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„Brücken“ in Europa

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In Brüssel ist eine neue europäische Krise ausgebrochen. Der Ministerrat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft konnte über die Frage der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik keine Einigung

erzielen. Die Minister der Sechs gingen auseinander, ohne einen neuen Termin oder ein Verfahren für die Lösung der Schwierigkeiten festgelegt zu haben. Der französische Ministerrat erklärte, daß Frankreich die politischen, wirtschaftlichen und juridischen Konsequenzen aus der Lage ziehen werde.

Diese neue Krise scheint ernster als ihre Vorgänger zu sein. Der Gemeinsame Markt ist an einer Entwicklungsstufe angelangt, die es nicht mehr möglich macht, die wesentlichen Fragen politisch-struktureller Art über das künftige Wesen eines geeinigten Europas zu umgehen. Die Alternative hie Supranationalität — da Integrationsmechanismen unter Wahrung der nationalen Souveränität ist gestellt und fordert eine Antwort. Doch vielleicht, ja hoffentlich, gelingt es noch einmal, diese Antwort durch provisorische, zeitlich terminisierte Zwischenlösungen aufzuschieben. Denn es ist schwer zu sehen, wie es bei den herrschenden politischen Tendenzen innerhalb der EWG heute zu einer dauerhaften Lösung dieser Frage kommen könnte. Jedenfalls wird die jüngst ausgebrochene Krise der EWG die europäische Szene für die nächste Zeit beherrschen und

andere europäische Bewegungen und Initiativen überschatten.

Trotzdem soll gerade in diesem Augenblick der drohenden Stagnation der Integrationsentwicklung in der EWG nicht vergessen werden,

daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nicht das ganze Europa umschließt.

Es ist erfreulich, daß im freien Teil unseres Kontinents das Bewußtsein wächst, daß Europa nicht an den Demarkationslinien und Demarkationsflüssen der Nachkriegszeit endet, sondern daß dieser Begriff die Länder, die Völker und die Kulturen Ost- und Südosteuropas einschließt. Österreich hat sich, eingedenk seiner geographischen Lage, seiner geschichtlichen Funktion und seines außenpolitischen Statuts von heute, mit Initiative und Konsequenz in den beginnenden Dialog der Länder West- und Osteuropas eingeschaltet. Und Österreich sieht in der Förderung und im Ausbau dieses Dialogs seine besondere europäische Aufgabe.

Die berechtigte Genugtuung über das angebrochene Gespräch zwischen dem europäischen Westen und Osten darf jedoch nicht die dauernde dringende Mahnung überhören lassen, daß das demokratisch-freiheitlich organisierte Westeuropa selbst noch in sich gespalten und weit von seiner Einigung entfernt ist. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) stehen einander hier gegenüber. Ein wirtschaftlicher Graben droht sich zwischen diesen beiden europäischen Gruppierungen aufzutun, ein Graben, der schließlich auch politisch desintegrierende Wirkungen haben müßte. Nach einem „Schuldigen“ an der Auseinanderentwicklung in Westeuropa suchen zu wollen, ist wenig sinnvoll.

Man hört häufig, daß die mangelnde europäische Haltung Großbritanniens große Verantwortung an der Spaltung trägt. Gewiß hat England die Hoffnung, die das Europa der Nachkriegszeit an seine mögliche Führungsrolle auf dem Weg zur europäischen Einigung knüpfte, vielfach enttäuscht. Doch fordert die besondere Position Englands — seine weltweite Orientierung, seine Bindung zum Commonwealth und nicht zuletzt gewisse psychologische

Schwierigkeiten, die sich aus seiner Stellung als Siegermacht des zweiten Weltkrieges ergaben — Verständnis dafür, daß es für London damals sehr schwer war, sich voll und ganz einem europäischen Weg zu verschreiben. Der Entschluß der sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und später der EWG, den Weg zur Einigung, wenigstens vorerst allein ohne Großbritannien zu gehen, war daher gerechtfertigt.

