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Die ersten Integrationsmaßnahmen der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) sind am 1. Juli d. J. in Kraft getreten. Die Mitglieder dieser Gruppe, die bekanntlich aus England, den skandinavischen Ländern, Portugal, der Schweiz und Österreich besteht, billigen einander von diesem Tage an eine Zollsenkung von 20% zu, eine Zollsenkung, die allen anderen Handelspartnern vorenthalten bleibt. Das heißt, daß — bezogen auf das österreichische Zollbareme — Zollreduktionen bei Garnen vorgenommen werden, die zwischen 1,6 und 2,4 Punkten liegen; bei Geweben und Erzeugnissen der Strick- und Wirkwarenindustrie steigen diese Zollvorteile auf 4,5 bis 6 Punkte und darüber, das heißt, daß zum Beispiel die Garnzölle von 8 bis 12% auf 6,4 bis 9,6% und die Gewebezölle von 22 bis 32% auf 17,6 bis 25,6% reduziert werden. Handelspartner, die nicht dem EFTA-Bereich angehören, werden also Diskriminierungen zu überwinden haben, die sich in Zöllen manifestieren, die — von unten gerechnet — um 25% höher liegen. Die für den EFTA-Bereich ebenfalls in Kraft getretene Auflockerung noch bestehender Restriktionsbestimmungen ist nur nebenbei zu erwähnen, da ihre Auswirkungen, von Ausnahmen abgesehen, keinen entscheidenden Einfluß haben werden.

Die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) setzt ähnliche Diskriminierungsakte gegenüber allen ihr nicht angehörenden Ländern, also auch Österreich wird durch die dortigen Integrationsmaßnahmen getroffen. Der Zollschutz verringert sich dort für den innerzonalen Verkehr bis zur völligen Beseitigung, während er Outsidern gegenüber in der Form des in wenigen Jahren in Kraft tretenden gemeinsamen EWG-Außentarifs bestehen bleibt. Bis zu diesem Zeitpunkt ist mit einer von Land zu Land verschieden fühlbaren Schlechterstellung zu rechnen. Die Auswirkungen sind nur insofern im Augenblick noch gemildert, als die erste Zollsenkung, die bekanntlich am 1. Jänner 1959 in der EWG erfolgte, weltweit gegeben wurde, und nicht zuletzt, weil die ersten Zollsenkungsmaßnahmen bei dem wichtigsten Handelspartner Österreichs, der Deutschen Bundesrepublik, überhaupt noch nicht recht wirksam wurden, da durch die im Jahre 1957 vorgenommene konjunkturpolitische 25%ige Zollsenkung eine weltweit gegebene Vorausleistung vorliegt, die dieses Land vom Großteil der bis jetzt vorgesehenen Zollsenkungsverpflichtungen nach dem EWG-Vertrag freistellte. Bei der für 1. Jänner 1961 beschlossenen Durchführung des sogenannten Hallsteinschen Senkungsplanes werden auch die Handelspartner der Deutschen Bundesrepublik aber mit einer fühlbaren zollmäßigen Diskriminierung rechnen müssen, weil zu diesem Zeitpunkt die konjunkturpolitische Zollsenkung des Jahres 1957 kompensiert sein wird und weil nach dem EWG-Vertrag heute bestehende Zölle etappenweise auf das Niveau des gemeinsamen Außenzolles angehoben werden müssen.

Die Wirtschaft aller Länder beider Integrationsblöcke beklagt die sich abzeichnende Entwicklung, und der Ruf nach einer Herstellung eines großen Gemeinsamen Europäischen Marktes wird immer stärker, denn niemand möchte die bestehenden und nach dem Ende des zweiten Weltkriegs in mühsamer Arbeit zustande gebrachten Verbindungen missen. So belief sich zum Beispiel der Import von Textilien in Relation EWG-Länder im Jahre 1959 auf 1382 und der Export auf 868 Millionen Schilling, wohingegen die entsprechenden Zahlen, die EFTA-Länder betreffend, 501 bzw. 534 Millionen Schilling betrugen. Besonders auf dem Textilsektor sollte vor allem aus modischen Gründen ein unbehinderter, diskriminierungsfreier Güteraustausch zwischen den europäischen Ländern bestehen bleiben. Es kann aber auch darüber kein Zweifel bestehen, daß die Gesetzmäßigkeit beider Integrationsverträge, sowohl des Römer Vertrages als auch der Stockholmer Vereinbarungen, in ihrer Automatik zu Diskriminierungen und damit zu einer Entfremdung führen wird, weil auch die beteiligten Regierungen die ratifizierten Verträge nur schwer abändern können,' um wirkliche Integrationsmaßnahmen im gesamteuropäischen Sinn zu treffen. Alle Versuche, jenen so oft zitierten Brückenschlag herbeizuführen, scheitern eben an den Spielregeln des GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen), einer fast weltweiten Organisation, die sich die Liberalisierung des Handels bei Anwendung der bedingungslosen Meistbegünstigung zum Ziel gesetzt hat. Eine Art Präferierung zwischen einzelnen Ländern und Ländergruppen, und als solche wäre der nur für EWG- und EFTA-Länder gültige Brückenschlag anzusehen, ist nach den GATT-Regeln unzulässig. Das freie Europa ist, das muß einmal mit aller Deutlichkeit gesagt werden, Gefangener einerseits von Verträgen mit festgelegtem Ablauf der vorgesehenen Integrationsmaßnahmen, anderseits des GATT, eines internationalen Abkommens, das unter ganz anderen Voraussetzungen abgeschlossen wurde.

