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Moderne Schulfilme in Frankreich

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In einer kleinen Seitenstraße der avenue de l'opera, ragt ein schmalbrüstiger Bau mit breitausladenden Fenstern, die fast die ganze Front ausmachen, in den Himmel hinein und tritt weiter von der Fahrbahn zurück als die Häuser seiner nächsten Umgebung. Die ernste ruhige Aufschrift „Filmes specialites Eclair“ bezeichnet die Arbeitsstätte eines der modernsten Film-instituter von Paris..

Weit in seinen Armstuhl zurückgelehnt sitzt der Herr und Leiter dieses Unter-nehrhens, Monsieur Dumonteil, seinen Besuchern gegenüber. „Die Not Frankreichs, die Jahre der Bedrückung haben Spuren auch bei den Kindern, bei der Jugend hinterlassen“, führt er aus. ..Jahrelang war die Schulbildung gehemmt, eingeschränkt, vernachlässigt. Gute Lehrer, Professoren saßen in Gefängnissen oder standen unter Lehrverbot. Die Schulen waren zu Flüchtlingslagern, Spitälern oder Kasernen umgewandelt. Da . blieb wenig Möglichkeit zu • ernster, regelmäßiger Schularbeit. Wie kann man verlorene Jahre bei Kindern, bei der Jugend, wieder einholen? — Jedes Jahr hat in diesem Alter, seiner Aufnahmefähigkeit entsprechend, ein Pensum zugeteilt. — Verlorene Wochen, Monate sind nicht wieder einzuholen. — Später treten dann Pflichten, Interessen, Leidenschaften, wie Liebe und der Alltag an die Jugend heran und ihre Aufnahmefähigkeit wird in den Hintergrund geschoben. Frankreich . aber braucht heute mehr denn je die Bildung, das Wissen, die. Kultur seines Volkes. — Woher und wie. den Ausgleich schaffen, der die Lücke füllt und die des Lernens entwöhnte Jugend, leicht und unbemerkt wieder an das Lernenwollen heranführt? Schon während des Krieges, ■ wenn wir in irgendeinem Erdloch auf das Herannahen der deutschen Stukageschwader warteten, wenn wir in hohen Feldern auf vorgeschobenen Posten lagen und angestrengt in die Nacht hinaushorchten, bewegten mich diese Fragen. Ich kam aus der Filmindustrie, war vom Film in den Krieg gezogen und freute mich, in den kleinen Städten, die Menschen: trotz aller Sorgen in die Kinos strömen zu sehen. Entspannte Gesichter kamen mir entgegen,- wenn sie dieselben wieder verließen. — Da war's wie eine Erleuchtung. Diese Stunden des Aufgeschlossenseins, diese Möglichkeiten der Einprägsamkeit, die selbst die Sorgen des Krieges hinter sich zu lassen imstande waren, mußten genützt, für Höheres als nur zu Unterhaltungszwecken, verwendet werden.

Wo ich konnte, habe ich Kinos besucht. Nicht die Großstadtkinos waren mein Ziel, nein die der Provinz, des Landes und der Soldatenlichtspiele gaben mir Aufschluß über die Wirksamkeit einzelner Filme und Bilder. Dort konnte ich meine Studien machen, beobachten, was beim Publikum “Eindruck hinterließ, hängenblieb, verarbeitet wurde und zum Denken anregte. — Es kommt so viel, vielleicht alles auf Aufnahmen, auf Darstellung, auf Gliederung, Zusammenhang und Folge an. — Das habe ich gelernt, darüber habe ich nachgedacht, gegrübelt, tage-, nächtelang, während ich im Freien lag und Regen über mich und die Kameraden erbarmungslos niederprasselte oder wenn in Baracken auf harten Holzpritschen die Hitze schier unerträglich, wurde. . Ich habe mir damals geschworen, Frankreich Filme — Lehrfilme an die Hand zu geben, die die Jugend wieder lernbegierig machen sollten und ihnen helfen würden, verlorene Zeiten durch leichtere Lernmöglichkeiten aufzuholen.