Wie immer man aber die europäische Einstellung Englands bis zum Ende der fünfziger Jahre qualifizieren mag, so muß doch die These, gelten, daß ein geeinigtes

Europa auf die volle Teilnahme Großbritanniens und der anderen heute in der zweiten europäischen Integrationsorganisation, der EFTA, zusammengeschlossenen Länder nicht verzichten kann. Die Beibehaltung der wirtschaftlichen Spaltung in Westeuropa, ja eine wirtschaftliche Auseinanderentwicklung, muß das ganze Europa schwächen und dem Ziel der wirtschaftlichen Integration, nämlich der Förderung des Wohlstandes und der wirtschaftlichen Sicherheit jedes einzelnen, direkt zuwiderlaufen.

Gleiches gilt für die innere politische Struktur des künftigen Europas. England hat hier mit seiner großen demokratischen Tradition, aber viel mehr noch mit dem tiefverwurzelten demokratischen Bewußtsein seiner Bevölkerung einen entscheidenden Beitrag zu leisten, auf den der europäische Kontinent bei der Gestaltung seines politischen Profils nicht verzichten kann.

Es ist erfreulich, daß in den letzten Janren im politischen Denken Englands eine klare Schwenkung zu Europa hin stattgefunden hat. Dies bewies die britische Regierung 1961 mit ihrem Gesuch um Aufnahme in die EWG. Gleicherweise haben sich die Befürchtungen, daß sich England nach den am französischen Veto gescheiterten EWG-Beitrittsbemühungen von Europa abwenden würde, nicht bewahrheitet. Die britischen Konservativen drängen immer entschlossener auf die volle Teilnahme des Landes an der europäischen Einigung, und Labour ließ sich nach Übernahme der Regierungsverantwortung von der Macht der Tatsachen überzeugen und beginnt ihrerseits einen europäischen Kurs zu steuern.

In diesen Zusammenhängen muß die sogenannte „Brückenschlags-lnitiative“ des letzten EFTA-Mini-sterrates von Wien gesehen werden. Sie ist ein neuer Appell an die gemeinsame europäische Verantwortung der EWG- und EFTA-Länder, ein weiterer Versuch, Gräben, die Europa heute noch durchziehen, mit dem Ziel zu überbrücken, ein um-

fassendes System europäischer Zusammenarbeit und Integration zu verwirklichen.

Der EFTA-Ministerrat geht bei der im Frühjahr in Wien verkündeten Initiative von dem in der EFTA-Konvention formell niedergelegten Ziel der Verwirklichung einer alle ehemaligen OEEC-Staaten umfassenden europäischen Lösung aus. Der Rat sprach von der schweren Verantwortung, die den Regierungen der EFTA- und EWG-Staaten in dieser Hinsicht aufgelastet ist, und schlägt ein gemeinsames Treffen von Ministern der Sechs und der Sieben zur Diskussion dieses gemeinsamen Anliegens vor.

Die ständigen Organe der EFTA in Genf wurden gleichzeitig beauftragt, dem EFTA-Ministerrat bei seiner nächsten Tagung, im Oktober in Kopenhagen, konkrete Vorschläge über die Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen den heute noch getrennten europäischen Gruppierungen der EFTA und EWG zu unterbreiten.

Was man von diesen konkreten Möglichkeiten bisher hörte, mag auf den ersten Blick allerdings enttäuschen. Auf jenem Gebiet, das die europäische Öffentlichkeit und Wirtschaft am meisten beschäftigt, nämlich die wachsende Zolldiskriminierung zwischen den beiden Wirt-schaftsblöcken, scheint man einer durchgreifenden, endgültigen Lösung derzeit wenig Aussicht auf Erfolg zu geben. Man wird hier versuchen, die laufenden Zollverhandlungen der Kennedy-Runde im GATT zu einem größtmöglichen Erfolg zu führen und dabei Waren, denen im innereuropäischen Handel besondere Bedeutung zukommt, gesteigertes Augenmerk schenken. Im wesentlichen wird man im ersten Stadium einer direkten Zusammenarbeit mit der EWG versuchen, gemeinsame Lösungen und Regelungen auf gewissen begrenzten Gebieten, wie dem Patentwesen, der . industriellen Standards und Normen und ähnlichem, zu finden.

