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Elf Wochen alte Tanzkünstler

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Vor einem Unterausschuß des US-Senats machte der Autor, Leiter einer Ambulanz für geistig behinderte Kinder und Universitätsprofessor für Genetik in Paris, folgende bemerkenswerte Aussage

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Vor einem Unterausschuß des US-Senats machte der Autor, Leiter einer Ambulanz für geistig behinderte Kinder und Universitätsprofessor für Genetik in Paris, folgende bemerkenswerte Aussage

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Vor nunmehr 24 Jahren gelang es mir, jenes Extra-Chromosom, das typisch für den Mongolismus ist, zu beschreiben. Für diese Forschungsarbeit erhielt ich eine ganze Reihe wissenschaftliche^ Preise verliehen. Zusammen mit meinen Kollegen vom „Institut für Progenese" in Paris bin ich damit beschäftigt, die grundlegenden Fakten der menschlichen Vererbung zu verfolgen. Wir untersuchen chromosomale Unterschiede, die im Laufe der Evolution vor sich gegangen sind und zwar anhand einer vergleichenden Studie vieler verschiedener Säugetiere, einschließlich der Primaten. Dabei werden die schädlichen Konsequenzen verschiedener chromosomaler Fehlentwicklungen genauestens analysiert.

Im Jahr 1981 gelang es erstmals nachzuweisen, daß auch eine chromosomale Krankheit therapierbar sein kann. In dem sehr fragilen X-Syndrom, das mit der Fragilität des X-Chromosoms einhergeht und schwere geistige Behinderung verursachen kann, haben wir bewiesen, daß eine chemische Behandlung die chromosomale Verletzung der Gewebs-kultur heilen kann. Darüber hinaus bewirkt eine ausreichende Versorgung mit gewissen Chemikalien auch das Verhalten und die geistigen Fähigkeiten der betroffenen Kinder. Somit kann die Grundlagenforschung über die Mechanismen des Lebens direkt zum Schutz des bedrohten menschlichen Lebens beitragen.

Wann beginnt ein Mensch sein Dasein? Lassen Sie mich versuchen, Ihnen die genaueste Antwort, die die Wissenschaft derzeit zu geben vermag, zu vermitteln. Die moderne Biologie lehrt uns, daß die Vorfahren mit ihren Nachfahren durch ein kontinuierliches materielles Bindeglied verbunden sind, denn durch die Befruchtung der weiblichen Eizelle durch die männliche Samenzelle entsteht ein neues Mitglied der Art. Das Leben hat eine lange, lange Geschichte, aber jedes Individuum hat einen ganz genau umgrenzten Anfang, den Augenblick der Empfängnis.

Das materielle Bindeglied ist der Molekularfaden der DNA. In jeder reproduktiven Zelle ist dieses Band ca. einen Meter lang und (in unserem—menschlichen—Falle) in 23 verschiedene Stücke aufgeteilt. Jeder Teil ist sorgfältig eingerollt und verpackt (wie ein Magnetband in einer Kassette), sodaß unter dem Mikroskop jedes Chromosom wie ein Stäbchen erscheint. Sobald die 23 väterlichen Chromosomen sich mit den 23 mütterlichen bei der Befruchtung vereinigen, ist die gesamte genetische Information, die die Person bestimmt, vorhanden.

Die Natur- und Rechtswissenschaften sprechen dieselbe Sprache. Von einem Wesen, das sich guter Gesundheit erfreut, sagt der Biologe, es sei in guter Verfassung. Von einer Gemeinschaft, die sich harmonisch entwickelt und hin zum Wohle aller, würde der Verfassungsrechtler ebenfalls sagen, sie habe eine gute Verfassung.

Ein Gesetzgeber könnte nicht sagen, was ein bestimmtes Gesetz bewirkt, bevor alle seine Konsequenzen vollinhaltlich und klar durchdacht wurden. Sobald diese umfassende Information aber vorliegt und wenn das Gesetz beschlossen ist, dann kann es dazu beitragen, die Bedingungen der Verfassung zu definieren. Die Natur arbeitet mit dem gleichen Prinzip. Die Chromosomen sind die Bestandteile des Naturgesetzes und wenn sie sich in einem neuen Wesen versammelt haben (die Befruchtung entspricht dem Abstimmungsvorgang), dann legen sie eindeutig die persönliche Verfassung des Menschen fest.

Was verwirrend ist, ist die Kleinheit der Schrift. Es ist kaum zu glauben, aber über jeden Zweifel erhaben: das materielle Substrat für die gesamte genetische Information zur Entwicklung unseres Körpers und unseres Gehirns, des potentesten Problemlö-sers, den wir kennen, der sogar die Gesetze des Universums analysiert, ist von so geringem Ausmaß, daß es leicht irr die Spitze einer Nadel paßt.

Wohl noch eindrucksvoller ist die Tatsache, daß während der Reifung der reproduktiven Zellen die genetische Information auf so vielfältige Weise gemischt wird, daß jeder Konzeptus eine völlig neue Kombination erhält, die es vorher noch nie gegeben hat und die es nach ihm auch niemals geben wird. Jeder Konzeptus ist einmalig und somit unersetzlich. Eineiige Zwillinge und echte Hermaphroditen sind die Ausnahme. Diese Ausnahmen müssen allerdings zur Zeit der Empfängnis passieren. Spätere Unfälle würden einen harmonischen Ablauf stören. Die sogenannten „Retortenbabys" haben mittlerweile ja auch die Autonomie des Kindes zwingend bewiesen.

