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Defizit ohne Geheimnis

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Ernste Sorgen bereitet der Bevölkerung das steigende Passivum der Handelsbilanz. Es erregte einiges Aufsehen, als die Handelsstatistik allein für acht Monate von Jänner bis August ein Defizit in Höhe von 11,37 Milliarden Schilling registrierte. Die Anhänger der EWG vertraten sogleich die Meinung, es handle sich um eine Folge der verzögerten Assoziierung und zogen sofort die Schlußfolgerung, den ersehnten Anschluß an Brüssel mit der größten Beschleunigung durchzusetzen, eine falsche Auslegung, die jedoch auf einen günstigen Boden gefallen sein dürfte, weil Wien während der vergangenen Jahre ein Tummelplatz für alle Dogmen, Thesen und Gerüchte geworden ist. Die maßgebende Rolle spielen nicht mehr die Staatsinteressen, sondern die Suggestionen einer Interessentenpolitik. Nach der ernsten Warnung des Präsidenten der Sowjetunion, die Bindungen des Staatsvertrags und der Neutralitätsakte nicht aus den Augen zu verlieren, hörte man viele Stimmen zugunsten einer objektiven Prüfung der Tatbestände. Die umstrittenen Probleme unterlagen nämlich starken Veränderungen. Manche Theorien, die vor drei Jahren noch zu Recht bestanden hatten, wurden überholt, teilweise sogar widerlegt. Die vielfältigen Fronten der sogenannten Integration befanden sich in einer ständigen Bewegung, und ein Land ohne Informationen, das seinen Illusionen folgt, lebt in der ständigen Gefahr, plötzlich als ein Land mit falschen Informationen zu erwachen. Als sicherer Wegweiser verbleibt in solchen Fällen nur die Handelsstatistik, aus der sich klar ergibt, daß das enorme Passivum der Handelsbilanz auf zahlreiche Ursachen zurückgeht.

Gefährliche Importschwemme

Die Importschwemme, die Österreich von Jänner bis August heimgesucht hat (39.690 Millionen Schilling, + 15 Prozent), beruhte auf einer ungewöhnlichen Erhöhung der Bezüge aus der EWG (+ 14 Prozent), der EFTA (+ 23 Prozent), den Randstaaten (+ 49 Prozent) und den fremden Kontinenten (+16 Prozent), während die Lieferungen aus dem Ostblock stabil blieben. Die höchsten Zuwachsraten erzielten Frankreich (+ 25 Prozent) und Westdeutschland (+16 Prozent), Schweden, Großbritannien und die Schweiz, Kanada und die Vereinigten Staaten, Spanien, Bulgarien und Jugoslawien. An der Spitze der Importsteigerung figurierten nach der Warenordnung Rohöl (+ 68 Prozent) und als Folge der schlechten Ernte des Vorjahres auch Getreide (+ 38 Prozent), daneben Wolle und Kleidung, Eisen und Stahl. Der

Aufwand für neue Personenautomobile und Lastkraftwagen erreichte 3,4 Milliarden Schilling (+ 22 Prozent).

Gleichzeitig darf man jedoch die Zunahme der Exporte (28.321,4 Millionen Schilling, + 6 Prozent) als beachtenswert bezeichnen. Holz und Molkereiprodukte blieben stabil. Die Erhöhungen entsprachen bei Papier, Eisen und Stahl, Maschinen und elektrischen Apparaten der allgemeinen Zuwachsrate, verzeichneten bei Leder, Farben, Kleidung, Chemikalien und Kunststoffen, bei NE-Metallen, Glas-, Schuh- und Kautschukwaren sogar erstaunliche Ergebnisse. Ernste Verluste erlitten neben Zellulose (—12 Prozent) nur lebende Tiere (392 Millionen Schilling, — 40 Prozent), die den Abschöpfungen des Brüsseler Systems zum Opfer fielen. Die Exporte nach der EWG (12.909,3 Millionen Schilling, + 3 Prozent) und den Randstaaten erreichten eine geringe Erhöhung, aber die Lieferungen nach Belgien und Spanien nahmen einen Aufschwung. Die Exporte nach dem Ostblock (+ 7 Prozent) sind gleichmäßig, nach der EFTA (5563,5 Millionen Schilling, + 14 Prozent) unregelmäßig gestiegen, weil Schweden, Portugal und Großbritannien weitaus besser abschnitten als Dänemark, Norwegen und die Schweiz. Überraschungen bot die günstige Entwicklung der Exporte nach Kanada und den Vereinigten Staaten (1566,4 Millionen Schilling, + 22 Prozent) als deutlicher Hinweis auf die Tragweite der schwebenden Kennedy-Runden des GATT. Im übrigen nahm der Strukturwandel einen ungewöhnlich raschen Verlauf.

