Literatur über das Hinschauen

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Schriftsteller begegnen alten Bildern, Museumsbesucher treffen auf inszenierte Texte: Das Kunsthistorische Museum bewegt die Kunst.

Für das Projekt "Ganymed goes Europe“ sollte ich einen Text zu einem Gemälde aus dem Kunsthistorischen Museum Wien verfassen, der vor diesem von einem Schauspieler interpretiert wird, Teil eines Stationentheaters mit 14 Bildern und 23 Schauspielern, Musikern, Tänzern.

Für mich ist es die zweite Zusammenarbeit mit der Regisseurin Jacqueline Kornmüller, die mir vier Jahre zuvor für das erste Spektakel dieser Art ein Bild vorgeschlagen hatte. Das Zusammenspiel aus Bild, Text ("Ein Kind seiner Zeit“), Inszenierung und Interpretation durch Schauspielerin Katrin Grumeth empfand ich als ein kleines Glück.

Es gibt kaum einen Ort mitten in Wien, der einen Erwachsenen so einfach bezaubert wie das KHM an einem Montagvormittag, an dem das Museum geschlossen ist: Nicht die Aufseherinnen bewegen sich langsam von einem Raum zum anderen, sondern Menschen, die man ansonsten nicht zu Gesicht bekommt und die wichtig für den Museumsbetrieb sind. Transportkisten stehen herum, Wände werden frisch gestrichen, Bilder umgehängt. Bei meinem ersten Rendezvous, das noch ein Blind Date ist, besuche ich die Alten Meister zwar an einem gewöhnlichen Wochentag, aber dies ist nur der erste Termin in einer schönen Reihe. Diesmal möchte ich ein großes, ein bombastisches Bild, vielleicht einen Goya oder doch einen Velázquez, keinen Monolog will ich schreiben, sondern etwas Mehrstimmiges und aus der Perspektive eines Mannes. Als ich durch die Gemäldegalerie streune, sind mir die Bilder alle fremd.

Ein Erkennen, ohne zu wissen, was

Dann aber sehe ich mein Bild, und dieses Sehen ist eine Art Erkennen ohne noch zu wissen, was. Ich nehme es aus dem Augenwinkel wahr, genau so, wie ich es schon öfter gesehen habe. Das Bild hängt neben dem Eingang, ich bin oft schon daran vorbeigekommen, ich habe es öfter schon betrachtet, aber ich habe es noch nie genau, tatsächlich angeschaut. Es ist ein für mich bekannt-unbekanntes Bild, gleich schon nicht mehr so unscheinbar wie bisher. Auf dem Dreiviertelportrait von Tizian sind zwei Männer zu sehen, einer fast vollständig im Dunkel, einen Arm sieht man, und seine andere Hand am Hals (am Krawattl) des zweiten. Beide Männer tragen eine Waffe: Dafür muss man schon genauer hinschauen.

Ich mache dann, was die meisten Menschen tun, wenn sie sich Bilder in einem Museum anschauen: Ich lese die Bildunterschrift. Angeblich verbringt der durchschnittliche Museumsbesucher elf Sekunden vor einem durchschnittlichen Kunstwerk. Wenn man dann noch einen Blick auf die Legende wirft, bleibt nicht viel Zeit für die eingehende Betrachtung. Ich lese den Titel, "Der Bravo“, ital.: "Scherge im Auftrag eines Herrn“, ich lese von Tizians Lehrer Giorgione, von Bacchus, Pentheus, Gaius Lusius und Trebonius. Dass die Szene nicht befriedigend gedeutet sei, steht da auch.

Es ist der Blick des jungen Mannes, der mich anzieht, der in mich hineinschaut, und den ich erwidere. Es ist eigentlich unerhört, aber ich bin das Gegenüber dieses blonden Mannes, der vielleicht vor 500 Jahren in Venedig gelebt hat. Und weil ich diesen Blick ergründen und verstehen möchte, fange ich an zu recherchieren und zu lesen, anders geht es bei mir gar nicht. Schauen alleine reicht nicht? Ja, schon, aber vorher muss ich doch wieder etwas wissen, das ich dann idealerweise vergesse, aber …

