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Neovitalismus und Materialismus

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Von der immer deutlicher werdenden Schwankung der Naturwissenschaft. vom reinen Materialismus hinweg zur Anerkennung eines zielstrebigen unstofflidien Prinzips war in dieser Zeitschrift bereits die Rede. Es handelt sich dabei um keine Modeerscheinung, auch nicht um eine von außen hereingetragene Tendenz, sondern um Einsichten, die aus den Ergebnissen der naturkundlichen Forschung selbst resultieren. Glaubte die mechanistische Naturbetrachtung mit rein physikalisdaen Gesetzmäßigkeiten ihr Auslangen zu finden, und mußte sie daher das Dasein einer Lebenskraft als einer über dem physikalischen Geschehen stehenden Energieform leugnen, so hat der, vor allem von H. Drj|pch vertretene Neovitalismus die geheimnisvolle Lebenskraft wieder in ihre Rechte eingesetzt und ihr eine zentrale Stellung in den organischen Prozessen zugewiesen. Man ist auf Lebensvorgänge gestoßen, die sich rein mechanisch nicht erklären lassen. Was hilft es, mußte man sich sagen, alles Leben der Zellen, ihren Stoffwechsel (Dis- und Assimilation) auf chemische „Affinität“ zurückführen zu wollen, wenn der ewig unerklärbare Rest damit nicht wegzuschaffen ist, nämlich die Frage, warum diese chemisch-physiologischen Vorgänge sich ausgerechnet in der Richtung vollziehen, die den Lebensnotwendigkeiten der Organismen entspricht? Ei- und Samenzellen werden gegeneinander hingezogen, gut, aber warum erfolgt diese Anziehung gerade zwischen solchen Elementen, die vereint das neue Leben erzeugen? Und nach welchem physikalischem Gesetze wandert die Eizelle, wenn der gleichseitige Eileiter operativ entfernt wurde, durch die Bauchhöhle hindurch zielsicher nach der anderen Seite, dorthin, wo allein der befruchtende Same sie später erreichen kann? „Non lucet“, das ist alles, was die Mechanisten dazu sagen können.

Zahlreiche andere Vorgänge im organischen Leben sind ebenso geheimnisvoll und ohne Annahme einer eigenen Kraft, der Lebenskraft, völlig unbegreiflich. Die Einwirkung der Sonnenstrahlen auf die Blätter und die Erzeugung von Traubenzucker in diesen ist ein chemischer Prozeß. Daß aber die Pflanze die Fähigkeit hat. ein Zuviel an solchem Zucker, das ihr infolge des

•smotischen Druckes lebensgefährlich würde, in eine genau entsprechende Menge von Stärke zu verwandeln, die osmotisch unschädlich ist, dafür gibt es keine physikalischmechanistische Erklärung.

Wer findet eine physikalische Gesetzmäßigkeit in dem Verhalten der winzigen Larve des Erbsenkäfers vor ihrer Verpuppung im Inneren der Erbse? Sie bohrt sich in der noch weichen Umgebung einen Stollen bis zum Rande, kehrt dann ins Innere zurück und beginnt dort ihre Verkapselung, die sie so lange festhält, daß unterdessen die weiche Erbse hart wird und es aus ihr ohne den Stollen, den sich das Insekt „vorsorglich“ gebohrt hatte, kein Entrinnen gäbe. Was dem armseligen Geschöpf diese „V oraussicht“ verliehen hat, wird rein naturwissenschaftlich immer ein Geheimnis bleiben. Angelernt kann diese Fähigkeit in unserem Falle deshalb nicht sein, weil keinerlei böse Erfahrung bei Unterlassung der geschilderten Vorsichtsmaßnahme mitgespielt haben kann, da jede Larve beim Sammeln solcher „Erfahrung“ ihr Leben eingebüßt hätte. Mit dem Wort „Instinkt“ helfen wir uns notdürftig über das große Geheimnis hinweg, ist aber damit etwas erklärt?

Ebenso viele Rätsel geben Vorgänge im Anorganischen auf. Wir bewundern alle die prächtigen Kristalle mit ihren den mathematischen Gesetzen genau entsprechenden Flächenanordnungen. Wie kann die rohe Materie sich in künstlerisch-ästhetiseb so vollkommener Weise präsentieren? Ein Zielstreben ist unverkennbar, das toter Stoff nie besitzen kann — ohne eine Kraft, die nicht im rein Stofflichen liegt. Wer in alldem nichts sähe als das Wirken materieller Kräfte, wäre einem Menschen zu vergleichen, der die zielsichere Einfahrt eines Schiffes in einen bestimmten Hafen beobachten und diese Leistung einzig und allein der Kraft der Schiffsmaschine und dem Kompaß zuschreiben, dabei aber die Tätigkeit des Kapitäns und des Steuermanns ganz vergessen würde. Ein solcher großer, allvermögender Lenker ist auch im Universum, im Naturgeschehen am Werk. Ohne seine zielbewußte Lenkung wäre kein Grashalm, kein Tier und erst recht kein Mensch ins Dasein getreten und im Dasein verblieben.

