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Der babylonische Turm

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Wenn die Person sich in der modernen Welt verirrt, so kommt da daher, daß die Rahmen zu groß geworden sind. Warum aber hat man sie seit einem Jahrhundert über jedes Maß hinaus vergrößert? Warum will man Großes um jeden Preis? Wenn nicht geradezu, um sich darin zu verlieren!

Am Ursprung aller dieser zu ausgedehnten und zu komplizierten Dinge, die uns umgeben, ohne uns ' einzurahmen, und die uns mehr bedrücken, als sie uns unterstützen, stehen ohne Zweifel sehr präzise Gründe, alle bekannten wirtschaftlichen, technischen; sozialen und finanziellen „Notwendigkeiten". Aber am Ursprung dieser „Notwendigkeiten“ selbst ahne ich unsere dunkle Sehnsucht nach der Flucht ins unverantwortliche Anonyme und die sehr alte Versuchung, unsere Unruhe durch die Utopie des eritis sicut dii zu kompensieren.

Nun, wenn wir uns verlieren, ist es der Teufel, der uns findet. Und wenn wir, um unserem Stande zu entrinnen, den Göttern gleich werden wollen, ist es wieder der Teufel, der uns auf dem Gipfel unserer Höhenfahrt empfängt. Wie der große Mythos unserer Zeit.

Obgleich es in der Erzählung des elften Kapitels der Genesis nicht erwähnt wird, ist der Teufel ganz offensichtlich der hauptsächlichste Unternehmer des ursprünglichen Turmes und seiner modernen Wiederholungen. (Ich spiele nicht auf die Wolkenkratzer, diese schönen, harmlosen, oft grandiosen und immer etwas dummen Spielzeuge an, sondern auf die Gesamtheit unserer wirtschaftlichen, politischen und städtischen Unternehmungen.) Rekapitulieren wir diese zu wenig bekannte Erzählung: „Die ganze Erde aber hatte eine Sprache und einerlei Wort e.“ Im großen und ganzen ging alles gut. Aber nun kam die Unruhe, die immer mit der Versuchung Hand in Hand geht: „Sie sagten wieder: ,Auf! Lasset uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis zum Himmel reicht, und sehen wir uns so vor, daß wir nicht über die ganke Erde verstreut werden! " Ihr erkennt Satan an diesem Zweifel, von dem sie erfaßt werden, an diesem plötzlichen Bedürfnis, sich ihresGlückes, in diesem Falle ihrer Einheit, za versichern. Und deshalb werden sie ihr Glück verlieren, wie Orpheus Eurydike verlor, weil er sich, da ihm der Glaube fehlte, vergewissern wollte, daß sie ihm folge. Ihr erkennt die romantische Idee, die er ihnen suggeriert: besser machen als Gott, „sich einen eigenen Namen machen“, durch ihre eigenen Mittel zum Himmel aufsteigen, um dort Götter nach ihrer Art zu werden. Das Resultat, das der gefallene Engel voraussehen mußte, wird notwendigerweise das Gegenteil von dem sein, was sie wollten. „Wenn ihr den Apfel eßt, werdet ihr nicht sterben", sagt die Schlange. Sie essen ihn und treten in die Zeit ein, in der man stirbt. „Wenn wir uns eine Stadt bauen, werden wir vereint bleiben“, sagen sich die Menschen. Sie tun es, und gerade da „ver- wirrt der Ewige ihre Sprache“, von diesem Augenblick an „zerstreute der Ewige sie über die ganze Erde“.

Dieses merkwürdige Mißgeschick wird von der biblischen Erzählung dem Zorne des Ewigen zugeschrieben, der „hera b- stieg, um die Stadt und den Turm zu beschauen, die die Menschenkinder bauten. Und der Ewige sagte: ,S i e h, sie sind ein einziges Volk und haben alle dieselbe Sprache, und das haben sie nun unternommen! “ Es sieht so aus, als wollte er sie dafür bestrafen, daß sie so dumm sind. Dante aber glaubt, sie hätten sich wohl ganz allein selbst bestraft. Man brauchte sie nur handeln zu lassen! In seinem Traktat „D e vulgari eloquio“ schlägt er eine sehr natürliche Erklärung des Phänomens der Sprachenverwirrung vor. Wenn die Menschen sich beim Bau dieses ersten Wolkenkratzers nicht mehr verstanden haben, so einfach deshalb, weil die Unternehmung zu gewaltig war. In der Tat waren sie, um den Turmbau zu vollenden, gezwungen, sich in spezialisierte Arbeitsmannschaften zu teilen. Die einen fertigten die Ziegel an, die ihnen als Stein dienten, die anderen den Asphalt, der den Zement lieferte; andere hatten nur das Material hinaufzutragen, wieder andere die Mauern zu errichten, zu zimmern oder die Wände mit Putz zu bewerfen. Wegen der Ungeheuerlichkeit der Unternehmung lebten diese Spezialisten in getrennten Gruppen. Mit der Zeit schufen sie sich tech-

nische Sprachen, Jargons des Metiers, verschiedene Mundarten, so daß sie schließlich einander nicht mehr verstanden. Die Vielfalt der Sprachen war aus der Arbeit selbst hervorgegangen. Aber diese Arbeit wurde bald schleppend verrichtet, stand dann still, weil niemand mehr ihr überdimensionales Ganzes zu beherrschen, noch ihren Sinn in eine gemeinsame Formel zu fassen vermochte.