Kampf um den Markt

Die tieferen Gründe des hohen Passivums lagen daher in der Importschwemme als einer natürlichen Folge des verschärften Kampfes um den österreichischen Markt. Alle Länder verstärkten ihre Exportförderung und erstrebten eine Erweiterung ihres Absatzes. Die EFTA-Staaten, aufgeschreckt durch die wiederholte Ankündigung eines Austritts Österreichs aus der Freihandelszone — der nach Übernahme des gemeinsamen Zolltarifs mit einer sehr raschen Erhöhung der Zölle gegen Großbritannien, Skandinavien und die Schweiz verbunden wäre —, suchten die Positionen zu festigen und zu verbreitern, die sie während der vergangenen sieben Jahre erworben hatten und jetzt verlieren sollten. Die EWG begann wiederum ihre Vorbereitungen für eine Eingliederung Österreichs, besonders die Bundesrepublik Deutschland, die über die beste Verkaufsorganisation aller europäischen Länder verfügt. Dazu kam die lange Dauer der Verhandlungen in Brüssel, die alle Staaten benachteiligt, die sich um eine Assoziierung bewerben. Sobald nämlich Handel, Gewerbe und Industrie mit einer Übersiedlung in eine andere Staatengruppe rechnen, die das ganze Bild des Außenhandels plötzlich verändert, können sie nicht mehr auf lange Sicht disponieren, weil sie weder den Inhalt des versprochenen Arrangements noch den Zeitpunkt kennen, an dem eine Assoziierung oder eine neue Mitgliedschaft in Kraft treten könnte. Sobald man an das „große Glück in Brüssel“ glaubt, werden zahlreiche Chancen und Möglichkeiten versäumt, übersehen und vernachlässigt, die sich fortlaufend in vielen anderen Staaten bieten. Selbst wenn es nach Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Hindernisse eines Tages zu einem Arrangement kommen sollte, wäre das Inkrafttreten dieses Vertrags besonderer Art nicht vor zwei Jahren zu erwarten, im günstigsten Fall im Laufe des Jahres 1969, wahrscheinlich jedoch erst 1970. Das russische Veto hat jedenfalls den Abbau mancher Illusionen erleichtert.

Struktur des Handelspassivums

Das Ergebnis dieser bedenklichen Entwicklung der Handelsbilanz war eine Erhöhung des Defizits um 46 Prozent auf 11.368,6 Millionen Schilling, das zum weitaus größten Teil aus dem Warenverkehr mit Westdeutschland (—8806,2 Millionen Schilling, + 32 Prozent) stammte, daneben freilich auch aus dem Handel mit Frankreich und Großbritannien. Alle anderen Staaten fielen kaum ins Gewicht. Relativ gering waren die Importüberschüsse Hollands, Belgiens und der Vereinigten Staaten. Der Exportüberschuß nach Italien, einst eine zuverlässige Stütze aller Handelsbilanzen, hatte sich schon vor längerer Zeit verflüchtigt, gewiß zum Teil verursacht durch die Verschlechterung der Atmosphäre zwischen Wien und Rom, eine unvermeidliche Folge der Terrorakte in Südtirol. Eine Analyse der Exportüberschüsse enthüllt anderseits die Bedeutung, die heute Skandinavien, die Donauländer und der Nahe Osten beanspruchen, denen sich Griechenland, Rußland und Spanien anschließen. Nachdem die Handelsbilanz als gestört bezeichnet werden muß, eine Belastung, die in diesem Ausmaß auf längere Zeit untragbar ist, gehört die Exportförderung zu den dringendsten Aufgaben der nächsten Zukunft. Vom streng nationalökonomischen Standpunkt betrachtet, liegt die Lösung jedoch kaum in der

Richtung einer Assoziierung mit der EWG, weil gewiß die Exporte erhöht werden könnten, aber selbstverständlich die Importe viel rascher steigen müßten, so daß sich die Importschwemme vorübergehend sogar zu einer Springflut steigern dürfte. Die prekäre Lage des Augenblicks wurde durch den Umstand erschwert, daß die valutarischen Eingänge aus dem Fremdenverkehr von Jänner bis August zwar das Defizit der Handelsbilanz noch um rund 450 Millionen Schilling überstiegen, aber die Reisen der Österreicher ins Ausland gleichzeitig einen valutarischen Abgang in Höhe von 2850 Millionen Schilling verursachten (+ 20,7 Prozent). Der Reinertrag des Fremdenverkehrs vermochte die Lücke der Handelsbilanz nicht mehr zu schließen. Immerhin erreichte die sogenannte Deckungsquote von Jänner bis August 79 Prozent, doch dürfte der Winter bei anhaltender Importschwemme neue Devisenverluste bringen.

Silberstreif?

Allerdings eröffnen sich dem Außenhandel günstige Perspektiven durch die Kennedy-Runden des GATT, die Exporte nach Skandinavien und den Donauländern, nach den Randstaaten und Nordamerika, zuletzt dank der Initiative des britischen Premiers Harald Wilson, der anläßlich seiner Rundreise durch die Hauptstädte der EWG, unabhängig von der undurchsichtigen Taktik der Handelsbürokratie, einmal persönlich einwandfrei feststellen will, wie sich Rom und Straßburg, Paris und Brüssel überhaupt grundsätzlich das Verhältnis der sechs zu den anderen zwölf Staaten des freien Europa eigentlich vorstellen. Der totale Zollabbau zwischen den acht EFTA-Staaten, der am 1. Jänner in Kraft treten wird, bietet einen eindrucksvollen Rückhalt, der die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft unter Umständen zu einem Einlenken bewegen kann. Der gegenwärtige Zustand, daß Brüssel mit Hilfe einer kunstvollen Diskriminierung und der Dogmen des römischen Vertrags einen Handelskrieg gegen alle Drittländer führt, ist für die Dauer unhaltbar.

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