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Ausweg aus der Sackgasse

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Die Barrikaden vor Brüssel, die den Alleingang Österreichs versperren, stellen Handel, Gewerbe und Industrie vor die zwingende Notwendigkeit, einen Ausweg zu suchen, der zugleich Ersatz für die Gewinne und Vorteile bieten könnte, die sich die Öffentlichkeit von einem Vertrag besonderer Art mit der EWG erhofft hat. Alle Vorgänge in Brüssel sind gegenwärtig entmutigend, in keiner Weise verlockend, weil die Hegemonie Frankreichs einen neuen Streit um die Beziehungen zu allen Drittländern entfacht, dessen Ausgang letzten Endes den Entscheid fällen wird, welche Politik und Methoden die EWG in Zukunft verfolgt.

Kein kranker Mann

Jedenfalls entspricht die „EWG 1968“ nicht mehr den Vorstellungen ihrer Gründer. Bis zur Lösung dieser sehr schweren Konflikte werden Jahre vergehen. Nach etlichen Handelsabkommen und einigen Vorzugszöllen auf den Nebengeleisen des GATT mag sich vielleicht später einmal die Erkenntnis durchsetzen, die beste und vor allem technisch einfachste Lösung zur Beilegung des Handelskriegs in Europa wäre ein Brückenschlag zwischen EWG und EFTA. Österreich selbst, von Brüssel nach Genf verwiesen, befindet sich nicht in der Lage eines Bittstellers, spielt auch nicht die Rolle eines kranken Mannes, der unbedingt Hilfe benötigt, sondern ist im Besitz seiner vollen Entschlußfreiheit. Aber es beklagt die bereits verlorene Zeit und kann nicht nochmals viele Jahre vergeblich in einem Wartezimmer verbringen.

Illusionen und Schlagworte

Die Eigenart der modernen Außenpolitik bringt es mit sich, daß kleine und mittlere Staaten in einzelnen Sektoren über lückenhafte Informationen verfügen. In Wien fehlte etwa eine Berichterstattung über die inneren Vorgänge der EWG, deren Probleme nur im Falle akuter Konflikte offen vor allen Augen lagen, während die latente Krise, entstanden sofort nach Unterzeichnung des Römer Vertrags, taktvoll totgeschwiegen wurde. Der erste Irrtum unterlief unmittelbar nach Gründung der Gemeinschaft infolge einer falschen Interpretation. Die Öffentlichkeit nahm die Präambel, es handle sich um einen Schritt zur Einigung des freien Europa, als bare Münze, als eine Ideologie, später in allen Tonarten angepriesen von einer ausgezeichnet funktionierenden Propaganda. Dabei wurden die Gegensätze und Widersprüche zwischen Praxis und Theorie von Jahr zu Jahr größer. Zuletzt führte die bald autonome, suggestive Kraft des europäischen Gedankens zur Erscheinung, daß jeder Staat, der Sich zu Verhandlungen mit Brüssel entschloß, während der ihm diktierten endlosen Wartefrist in den begreiflichen Fehler verfiel, alle anderen Chancen und Absatzgebiete zu vernachlässigen: In vier, sechs oder zehn Monaten ziehe er doch das große Los. Viele Bewerber bezahlen diese Illusion mit einem steigenden Passivum ihrer Handelsbilanz. In Österreich, seit jeher anfällig für Illusionen, steigerte sich der Drang nach Brüssel von einer einfachen handelspolitischen Überlegung allmählich zu einem blinden Glauben, zu einem Dogma, zu einem Prinzip. Zweifler wurden als Ketzer verdammt und verbannt.