Gleichzeitig wollen die Länder der EFTA auch ihre Zusammenarbeit im Rahmen der eigenen Organisation verstärken und eventuell auf weitere Gebiete der Wirtschaftspolitik ausdehnen. Dies soll aber nur im Hinblick auf eine spätere Zusammenarbeit mit der EWG im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Systems geschehen, das heißt, daß keinerlei interne EFTA-Maßnahmen getroffen werden sollen, die den jeweiligen Maßnahmen der EWG zuwiderlaufen und die daher eine spätere Einigung zwischen den beiden Organisationen erschweren müßten.

So wenig spektakulär, ja so wenig befriedigend die unmittelbaren konkreten Aussichten der Wiener Brückenschlagsinitiative der EFTA

vielen erscheinen möge, so sehr trägt diese Initiative mit Recht diesen Namen. Sie zielt darauf ab, den direkten Dialog zwischen den beiden Organisationen mit dem unabänderlichen Ziel der Verwirklichung einer gemeinsamen, umfassenden Organisation einzuleiten. Dies wurde auch von selten der EWG so verstanden, wie die Äußerungen einer Reihe von verantwortlichen Politikern der EWG-Staaten auf die Wiener EFTA-Initiative zeigen. Und diese Initiative, deren unmittelbare konkrete Aussichten verhältnismäßig bescheiden sind, soll vor allem auch einer Resignation der europäischen Öffentlichkeit und einem Sichabflnden mit

der bestehenden Spaltung entgegenwirken. Sie solldas Bewußtsein von der Notwendigkeit und Dringlichkeit einer großen europäischen Lösung aufrütteln und wachhalten.

Österreich hat ein gesteigertes Interesse an allen Initiativen für einen Brückenschlag zwischen EWG und EFTA. Denn nur das Gelingen eines solchen Brückenschlages kann Österreich die sonst nicht auszuschließende schlimme Alternative ersparen, entweder eine weitere Diskriminierung seiner Ausfuhren auf die Märkte der EWG-Staaten in Kauf nehmen zu müssen oder einen nicht nur wirtschaftlich verlustreichen, sondern auch politisch unangenehmen „Lagerwechsel“ von EFTA zu EWG vornehmen zu müssen, der auch zu einer politisch unerfreulichen Distanzierung vom europäischen Weg der beiden anderen Neutralen — Schweiz und Schweden — führen müßte.

Eine befriedigende Lösung der Frage der europäischen Einheit und Zusammenarbeit für alle europäischen Staaten und ganz besonders für das neutrale Österreich ist nur in einer umfassenden Regelung zu finden. Die politische und institutionelle Stellung eines Neutralen in einem europäischen System wird um so leichter sein, je weiter dieses System gefaßt ist. Die Wiener Brückenschlagsinitiative der EFTA verdient daher die volle Aufmerksamkeit und rückhaltslose Unterstützung der österreichischen öffentlichen Meinung.

Die derzeitige Krise in der EWG und die dadurch zu befürchtende Stagnation innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird vielleicht ein neues Hindernis für ein rasches Gelingen und Fortschreiten dieser Brückenschlagsinitiative der EFTA sein. Sie mag allerdings auch neue, unerwartete Bewegungen auf der europäischen Szene hervorrufen; keinesfalls darf die jüngste EWG-Krise von der Bedeutung der Initiative der EFTA-Staaten und der dringenden Notwendigkeit ihres Gelingens ablenken.

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