Fliessen - © Foto: iStock/microgenw (Bildbearbeitung: Rainer Messerklinger)

In Bewegung: Alles fließt

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Veränderung bewegt – und kann gleichzeitig Frieden stiften. Gedanken zu Stabilität in Zeiten des Wandels.

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Veränderung bewegt – und kann gleichzeitig Frieden stiften. Gedanken zu Stabilität in Zeiten des Wandels.

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Wir sind in Bewegung und werden bewegt. Wir treiben an und sind Getriebene. Um unseren Wohlstand zu erhalten, müssen wir danach trachten, unser Wirtschaftswachstum immerfort zu steigern. Zugleich sind die Folgen des Klimawandels kaum noch zu bremsen. Die Medizin rät dringend zu mehr körperlicher Bewegung, um– wie es heißt – bis ins hohe Alter „fit“ zu bleiben. Das ist die eine Seite. Die andere Seite besteht darin, Arbeits-, Familien- und Freizeithektik durch Ruhezonen abzupuffern. Man soll „die Seele baumeln“ lassen. Die Wellness-Oasen boomen mit ihren Entspannungsangeboten. Karriere und Mobilität gehören heutzutage ebenso zum erfolgreichen Leben wie kostspielige Interventionen gegen Wohlstandsdepression, Arbeitssucht und Burn-out.

Bewegung, Raum und Zeit sind untrennbar miteinander verflochten. Unser Universum ist im Größten wie im Kleinsten rasend bewegt. Das Licht, das unsere Welt erhellt, legt pro Stunde 1080 Millionen Kilometer zurück. Mehr Bewegung geht nicht. Bewegung ist eine grundlegende Funktion auch der Evolution alles Lebendigen. Ohne spontane Neubildungen, den sogenannten Mutationen, gäbe es kein Leben auf Erden.

Das Phänomen der Konstanz

Trotzdem zählt für unser Alltagserleben, dass die bewegten Dinge dieselben bleiben, von Sekundenbruchteilen bis zu Jahrmillionen. Eine Sternschnuppe scheint am Nachthimmel nur einige Momente lang zu existieren, während der Mond über alle Epochen der Erdgeschichte seine immergleichen Phasen durchläuft. Dass es sich dabei stets um „Urteile vom menschlichen Standpunkt aus“ handelt, war schon den vorsokratischen Philosophen bekannt. Und wenn ein Kleinkind seinem Ball nachkrabbelt, der hinter eine Ecke rollt, dann deshalb, weil es begriff, dass der Ball sich nicht durch Bewegung in nichts auflöst. Auch unsichtbar geworden, bleibt er der, der er war. Damit hat das Kind den grundlegenden Zusammenhang von Bewegung, Dauer und Identität erfasst.

Von Heraklit aus Ephesos (etwa 520 bis 460 v. Chr.) ist uns das berühmte Fragment panta rhei, „Alles fließt“, überliefert. Wir wissen nicht genau, was er damit sagen wollte. Eine Auslegungshilfe bietet indessen ein weiterer Ausspruch des Denkers. Demnach können wir nicht zweimal in denselben Fluss steigen – was auf den ersten Blick als widervernünftige Annahme befremdet. Auf den zweiten Blick jedoch wird unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass eine in Bewegung befindliche Sache von Augenblick zu Augenblick eine andere zu werden scheint. Das Wasser in das wir soeben eintauchten, floss weiter. Wie also könnte es sich noch immer um denselben Fluss handeln?

Identität trotz Bewegung oder Veränderung – das Phänomen der Konstanz – ist keineswegs trivial. Denn es handelt sich dabei um die Frage nach den wesentlichen Eigenschaften. So wie, zum Beispiel, die Donau an allen ihren Punkten die Donau bleibt, auch wenn ihre Wasser unablässig dem Meer zustreben, so bleibt ein Mensch immer derselbe, von seiner Geburt bis zu seinem Tod. Sein Leben bewegt sich durch die Zeit, seine Körperzellen erneuern sich immer wieder, sein Aussehen vom Baby bis zum Greis verändert sich grundlegend – trotzdem scheint die Zeit seiner Identität als Person nichts anhaben zu können. Oder handelt es sich um eine bloße Übereinkunft, die wir treffen, um uns in der Welt leichter zu orientieren? Ließe sich nicht sagen, dass – unbeschadet der genetischen „Information“, die mein Leben lang gleich bleibt – ich mich von Augenblick zu Augenblick wandle? Zu meiner Selbstbeschreibung gehört unabdingbar meine Identität in der Zeit, und diese ist niemals dieselbe, da ich auch ein Bewusstsein voller Unruhe habe, ja, als Erlebniswesen dieses Bewusstsein bin. Mein Selbstbild kann durch einen Schicksalsschlag erschüttert werden, ich mag Entscheidungen treffen, die mich zu der Überzeugung bringen, ich sei „ein anderer“ geworden. Und dabei weiß ich doch, dass etwas Elementares durch alle meine Lebensstürme hindurch standhält. Ich mag ein anderer geworden sein, aber unter einer Klammer, mit der ich mich über die Zeit hinweg auf mich selbst beziehe: Ich bin ich. Ich bin es, der urteilt, er sei ein anderer geworden.

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