Die Argumente, die im Verlauf der mehrjährigen Kampagne für den Anschluß an Brüssel ins Treffen geführt worden sind, haben sich leider als Schlagworte eingebürgert. Es begann mit dem „Hungertod in der Neutralität“ und fand seine Fortsetzung in der üblen Nachrede, Regierung, Parlament und Verwaltung, Handel, Gewerbe und Industrie seien unfähig, die schwere Last der Sorgen allein zu tragen, weil alle akuten Probleme nur nach den Rezepten und Prognosen von Brüssel, nur im Rahmen einer Assoziierung gelöst werden könnten. Man schien gewillt, sich unter eine Vormundschaft zu begeben. Dann folgte die Theorie von einer allgemeinen Rückständigkeit, die ausschließlich mit Hilfe der Dynamik der EWG zu überwinden sei. In Wirklichkeit war diese These, die sich während der Hochkonjunktur aus dem Spiel mit astronomischen Ziffern ergeben hatte, rasch überholt. Zuletzt blieb

der große Wirtschaftsraum, ohne den Österreich nicht existieren könne, aber ein kleiner oder mittlerer Staat, der einen engen Lebensraum mit drei großen Ländern teilen muß, verliert seine Selbständigkeit, wird nicht angehört und lebt in steter Gefahr, einfach überrollt zu werden, weil er auf lange Frist dem steigenden Druck massiver Importe niemals standhalten kann. Im übrigen stammte die These vom großen Wirtschaftsraum aus der Zeit des historischen Streites „Anschluß oder Donauföderation“, ein Gespenst der Ersten Republik, das noch heute Gemüter irritiert. Sämtliche Schlagworte, die „Emotionen von anno dazumal“ zu einem neuen Leben erwecken wollten, münden letzten Endes in der falschen These von der Lebensfähigkeit.

Eine neue Situation

Heute steht Österreich vor einer vollkommen neuen Lage. Aus verschiedenen Gründen erhoben drei

Staaten — Rußland, Italien und Frankreich — Einspruch gegen eine Assoziierung mit der EWG, die sich Wien jenseits aller unklaren Klauseln des Römer Vertrags eben als einen Vertrag besonderer Art vorgestellt hatte. Auch die Hoffnungen, Großbritannien könne im Verein mit Irland und Dänemark eine Bresche in die feste Burg von Brüs-

sel schlagen, mußte sich rasch verflüchtigen. Das zweite Veto de Gaulies gegen einen Beitritt Großbritanniens kann nicht ernst genug genommen werden, weil weder Westdeutschland noch Italien und schon gar nicht die Benelux-Länder das Risiko einer totalen Lähmung der EWG auf sich nehmen können und wollen. Die Abwertung des Pfund Sterling hat die Aussichten für London eher erschwert als erleichtert. Die ansehnliche Liste der Vorbedingungen, die Großbritannien erfüllen müßte, um in die exklusive kontinentale Gemeinschaft aufgenommen zu werden, ist nicht kürzer, sondern länger geworden.

Gleichzeitig beobachtet man rund um Europa eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen Paris und Washington, einen weiteren Zerfall der Solidarität des Westens, chronische Krisen im Nahen Osten, den Streit um die Reservewährungen und eine unterschiedliche Einschätzung der künftigen Politik der Sowjetunion, zahlreiche Spannungen und unwägbare Faktoren, die Kettenreaktionen auslösen, wirtschaftliche und finanzielle Rückwirkungen zur Folge haben, die sich nicht berechnen, nicht einmal abschätzen lassen. Außerhalb der unmittelbaren

Gefahrenzone befindet sich Österreich gegenüber diesen Heimsuchungen des Kontinents in der Defensive, die durch die Neutralität sowie die fest verankerte Sonderstellung zwischen West und Ost ungemein erleichtert wird.