Die Gesetze, die die Mate r i e beherrschen, kennen wir aus der physikalischen und chemischen Wissenschaft, die Tins sagen, daß die dabei wirksamen Kräfte „blind“ sind, das heißt, nicht danach fragen, ob sie im Einzelfall lebenzerstörend oder aufbauend wirken. Der Blitz, die Sonnenglut des Äquators, die eisige Kälte der Polargebiete, Erdbeben und Vulkane, Sturm und Regen, sie alle gehorchen einer ihnen innewohnenden starren Gesetzmäßigkeit, nur die Lebewesen haben eine Seele, das heißt Empfindungen und die Fähigkeit, sich zwecks eigener Selbsterhaltung und -entfaltung für ein Tun oder Lassen zu entscheiden, weldie Entscheidung nur der Mensch allein selbstherrlich, aufrecht, individuell und mit freiem Willen trifft, die anderen Lebewesen aber unter einem jeder Gattung auferlegten Zwang, „gebeugt vom Jodie der Notdurft“. Zu diesen sagte die Natur: „Tut, was i c h will, für euer Tun und Lassen bin ich verantwortlich“; zum Menschen aber: „Tue, was d u willst, du allein trägst dafür die Verantwortung.“ Dort Zwang, hier Freiheit, dort Instinkt, hier Sittlichkeit. In keinem der beiden Fälle aber ein rein mechanistisches Gehaben, keine bloße Orientierung nach starrer, unabänderlicher Gesetzmäßigkeit (gezähmte Tiere verändern zum Beispiel oft ihre Lebensart), sondern stets bezogen auf die individuelle Entwicklung, auf Lebenserhaltung und -entfaltung. Es herrschen hier immanente Gesetze, aus der Natur der Wesen selbst hervorgehend, im Unbelebten aber lineare, stofflich bedingte Zusammenhänge und Wirksamkeiten. Mit Recht stellte daher Theißen („Vom Urquell des Lebens“, Verlag Tyrolia) fest, „daß alle Lebensäußerungen der Pflanzen (sowie der Tiere und Menschen. Verf.), Wadistum und Gestaltung des Ganzen wie aller einzelnen Teile von innen aus durch ein geheimnisvolles unstoffliches Prinzip geregelt und geleitet werden, welches die Pflanze beherrscht und beseelt, wie — nun, wie es eben eine Seele tut. Und diese Seele kann die Wissenschaft nicht fassen, nicht untersuchen mit Kalklauge und Mikroskop: deshalb muß ihr auch deren Wirken unfaßbar und unerklärlich bleiben. Das ist in letzter Linie auch der Grund, daß die Vertreter dieser Wissenschaft gemeiniglich weder in den Pflanzen, noch in Tier oder Mensch ein stofflich unfaßbares, leitendes Prinzip, so etwas wie eine Seele überhaupt anerkennen wollen, sich vielmehr mit leidenschaftlichem Stolze dagegen wehren“. Da aber im Reich der

Gedanken die Wahrheit und nicht Stolz und Leidenschaft letzten Endes siegreich sind, sShen wir die Vertreter der Forschung mehr und mehr in die Bahnen einlenken, die vom bloßen Mechanismus hinweg zum Vitalismus und damit von der Materie zu Seele, Willen, Geist und Göttlichkeit hinführen, wir stellen mit Genugtuung einen religiösen Aufschwung, der aus den Niederungen des Materialistischen zu lichten Höhen emporleitet, fest. Durch die eigene Forschung gezwungen, sehen wir so manchen Saulus zu einem Paulus werden. Geht es damit auch nur allmählich vorwärts, so macht uns dieses Schneckentempo nicht bange. Wissen wir doch, daß es die Wahrheit niemals eilig hat, sie ist ja ewig, daher „faul wie ein Krokodil im Sdilamm des Nils“.(S. Gesell.) Für ihren schließlichen Sieg sorgt ihr „Impresario“, der Irrtum, der überall anstößt und jener Platz machen muß. So konnte allen Einsichtigen auch die Eile, die die nationalsozialistische „Wissenschaft“ bei der Gewinnung der Gehirne entfaltete, nur verdächtig erscheinen. Auch sie hat bewiesen, daß diese Irrlehre nur der Zeit und ihren Irrtümern dienstbar war. So mußte geschehen, was geschah: Deus afflavit, et dissi-pati sunt. • Wie gewonnen, so zerronnen. Das aber ist das Sdiicksal auch aller anderen falschen Propheten und ihrer Vorspiegelungen: Sie steigen oft wie Meteore empor, um bald wieder zu verlöschen. Ewig und ungetrübt strahlt nur das Licht der Zentralsonne auf uns hernieder, der Wahrheit, die Geist ist vom Geiste Gottes.

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