich, es traten Blutungen an den Schleimhäuten auf und die Resistenz gegen Infektionen nahm ab, chronisches Fieber und Anämie traten hinzu. Auch in diesen Stadien starben viele Patienten, andere gesundeten erst nach Monaten. Die vorübergehende Sterilität bei Mann und Frau war ebenfalls auf die unmittelbare Schädigung des teilungsfähigen Gewebes zurückzuführen.

Die genetischen Strahlungsschäden beruhen auf Elementarereignissen im molekularen Bereich. Sie treten, im Gegensatz zu den physiologischen Wirkungen, seilen bei schwächsten Strahlungsdosen auf und können, wieder im Gegensatz zu den physiologischen Wirkungen, bei längerer Einwirkung schwächster Dosen additiv angehäuft werden. Sie sind entweder echte Mutationen im Sinne der experimentellen Genetik, plötzliche Änderungen von Erbfaktoren, die dann in dieser geänderten Form im Erbgang weitergegeben werden. Diese Mutationen entstehen auch im Keimlager, so daß sie von dem von der Strahlung betroffenen Menschen auch noch in viel späterer Zeit übertragen werden können. Die Mutationen sind meist von Nachteil, bewirken erbliche Anomalien, Erbkrankheiten oder erbliche Minderwertigkeit, sie sind aber auch meist rezessiv, also nur im „homozygoten“, reinerbigen Zustand wirksam. Deshalb können die meisten von ihnen überhaupt erst nach einigen Generationen in Erscheinung treten, wenn durch den Zufall zwei rezessive Erbfaktoren der gleichen Art zusammenkommen. Ihre Gefahr darf daher nicht überschätzt werden, wie dies oft in der Tagesliteratur der Fall ist. Bei dem beim Menschen gegebenen, nur sehr geringen Inzuchtgrad ist es an sich recht wenig wahrscheinlich, daß zwei rezessive Erbfaktoren der gleichen Art in der Nachkommenschaft der betroffenen Personen zusammenkommen. Wenn der Gebrauch von Atombomben und ähnlichem nicht zu einer ständigen Gewohnheit der Menschheit wird, ist auch eine so große Anhäufung nachteiliger Mutationen nicht zu erwarten, daß sie zu einer Gefahr für die Zukunft des Menschengeschlechts werden konnte.

Eine andere Gruppe von genetischen Strahlenschäden sind die durch Strahlung entstehenden Chromosomendislokationen, erbliche Änderungen in der Anordnung der Gene in den Chromosomen des Zellkerns. Diese führen nicht nur zu einer Minderung der Fruchtbarkeit des unmittelbar betroffenen Lebewesens, sondern auch zu teilweiser oder völliger Sterilität der unmittelbaren Nachkommenschaft oder zum Auftreten von meist dominanten, nachteiligen Erbeigenschaften. Solche dominante Erbwirkungen zeigen sich auch im „heterozygoten“, gemischterbigen Zustand. Sie sind daher eine ernstere Gefahr als die echten Genmutationen. Wie Tierversuche im Institut für allgemeine Biologie der Wiener Universität gezeigt haben, treten Chromosomendislokationen nach stärkerer Röntgenbestrahlung reifer Spermien mit einer Häufigkeit von über 30 Prozent bei den unmittelbaren Nachkommen auf.

Diese hohe Gefährdung der unmittelbaren Nachkommenschaft ist allerdings nur vorübergehend. Denn in den Zellen des Keimlagers, aus denen sich Spermien ständig neu bilden, entstehen übertragbare Chromosomendislokationen nur. mit einprozentiger und noch geringerer Häufigkeit. Die weiblichen Keimlager sind im allgemeinen von übertragbaren Chromosomendislokationen weniger betroffen als die männlichen.

Obwohl es verfrüht wäre, auf Grund unserer bisherigen Kenntnisse die genetischen Strahlenschäden in ihren Folgen für die Zukunft der Menschheit bereits richtig einschätzen zu wollen, kann man wohl sagen, daß die unmittelbaren gesundheitlichen Schäden einer kriegerischen Verwendung der Atomkraft schwerer wiegen als die genetischen Strahlenschäden, ganz abgesehen von den ethischen Gefahren, die in der Verwendung einer so furchtbaren Waffe gelegen sind.

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