Der Welthandel als Ausweg

Handel und Industrie haben rascher reagiert als Politiker und Theoretiker. Die Bewegung zur Überwindung des Schocks von Brüssel ist nämlich bereits im Gang. Zunächst ist in acht Monaten von Jänner bis August, der Gesamtexport in Höhe von 30,2 Milliarden Schilling, gemessen an der analogen Periode des Vorjahres, um 6,7 Prozent gestiegen, eine Leistung, die zahlreiche andere Länder übertrifft. Natürlich sind die Exporte nach der EWG infolge der Diskriminierung um 2,9 Prozent gesunken, dagegen nach der EFTA um 17,4, dem Ostblock um 14,8 und den Randstaaten um 16,5 Prozent gestiegen, zuletzt sogar nach Übersee um 10,3 Prozent. Rückgänge betrafen unter den fremden Kontinenten ausschließlich Australien, in Europa freilich Belgien, Holland und Westdeutschland, indes die Lieferungen nach Frankreich (+11 Prozent) und Italien (+26 Prozent) zugenommen hatten. Eindrucksvoll gestalteten sich die Zuwachsraten in Jugoslawien (+ 43 Prozent), Norwegen (+ 45 Prozent), Japan (+ 67 Prozent) und Thailand (+ 92 Prozent). Noch immer wird mit der Behauptung operiert, die Hälfte aller Exporte gehe nach der EWG. In Wirklichkeit entfielen von Jänner bis August auf die EWG 41,5 Prozent und die EFTA 21,6 Prozent des Gesamtexportes. Bereits heute beweist die Statistik, daß Verluste in der Europäischen Wiirtschaftsgiemein--schaff durch Gewinne in der EFTA, in Osteuropa und in Ubersee ausgeglichen werden können, darüber hinausgehend, daß eine ganze Reihe von Ländern noch zahlreiche Möglichkeiten einer Expansion bieten. Der Außenhandel steht vor neuen Aufgaben.

Der von Natur gewiesene Ausweg hat allerdings zur Voraussetzung, daß Österreich sein Interesse nicht mehr ausschließlich auf die EWG kpnzentriert, sondern seine Anstrengungen auch dem größeren Europa und Übersee zuwendet. Dies war bereits der Fall gegenüber der Schweiz, Skandinavien und den Donauländern. Die stellenweise verblüffenden Erfolge sind nicht ausgeblieben, sogar schneller eingetreten, als man es zu hoffen gewagt hat. Übrigens verläuft die internationale Entwicklung ohnehin nach den gleichen Richtungen. Bei den EFTA-Ländern wirkt die Anfang 1967 erreichte volle Zollfreiheit der Industriewaren. In Osteuropa sichern langfristige Handelsabkommen, die günstige geographische Lage und die Erfahrungen im Umgang mit den kommunistischen Handelsmonopolen einen Vorsprung. In Übersee bieten die Ergebnisse der Kennedy-Runden des GATT neue Ausgangspunkte. Im Verkehr mit den Entwicklungsländern ist die Niederlassung der UNIDO in Wien von großer Bedeutung, weil sie sämtliche Kreise zwingt, sich eingehender mit Fragenkomplexen anderer Erdteile zu beschäftigen.

Das größte Aktivum bleibt jedoch der Strukturwandel der Exporte. Neben der Individualisierung nach den jeweiligen Absatzmärkten beobachtet man eine rasche Expansion einzelner Spezialprodukte, die anscheinend in vielen Ländern jeder Konkurrenz gewachsen sind, so daß die Rangordnung verschiedener Kategorien von Staat zu Staat manche Veränderungen registriert, doch fehlt eine Rationalisierung und eine engere Zusammenarbeit innerhalb einzelner Industriezweige. Es ist sinnlos, wenn manche Unternehmungen der Schwer- und Metallindustrie im Ausland einen innerösterreichischen Konkurrenzkampf ausfechten, und es ist ein Irrtum, kleinere Unternehmungen seien überhaupt in der Lage, in Übersee eine zuverlässige Marktforschung zu treiben. Gewiß hat die Bundeswirtschaftskammer das Terrain rechtzeitig nach allen Richtungen studiert und geebnet, aber die autonome Absatzorganisation verschiedener Industrien benötigt, um den steigenden Anforderungen gewachsen zu bleiben, eine Modernisierung.

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