Ich habe manches erreicht, ich. bin lange noch nicht am Ziel — aber kommen Sie, sehen Sie selbst, was geschaffen wurde, r— Sie kennen die Kulturfilme, auch ich habe solche, in Deutschland gesehen. Sie sind, gut, sie sind lehrreich und schön, aber man muß mehr noch für Schulen zu geben im-t stände sein, um Lehrer und Schüler zu entlasten. Es soll eine neue Schultechnik in den niederen und höheren Schulen damit begründet werden. Alle fünf Sinne des Menschen wirken gleichmäßig auf das Gehirn ein. Das, Gehör darf nicht allein der Hauptmittler in den Schulen bleiben, auch das Auge soll gleichzeitig in höherem Maß dieser wichtigen Aufgabe dienen. Sie wissen, daß dies die .neue unangefochtene Theorie und- Technik eines unserer jungen Gelehrten, des Professors Charles M o r a z e, ist, der sich in der Praxis bereits dieser Möglichkeiten bedient.“

Im Vorführungsraum verlöscht langsam das Licht, die Vorhänge fließen lautlos auseinander, die Leinwand leuchtet einige Augenblicke weiß entgegen. Dann beginnt die Vorführung. Mit angenehmer ausdrucksvoller Stimme nimmt der Leiter des Hauses die Erklärungen auf, „Als. erstes zeige ich ihnen einen Film für die Volksschulklassen. Er ist in den Schulen allgemein eingeführt, und hat sich ..als nützlich erwiesen. Er kämpft gegen die falsche, beim Schreiben so schädliche Haltung der Kinder an. Es ist ein primitiver Film, aber ich möchte zeigen, wie wir versuchen, auch die Jüngsten zu belehren!“

Nun läuft einige zehn Minuten ein Film ab, dessen technisch tadellose Bilder, für die Mentalität der Kinder eingerichtet, eindrucksvoll die Schädigungen der Lunge und der inneren Organe, vor allem auch die Verkrümmung des Rückgrates bei fair scher Haltung an Schreibpult zur Kenntnis bringen. Mit welcher Genialität, mit welchem Verständnis sind wundervolle Landschaftsbilder eingestreut und sinnvoll mit anatomischen Darstellungen verbunden. Eine junge Birke, deren zarter Stamm sich im Frühlingswinde leicht biegt und streckt, wird von einem ungeschickten Gärtner hart und lieblos an einen Holzprahl gebunden. Ihre, dem Auge des Beschauers schmerzvolle Krümmung, gleicht der Krümmung des Rückgrates eines in krampfhafter und geduckter Haltung in die Schulbank eingezwängt schreibenden Kindes!! Die Linien des Baumes und die der anatomischen Aufnanrne des Rückgrates sind so augenfällig dieselben, daß man sich auch als Erwachsener diesem Eindruck nicht entziehen kann und beide Bilder in dem Gedächtnis lange haftenbleiben. In solchen Bildern liegt dieses Filmes Stärke und Wirksamkeit.

Spaßhafte lineare Figuren, aus kleinen Stäbchen zusammengestellt, geben in lustiger Darstellung die falsche und korrekte Haltung der Schreibenden wieder. So vergegenwärtigen sie eindrucksvollst, je nadi wechselnder Bewegung, die sich verschiebenden Überschneidungen der Arme, Beine und des Rückens. Alle anderen Aufnahmen aber sind von Kindern seTbst gestellt Welche unendliche Mühe muß dies Für die Filmleute selbst gewesen sein. Sie haben sich aber derselben nicht umsonst unterzogen, denn durch das Mitwirken von Kindern in den eigenen Schulräumen wirkt der Film besonders natürlich.

Der erste Film ist zu Ende, schon schließt sich eine neue Vorführung an, die wieder etwa zehn Minuten Laufdauer hat. Es ist ein Film für die Gärtner- und Obst-baümschulen, aber auch für die Wochenschauen bestimmt, denn eine große Gefahr bedroht die Obstkulturen von ganz Frankreich, in der mikroskopisch kleinen Gestalt einer Obstlaus, der „Pou San Jose“. Welch schöner Name, für ein solch scheußliches Insekt! Die Bekämpfung muß in großem Stil aufgezogen werden, um zu retten, was noch zu retten . ist.