Die zur Zeit laufenden Bemühungen, durch Angleichung der Zollsenkungsetappen in der EWG und EFTA und durch GATT-weite Einräumung der Zollermäßigung Diskriminierungen zu vermeiden, sind für verschiedene Industriezweige, und darunter in erster Linie für die Textilindustrie, außerordentlich gefährlich. Die den beiden Wirtschaftsblöcken angehörenden europäischen Länder haben einen mehr oder weniger vergleichbaren, verhältnismäßig hohen Sozialstatus. Höhere Löhne in dem einen Land werden durch billigere Lebensbedingungen, durch höhere Sozialleistungen in dem anderen ausgeglichen. Dieser hohe Sozialstatus kostet Geld, und er würde in Zukunft ernsthaft in Frage gestellt sein, wenn die Prosperität der Wirtschaft durch Importe aus Ländern, die auf vergleichbar hohe Kosten ihres Status keine Rücksicht zu nehmen brauchen, gefährdet ist. Das gleiche gilt gegenüber Staatshandelsländern, die ihre Preispolitik nach der Erfüllung eines Plansolls und nicht nach einer echten Kostenkalkulation ausrichten. Die Preise bei den großen Textilartikeln, mit denen diese Länder auf europäischen Märkten in Wettbewerb treten, können bis 50 und mehr Prozent unter den europäischen Vergleichspreisen liegen, ja oftmals vermag der europäische Konkurrent mit diesen Preisen nicht einmal das Rohstofferfordernis zu decken. Nutznießer einer weltweiten Liberalität wären aber in erster Linie gewisse asiatische und Staatshandelsländer, die unter anderen Bedingungen produzieren und die ihren Export zu Preisen abwickeln, die in den Importländern zu schweren Schädigungen der Wirtschaft führen müssen. Die Textilindustrie wäre aber diesem lebensbedrohenden Importdruck im besonderen ausgesetzt, da alle diese gefährlichen Länder über große, leistungsfähige Textilindustrien verfügen, deren Exportfähigkeit durch organisatorische und staatliche Maßnahmen leicht beeinflußt und gesteigert werden kann. England ist für die Richtigkeit dieser Behauptung ein klassisches Beispiel. Aus durchaus anerkennenswerten politischen Gründen hat man den Zusammenhalt des weltweiten Commonwealth durch wirtschaftliche Konzessionen aller Art gefördert. Die Industrien Hongkongs, Indiens und Pakistans können besonders auf dem Textilgebiet in England oft zollfrei und unbegrenzt importieren. England ist daher mit gewissen Textilien aus seinem Weltreich überschwemmt. Unvermeidliche Folge war mehr oder weniger die Liquidierung eines Großteils der englischen Baumwollindustrie. Im Rahmen des regierungsseitig gestützten Reorganisationsprogramms wurden seit etwa Jahresfrist 80 Spinnereien und 129 Webereien stillgelegt. Die Beschäftigtenzahl der englischen Baumwollindustrie, die im Jahre 1912 noch 621.500 betrug, sank bis zum Jahre 1951 auf 319.000 und bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf 185.000) ab.

Besonders zur Bedeutungslosigkeit herabgeminderte Zölle könnten aber, ähnlich wie in England, zum Ruin weiter Teile unserer Textilindustrie beitragen. Bei der extrem geopoliti-schen Lage und Wirtschaftsstruktur Österreichs könnte, aber das Risiko einer weitgehenden Liquidierung des größten Zweiges der österreichischen Industrie kaum verantwortet werden. Bei einer möglichen wechselseitigen Präferierung zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken käme es aber zu einer verhältnismäßig raschen, wenn auch schmerzhaften Konsolidierung eines großen Europäischen Marktes mit einer heute unvorstellbar großen Konsumkraft und damit sicherlich auch zu einer zusätzlichen Aufnahmefähigkeit für Güter aus Ländern, die sich heute dieser regionalen Präferierung widersetzen.

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