Es will mir scheinen, daß wir ungefähr auf demselben Punkt angelangt sind. Die noch nicht dagewesene Anarchie unseres Wortschatzes — insbesondere in der Politik —.würde genügen, das Nichtvorhandensein jedes gemeinsamen Maßes in unserem Jahrhundert zu verraten. Wir haben für unsere Kräfte zu weit gesehen, wir haben unterwegs die goldene Regel, das Normalmaß des Menschen verloren. Und da wir in allem zu schnell gewesen sind, haben wir den Maßstab und den Sinn der letzten Zwecke des Menschenwerks aus dem Auge verloren. Das Individuum verliert sich in seinem großen Räderwerk, es fühlt sich darin überall im Exil. Wofern es sich nicht gar darin aus Versehen fängt, wie man es kürzlich in Illinois gesehen hat: Arbeiter montierten mit solcher Schnelligkeit ein vorher fertiggestelltes Haus, daß einer von ihnen in dem Bauwerk eingeschlossen blieb, so daß man einen ganzen Teil desselben zerstören mußte, um ihn zu retten.. Wird man unsere Welt zertrümmern müssen, . damit der Mensch sich in ihr wiederfinde und sich eine Behausung nach seinem Maße herstelle?

Das bemerkenswerteste Phänomen zu Anfang des letzten Jahrhunderts war in der Tat die jähe Vergrößerung, oder besser gesagt, die Babelisierung der materielle Rahmen unseres Daseins. Die Erfindung der Maschinen hat mit einen Schlage die Möglichkeiten unserer Wirkung auf die Materie vergrößert. Industrie und Handel haben die plötzliche Schaffung riesiger Städte — zehn- bis hundertmal größer als die seit Jahrtausenden bekannten — hervorgerufen. In diesen Städten haben sich ungestalte Menschenmassen angehäuft, die die um kleine Unternehmungen organisierten Gruppen verschwinden machten und auflösten. Auch die Reichtümer haben sich so vermehrt, daß sie den Blicken entgingen: sie sind zu abstrakten Ziffern, fernen Mächten, geworden, deren seltsame Sitten die Nationalökonomen zu studieren begonnen haben — Sitten, geheimnisvoller als jene der antidiluvianischen Ungeheuer, mit denen sie übrigens die ganze Unbeständigkeit teilen. Die Bevölkerung Europas hat sich in hundert Jahren mehr als verdoppelt; ihre Reichtümer haben sich verzehnfacht, ihre industrielle Produktion verhundertfacht. Und der schließliche Konkurs all dieser Elemente hat die Schaffung bedeutender Armeen nach sich gezogen, und dadurch plötzlich das Phänomen des Krieges nach dem Maße der ganzen Nation vergrößert.

So ist durch einen jähen Wechsel im Zeitraum von 50 bis 100 Jahren die Gesellschaft zu gigantisch geworden, um von einem einzigen Blick beherrscht zu werden. Ein einziger Verstand kann ihr Räderwerk nicht verstehen und meistern. (Und das ist es ohne Zweifel, warum man den Ungeschliffensten und Unwissendsten ungestraft das Recht geben kann, über alles abzustimmen und ihre Meinung zu sagen: es wird nicht schlimmer sein.) Nun bemächtigt sich der Taumel von Babel des menschlichen Geistes. Wie jeder Taumel wird er aus der Unfähigkeit geboren, Höhen oder Dimensionen, die über das menschliche Maß hinausgehen, zu ertragen. Wie jeder Taumel kann er sich nur in Worten des Widerspruchs ausdrücken. Niemals war der Mensch mächtiger, und doch hat er sich niemals als Individuum ohnmächtiger gefühlt. Niemals war er wissender, und doch hatte er niemals den Eindruck, so schlecht zu verstehen, was in seiner Welt vorgeht.,Niemals näherte er sich mit größerer Leidenschaft den Zielen seines Fortschritts, und doch hat sich seine Barbarei niemals besser bewaffnet gezeigt, sie zu zerstören. „Steigt hinauf!“ sagt der Teufel „Und seid Göttern gleich, vergesset euer menschliches Maß!“ Aber je höher man steigt, desto tiefer fällt man. Sucht jetzt die Verantwortlichen! Ihr werdet nur mehr Komitees, Parteien, fallierende Trusts, Theorien, „ismen“, Initialen, eine Meinung, die nie etwas weiß, Regierungen finden, die zuviel Angst vor dieser haben, um sie zu informieren, eine universelle Flucht ins Anonyme, eine riesige Kakophonie, die vom Krachen der Bomben beherrscht wird.

Einer jener Narren der geschwätzigen Weisheit, wie man sie in den Kaffeehäusern findet, pflegte mir die folgende Theorie vorzutragen: „Alles Übel kommt von den Stockwerken her, einer diabolischen Erfindung. In der Tat sollte ein Haus normalerweise entworfen werden, um den Menschen ein Obdach zu gewähren. Es ist nicht natürlich, wenn man ihm Stockwerke hinzufügt. Denn, wenn man zum Beispiel vom vierten Stock hinabfällt, ist man tot. Das wäre aber noch nichts. Ernster ist, daß die Erfindung der Stockwerke die Großstadt ermöglicht hat. Die Großstadt hat die Bildung der Massen mit sich gebracht. Mit den Massen wurden die großen sozialen Probleme geboren. Und diese sind der Ursprung der Kriege des 20. Jahrhunderts. Das ganze Übel kommt von den Stockwerken!"

Offen gesagt: man machte ihrer nicht wenig dem Erdboden gleich, in dieser letzten Zeit…

Aus dem Im Programm der Amandus-Edition vorgesehenen Buche: Denis de Rougemont, „Des Teufels Anteil“., übertragen von Joaef Ziwuschka.

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