Dieser Belehrungsfilm hat Höhepunkte von geradezu dramatischer Wirksamkeit; zuerst wird la pou San Jose1 vorgestellt. Sie sieht wie ein niederer, am Rande etwas aufgebogener Stahlhelm aus, mit rauhen, warzenartigen Erhöhungen. So sitzt sie unscheinbar und harmlos auf den jungen Blättern der Obstbäume. Erstklassige Aufnahmen unter dem Mikroskop bringen die Verdauungswege dieses so gefährlichen Schädlings vor Augen. Mittels eines sporenartigen Rüssels entläßt die Laus die verdauten Säfte in die Rinde der Bäume, auf denen sie wohnt. Mit unheimlicher Deutlichkeit ' und in' rasender Schnelle bahnen sich diese bösartigen Gifte einen Weg bis zu dem Mark des Baumes,- das sie zerstören und ein völliges Verdorren und Absterben desselben bewirken. Wieder sind es wundervolle Landschaftsbilder, die diese traurigen Tatsachen umkleiden. Man wird in die märchenhaften Gegenden der Cote d'Azur versetzt, die diese Lau,s vor allem bedrängt und gefährdet. Das Rauschen des Meeres, die traumhaften Gärten, die großen Flächen blühender Obstbäume machen es um so eindrucksvoller, nach kurzer Zeit dies alles verdorrt wiederzusehen. Sehr geschickt und kunstvoll photomontierte Bilder zeigen aber noch vorher, auf landschaftlich schönstem Hintergrund, die wahnsinnige Vermehrungsmöglichkeit und damit die. außerordentliche Gefahr dieses Schädlings. Während blühende Obstbäume das Auge entzücken, sieht man unter der leicht aufgebogenen Körperschale einer Laus die ersten Zehn Jungen ruckweise herausspringen. Auf der Filmleinwand läuft langsam in großen Lettern die Angabe des Monats April aufwärts. Nun geht dieser Fortpflanzungsfortgang von Bild zu Bild weiter. Aus den zehn Mutterläusen entspringen wieder je zehn junge San Joses. Abermals gleitet die Angabe des Monats über die Filmtafel — diesmal ist es Mai geworden. Nun geht es über die sich noch entwickelnden„ früchtetragenden Bäume hin, immer mehr Läuse verdecken nun fast schon das Bild dahinter Man sieht die Bäume der Landschaft allmählich nur mehr wie durch einen dünnen Schleier, denn es sind unterdessen Millionen und Millionen Läuse geworden, die alle einer einzigen Mutterlaus entstammen. Wir halten im September. Immer wieder läuft die Angabe der Zahlen und des Monats mit der Aufnahme mit, bis im Spätherbst kahle Äste fruchtlos gegen den Himmel ragen. Daran schließt sich eine lehrreiche Vorführung der Bekämpfungsmethoden an. Als der Film aus ist, steht man wie unter einem Zauberspruch und möchte am liebsten gleich ausziehen, um einen Kreuzzug gegen la poo San Jose“ aufzurufen.

Nun aber kommt ein Film für die Lehrsäle der Universitäten gedreht. Eine Schöpfung des Jungen Wissenschaftlees, eine Probe auf das Exempel seiner neuen Theorien. Es ist ganz still im Vorführungsraum, jeder fühlt, es geht um die Verwirklichung großzügiger Pläne.

Da schiffbare Kanalsystem Frankreichs in seiner geschichtlichen und wirtschaftlichen Entwicklung und Bedeutung sollte hier für Lehrzwecke geschlossen vorgeführt werden.