Nicht nur, aber natürlich vor allem in der Bildenden Kunst ist die Frage des Blickes immer auch eine der Macht. Die Geschichte der beiden Männer hat mit Macht und Sex zu tun, aber man weiß nicht, an welchem Punkt der Erzählung genau wir uns befinden; noch leben beide, aber im nächsten Moment? Die Bedeutung der Zeitlichkeit in der Darstellung wird mir in der Betrachtung dieses Bildes so bewusst wie nie zuvor. Und hat wirklich Tizian das Bild gemalt oder hat er nach dessen frühem Tod eine Skizze Giorgiones fertiggestellt, möglicherweise ein Motiv von seinem Lehrer aufgenommen? Wenn es nun ein Simile wäre, eine der Vorlage im Format, in der Komposition und auch in den Farben angenäherte Wiederholung oder die Replik eines Giorgione-Bildes, so müsste man sich doch inhaltlich wie auch formal mit dem Kopieren in Kunst auseinandersetzen. Ein einmal schon gedachter Gedanke wird wiederholt und ist doch in jeder Fassung neu. Immer wieder besuche ich meine Jünglinge, diese Halbfiguren, deren Umrisslinien verschwinden, abgeschwächt sind, schattiert, betrachte die Übergänge der Farben, die starken Kontraste des Lichtes, des Hell-Dunkel. Wir werden gemeinsam fotografiert, während nebenan die Gemälde von Lucian Freud verpackt werden.

Zuerst bewege ich mich auf Umwegen. Ich diene in der römischen Armee, in irgendeinem der vielen Lager, vielleicht im Latium. Ich will das Verhältnis zwischen Drill und Erotik ausloten, den Moment begreifen, in dem aus einem (wenn auch einseitigen) Spiel Ernst wird, sich in der gegenseitigen Zuneigung und Ablehnung der Augenblick ereignet, in dem es kein Zurück gibt. Beide sind bereit zuzustechen, aber nur einer wird es tun. Und ist es gewiss, dass der Mörder der Täter ist oder ist eine Konstellation denkbar, in der sich die Tat wenn schon nicht entschuldigen, so doch halbwegs erklären lässt? Zuerst ist alles klar, ich sehe es ja, das Bild zeigt sich und spricht mit mir; im Laufe der Auseinandersetzung entgleitet es mir nach und nach, damit ich neu beginnen kann.

Opfer und Täter

Opfer-Abo. Im Nachspiel eines Prozesses, in dem ein Wettermoderator der Vergewaltigung an seiner damaligen Geliebten angeklagt und aufgrund von Zweifeln freigesprochen wurde, fiel es: Auch Frauen könnten genuin böse sein und durch eine Falschbeschuldigung dem Mann schaden wollen. Das wäre doch eigentlich sehr praktisch und passiere häufig. Dieses Wort, obgleich vor Monaten in Nachrichten aufgeschnappt, findet jetzt von selbst seinen Weg in meinen Text. Das ist doch, unabhängig von der Tatsache, dass zwei junge Männer auf dem Tizian-Bild zu sehen sind, die Geschichte, die ich hier sehe. Diese Ebenen will ich in meinem Text zusammenbringen, und dann: Der Schauspieler David Oberkogler trägt eine sandfarbene Uniform, darüber eine kugelsichere Weste. Er lässt sich auf sein anziehendes Gegenüber ein, dazwischen schreit er Drillkommandos des römischen Heeres (die ambivalente Toleranz sowohl der Homosexualität gegenüber als auch der Respekt für den Untergegebenen, der sich nicht zum sexuellen Sklaven machen lässt, dafür tötet), er schmeichelt und bittet. Später wird er die Rolle und die Position wechseln. Die Weste ablegen, durch Angriff verwundbar werden. Er verkörpert beide Männer, und er ist Opfer und Täter hintereinander und aber auch gleichzeitig, er ist die Leinwand, und was darauf gemalt ist, aber auch jene Schichten, die dahinter liegen und mein Blick darauf. Die Redewendung des Titels, "Ein Auge zudrücken“, stammt aus dem Englischen ("Turning a blind Eye“) und wird Lord Nelson zugeschrieben, der in der Schlacht vor Kopenhagen mit seinem blinden Auge (er hatte es drei Jahre zuvor verloren) durch ein Teleskop schaut, das vereinbarte Zeichen nicht sehen kann - und also den Befehl verweigert. Erfolgreich.

Gute literarische Texte sind immer auch solche über das Schreiben, manchmal über das Erzählen, hin und wieder spielt das Zuhören eine relevante (erzählerische) Rolle. Eine Bildbetrachtung ist glücklichenfalls ein Stück Literatur über das Schauen, das Hin- und das Wegschauen, Sehen, Über-Sehen. Groß in seinen Ausmaßen ist dieses Bild nicht, aber was es (mir) alles zeigt! Wie wunderbar, wenn man gemeinsam mit einer Regisseurin und einem Schauspieler und doch jeder für sich derart Blicke werfen kann.

Der Text schaut dich an und du: Betrachte das Bild (länger als 11 Sekunden).

Die Autorin ist freie Schriftstellerin

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