Das oben Gesagte erklärt, warum die Herren Edwards und Step-toe die In-vitro-Befruchtung eines reifen Ovums von Frau Brown mit der Samenzelle des Herrn Brown durchführen und beobach-, ten konnten. Der winzige Konzeptus, den sie Tage danach in die Bauchhöhle von Frau Brown einpflanzen konnten, war weder ein Tumor noch ein Tier. Es war — wie wir alle wissen—die winzige Luise Brown, die nunmehr vier Jahre alt ist.

Wenn die Samenzelle einer Kuh mit dem Samen eines Stiers befruchtet wird und der winzige Konzeptus schwerelos in der Flüssigkeit schwebt, beginnt er unmittelbar seine Rinderlaufbahn. Normalerweise würde er eine Woche benötigen, um durch den Eileiter bis zur Gebärmutter zu reisen. Aber dank moderner Technologie kann er sehr viel weiter reisen, kann sogar den Ozean überqueren. Die beste Art der Verschiffung eines solch zwei Milligramm schweren Rindes geht so vor sich, daß es in den Eileiter eines Kaninchens eingepflanzt wird (die Luftfracht für ein Kaninchen liegt weit unter der einer Kuh), und, am Ziel angekommen, wird das winzige Tier sehr vorsichtig aus dem Kaninchen entfernt und einer Kuh eingepflanzt. Monate später zeigt das Kalb alle genetischen Anzeichen, die es von seinen echten Eltern geerbt hat und keinerlei Qualitäten des temporären Trägers- (des Kaninchens) oder seiner Ziehmutter.

Die Lebensfähigkeit eines Konzeptus ist außergewöhnlich. Versuchsweise kann man einen Mäuse-Embryo tief gefrieren (sogar bis zu -269 Grad C) und nach vorsichtigem Auftauen wieder implantieren. Für weiteres Wachstum reicht die Plazenta, deren Wachstum der Embryo von sich aus veranlaßt, ihn mit geeigneten Nahrungsmitteln versorgen. In seiner Lebenskapsel, dem amniotischen Sack, ist das Wesen ganz zu Anfang seiner Laufbahn ebenso lebensfähig wie ein Astronaut auf dem Mond in seinem Raumanzug: das Auftanken mit lebensnotwendigen Flüssigkeiten vom Mutterschiff ist absolute Notwendigkeit.

Dank eines verfeinerten sonar-ähnlichen Bildwerfers gelang es' Ian Donald aus England vor einem Jahr, einen Film herzustellen, der den jüngsten Star der Welt zeigte, ein elf Wochen altes Baby, das im Uterus tanzt.

Das Baby spielt, sozusagen wie auf einem Trampolin. Es beugt die Knie, drückt an die Wände, springt auf und ab. Weil ja der Körper das gleiche spezifische Gewicht hat wie die amniotische Flüssigkeit, spürt es kein Schwergewicht und vollführt seinen Tanz auf langsame, graziöse und elegante Art, wie er nirgends sonst auf der Erde vollführt werden kann. Nur Astronauten bewegen sich in ihrem schwerelosen Zustand mit ähnlicher Eleganz. Übrigens, als die Wissenschafter überlegten, wie sie für den Spaziergang im All die lebensnotwendigen Schläuche fixieren sollten, einigte man sich auf den Gürtelverschluß, ähnlich der Nabelschnur.

Mit zwei Monaten ist der Mensch nicht ganz so groß wie ein Daumen, gemessen vom Kopf bis zum Rumpf. Er würde leicht in eine Nußschale passen und trotzdem ist alles vorhanden: Hände, Füße, Kopf, Organe, alles an seinem Platz. Sein Herz schlägt schon seit mehr als einem Monat, würde man genau hinsehen, könnte man die Linie der Handflächen ausnehmen. Jedes Detail für eine Identitätskarte ist bereits vorhanden.

Mit Hilfe unserer neuesten Technologien sind wir bereits in seine Intimsphäre eingedrungen: Spezielle Hydrophone lassen eine ganz primitive Musik erkennen: einen tiefen, Sicherheit vermittelnden hammerartigen Ton, 60 oder 70 Schläge pro Minute (das mütterliche Herz), und einen sehr schnellen, hohen Ton, 150 bis 170 mal in der Minute (das kindliche Herz), genau jenes Muster, das wir in Kontrabaß und Maracas, den grundlegenden Rhythmen jeder Pop-Musik, wiederfinden.

Wir wissen, was das Kind fühlt, wir haben Kenntnis davon, was es hört, riecht, schmeckt, wir haben es sogar tanzen gesehen, voll der Grazie und Anmut. Die Wissenschaft hat das Märchen vom Däumling in eine wahre Geschichte verwandelt, die Geschichte, die jeder von uns bereits vor seiner Geburt durchlebt hat.

Int Deutsche übersetzt von Grit Ebner.

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