Mit wenigen Worten ergänzt sein Schöpfer, Professor Charles Moraze, welcher der Vorstellung beigewohnt hat, die Darstellungen. Sie bedürfen nur kurzer Erklärungen. In unglaublicher Lebendigkeit entrollt sich auf der Leinwand jede Stufe und jedes Stadium des Ausbaues dieses für Frankreich so wichtigen Kanalsystems. Von Bild zu Bild erfaßt man mehr, was diese Kanäle für das Land bedeutet haben und noch bedeuten. Auf klarer karthographi-scher Zeichnung flammen diese Kanäle auf, wie sie in der geschichtlichen Reihenfolge entstanden sind. Kleine helle Ellipsen fließen i ihnen dahin, durch ihre wechselnden Mengen die Regsamkeit der Schiffahrt in jedem einzelnen Fall und in jeder Zeitepoche darstellend, während über das Ganze die Namen der Könige und die Jahreszahlen hinweggleiten.

Leicht wird an Hand dieses Films verständlich, was für die meisten der Zuschauer bisher ein Buch mit sieben Siegeln gewesen war, was in langweiliger Statistik von Zahlen außerhalb des allgemeinen Interesses lag. Der Film aber lebt, zeigt ie Wichtigkeit der schiffbaren Transportwege, zeigt die Zentren des Vorkommens der Kohle, des Eisens, des Weines und der denrees, der Lebensmittel des Landes. Die Entwicklung der Geschichte Frankreichs wird zur sinnvollen, bedingten Folgerung dieses Kanalsystems, die Größe der Könige gewinnt an Bedeutung an Hand dieser Bauten.

Die Vorführungen sind zu Ende auch diese letzte hat kaum zwanzig Minuten in Anspruch genommen.

Die Persönlichkeit des jungen Gelehrten steht nun im Mittelpunkt des Interesses. “Vtor kuKser Zeit hat er, Professor Charles Moraase, wieder ein wissenschaftliches Werk publiziert: „La France Bourgeoise“ (chez Armand Colin, Librairie, Paris 1946). Der große angesehene Gelehrte Luden Fevre hat in seinem Vorwort dazu geschrieben: „Charles Moraze selbst ist erlebte Geschichte und er will durch sie sich selbst und sein Vaterland wieder zum tieferen Sinn des Lebens zurückführen. Alles an ihm ist ungeduldiges, leidenschaftliches Streben, zu verstehen, zu begreifen und andern verständlich und begreiflich zu machen, daß uns das Schicksal nicht wie eine Welle überrollen und vernichten darf. Nicht uns als Einzelwesen und vor allem nicht das heiß und inbrünstig geliebte Vaterland. Es muß leben, durch seine Jugend leben. Der Urquell alles Lebens aber ist die Geschichte, die wahre und unverfälschte, auf Zahlen der Entwicklung beruhende Geschichte.“

Zur Einprägsamkeit der Zahlen, zu ihrer Verlebendigung sollen diese Filme führen. Charles Moraze ist es heiliger Ernst mit dieser neuen bildhaft-einprägsamen Lehrmethode. Von Mensch zu Mensch, von Land zu Land muß sie verstanden werden. „Denn alle Wirtschaftskunde, alle Sozialwissenschaft, wie alle Geschichte, ist letzten Endes eine Analyse menschlichen Geschicks“ und dos können Filme besser zur Anschauung bringen, als Worte, noch so viele Worte es vermöchten und nun wiederholt der junge Gelehrte die Worte, die er 1945 seinem neuen Buch vorausgesetzt hat: „Wir müssen uns heute mehr denn je in den leidenschaftlichen Aufbau dieser armen, zerrütteten und zerquälten Zivilisation stürzen, wo Wissenschaft und Leben im Begriffe stehen, Schiffbruch zu erleiden. Wir müssen aufhören zu richten, um endlich etwas zu schaffen. — Man muß zum Leben zurückfinden, um zu sein!“

Dann steht er auf und endet mit den Worten, die auch seinen letzten Band beschließen: „Der Rhythmus, das Ebenmaß, der Pulsschlag der Welt ist der Geist, der über die Materie hinweg wieder zum Leben kommen muß.“

„Le rythme profond du monde est celui de l'esprit.“

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